Abschnitt. 4

In der Tat war derselbe von einer Beschaffenheit, die auch wohl die Aufmerksamkeit eines anderen als eines Knaben rege machen konnte. Ringsherum nämlich und von oben bis unten sah ich in gleichmäßig abgeteilten Quadraten über fünfzig Schildereien eingegraben und, dem Auge kaum lesbar, französische, lateinische, deutsche Verse darunter. Die Gegenstände derselben waren zwar äußerst verschiedenartig: ein Mann mit der Krone auf dem Haupte in Fesseln, ein Schiff, von den Wellen umhergeworfen, ein in die Höhe gewachsener Kürbis, ein Baum, an dessen Wurzel der Fäller hackte, Prometheus mit dem Geier, Tantalus, Ixyon, die Furien, Hunde, die den Hirsch verfolgten, und noch vielerlei mehr aus der Natur, der Geschichte, dem Fabelkreise. Aber nachdem ich einige Unterschriften entziffert und die Darstellungen untereinander verglichen hatte, erkannte ich, daß ihr Zweck nur einer und derselbe sei, nämlich: in wechselnden Bildern das traurigste Geschick zu versinnlichen.
Diese Konjektur (Schlußfolgerung, Vermutung.) fand in einigen vergilbten Blättern, die in dem Becher lagen, Bestätigung. Sie waren ganz mürbe. Mit ausgeblaßter Tinte bekannte darin jemand, der sich aber nicht nannte, daß er die Arbeit zur Erheiterung seiner jammervollen Stunden vorgenommen habe. Jede Schilderei wurde nummerweis beschrieben, die Unterschriften hatte der Unglückliche auf dem Papiere wiederholt. Da war er gekrümmt in schweren eisernen Banden und hatte keine Ruhe wie Manasse, der König von Juda, als er gefangen saß zu Babel; seines Lebens Schiff war hin und her gestürmt worden und endlich untergegangen. Stolz und verwegene Wünsche hatten in ihm getrieben wie die Ranken am Kürbis des Propheten Jonas, auch an seine Wurzel war die Axt gelegt, auch an seiner Leber nagte der Geier; die Qualen der Unterwelt, welche der Verfertiger abgebildet hatte, die Furien, waren ihm nicht fremd, tausend Sorgen verfolgten ihn wie Hunde den Hirsch.
Die Arbeit war äußerst fein, aber nur sehr flach eingegraben; sie ließ auf ein Instrument wie eine Radiernadel schließen. Auch darüber belehrte das alte mürbe Papier. Mit einem spitz abgeschliffenen Nagel war, so sagte der Unbekannte, das Leidenswerk vollbracht worden.
Da sah ich nun mit meinem Zauberbecher zwischen den grauen Weiden und zerbrach mir den Kopf. Daß er eine Kerkerarbeit sein mochte, konnte ich aus dem Könige in Ketten, sowie aus manchen andern Anspielungen schließen. Auch daß der Gefangene eine Person von Stand und Bildung gewesen war, verrieten die Bilder und ihre Unterschriften. Aber wer in aller Welt war er gewesen? Welches entsetzliche Schicksal hatte ihn in den Abgrund solches Elends hinuntergestoßen? Und wie kam mein Vater zum Besitze dieses Schmerzensdenkmals?
Ich rieb an ihm wie Aladdin an der Lampe; es erschien aber kein Geist, das Geheimnis zu offenbaren. Endlich ergriff mich, als die Sonne sank, unter den einsamen, traurig flüsternden Stämmen, den Wellen der Elbe gegenüber, die auf dem nassen Sande zu meinen Füßen andringlich ihre Schaumkreise absetzten, ein Grauen; ich schüttelte mich und eilte mit dem gefährlichen Kleinode unter dem Tuche nach Hause.
Die Reise in das Mansfeldische, sonst eine Jubelfahrt für die Kinder, konnte nun meine grübelnden Gedanken nicht zerstreuen. Ich schlich mich, so oft es unbemerkt geschehen konnte, beiseite und dachte über meinen Becher nach, der mir allmählich der Kern einer romanhaften Geschichte zu werden begann. Wir kehrten zurück, und meine geheimen Aufregungen dauerten fort. Niemandem sagte ich etwas von der Sache, weder meinen Geschwistern noch meinen vertrautesten Schulkameraden. Sie blieb mein teuerstes, aber auch mein quälendstes Eigentum. Ich war etwa vierzehn Jahre alt, also schon fähig, zu kombinieren. Eine Erzählung von der Eisernen Maske*) fiel mir in die Hand, hier fand meine Entdeckung Grund und Boden in einem rätselhaften Geschicke anderer Zeiten; ich meinte, der Becher möge wohl von einem ähnlichen Staatsgefangenen herrühren, und hatte nicht übel Lust, meinem Vater in einer uns verborgenen Periode seines Lebens die Rolle des Gouverneurs von der Insel St. Margareta**) zuzuteilen.
Es wäre nun wohl das kürzeste gewesen, ihm meinen unschuldigen Raub zu gestehen und ihn um den Zusammenhang zu befragen. Denn unschuldig war der Frevel im höchsten Grade gewesen; ich hatte den Becher bei der ersten günstigen Gelegenheit wieder an seinen Ort zu bringen mich beeifert, da mir nichts im Sinne gelegen als die Stillung meiner Wißbegier. Aber keine menschliche Macht hätte mich zu einem solchen Wagnis bewogen. Ich wußte, daß mein Vater mir nichts tun würde, da er nur mit Blicken und kurzen Worten zu wirken pflegte. Die Gewalt dieser Blicke und Worte war aber für uns so mächtig, daß wir uns mehr davor fürchteten als andere Kinder vor den härtesten Strafen. Ich blieb also lieber gepeinigt und unaufgeklärt. Erst weit später, in fremdem Lande, durch einen launischen Zufall, erfuhr ich, was ich damals so vergeblich forschend betrachtet hatte.***)



*) Ein französischer Staatsgefangner, der durch eine schwarze Maske unkenntlich gemacht war; er starb 1703 nach sehr langer Gefangenschaft. Jetzt nimmt man an, daß er ein mantuanischer Minister Mattioli gewesen sei.
**) Der erwähnte Staatsgefangene wurde mit größter Achtung behandelt, nur durfte er mit Niemand als seinem Kommandanten reden, der ihm darum auch selber sein Essen auftrug, und es war ihm angedroht, daß er sofort getötet würde, wenn er die Maske abnehme. Er wurde zuerst dem Kommandanten des Schlosses Pignerol, St.Mars, anvertraut; als dieser auf die Insel St.Marguerita versetzt wurde, nahm er auch den Gefangenen mit; ebenso kam er in die Bastille zu Paris, als St. Mars zu ihrem Kommandanten ernannt wurde. Man hielt im Volke den geheimnisvollen Gefangenen für einen königlichen Prinzen, den Ludwig XIV. beseitigen, aber nicht töten wolle.
***) Immermann hat also zufällig ein Buch recht spät gelesen, das zu seiner Zeit eines der gelesensten war: das Leben des Freiherrn Friedrich v. d. Trenk. Im achtzehnten Jahrhundert waren die Freiherren Franz und Friedrich v. d. Trenk, Vettern, sehr berühmt wegen ihrer körperlichen Stärke, ihres verwegenen Mutes, ihrer geistigen Begabung und ihrer Abenteuerlust; sie waren fähig und geneigt, auf eigene Faust Soldaten anzuwerben und Kriege zu führen, ähnlich wie in früheren Zeiten Wallenstein, Götz v. Berlichingen und andere Ritter und Kondottieri; sie erschienen den Fürsten abwechselnd brauchbar und gefährlich. Friedrich v. d. Trenk genoß zunächst die Gunst Friedrichs des Großen, dann fiel er in Ungnade wegen eines Liebesverhältnisses mit der Prinzessin Amalie von Preußen; später wurde er wieder in Dienste genommen, bald aber schien er wieder verdächtig. Von 1754-63 hielt ihn Friedrich in einem eigens für ihn gebauten Kerker zu Magdeburg gefangen; aus dieser Zeit rührt der von Immermann beschriebene Becher. Der unruhige Mann endigte 1794 zu Paris auf der Guillotine.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons