Abschnitt. 2

Eine besondere Äußerung des sich isolierenden Familiengefühls war der Nepotismus*) jener Zeit.
Auch jetzt (Also um 1840.) herrscht der Nepotismus; die Mehrzahl der einigermaßen wichtigeren Anstellungen geschieht in seinem Geiste, aber er wird sorgfältig verborgen, und nur dem Kundigeren gelingt es, in jedem Falle seine geheimen Fäden aufzufinden. Damals aber war er etwas Eingestandenes. Selten hatten die, welche das Geschick anderer zu gründen imstande waren, Hehl, daß sie vorzugsweise für ihre Angehörigen und Freunde sorgten; ja, es wurde wohl für einen Familienehrenpunkt gehalten, in dieser Weise zu verfahren. Sehr natürlich, wenn man die Lage der Dinge, wie sie war, in das Auge faßt.
Auf das heranwachsende Geschlecht wirkte daher die Familie nicht als Teil eines Ganzen, sondern als rundes Ganzes. Der Sohn sieht jetzt den Vater in Verwicklung mit so manchen Übermächtigen und dabei Vernünftigen. Früh fängt er daher an, den Vater mit Dingen und Personen zu vergleichen. Ein solcher Seitenblick war der damaligen Zeit sehr fremd. Womit der Vater nicht fertig werden konnte, das war das Unvernünftige, Schlechte; durch keine Niederlage ging die Autorität verloren. Die Alten taten und verlangten allerhand, was der erwachende Verstand der Jungen nicht billigen konnte; das erweckte aber nur den stillen Wunsch der Jungen, auch dereinst so selbständig zu werden, um dergleichen ebenfalls tun und verlangen zu dürfen. Man vergönne mir die Erzählung einer lächerlichen Kindergeschichte! Das Oberhaupt einer Familie hielt Rührei für eine der Jugend schädliche Speise. Sooft sie daher im Hause bereitet wurde, erhielten die Kinder von derselben nur eine äußerst geringe Spende, wahrend der Vater zu sich nahm, soviel ein Mann in seinen Jahren bewältigen konnte. Der Älteste, in dessen lebhaftem Geiste ein frühes Freiheitsgefühl spukte, hatte diese ungleiche Verteilung der Güter auf Erden lange still gekränkt erdulden müssen. Endlich machte sich die Empfindung unter seinen Kameraden Luft. Wir saßen an einem Sonntagnachmittag zusammen und unterhielten uns, vom Spiel ausruhend, von dem, was jeder vornehmen wolle, wenn er erwachsen sein werde. Die Reihe kam auch an jenen Frondeur (Mißvergnügter, der mehr im Verborgenen als öffentlich dem Machthaber entgegenarbeitet.) , und dieser rief: „Ich lasse mir dann alle Abende noch einmal soviel Rührei machen, als mein Vater jetzt ißt!“
Ein brennender Durst nach den Studentenjahren, von welchen man den Himmel aller Freiheit sich verhoffte, war ebenfalls der Ausdruck jener Wünsche. Die jetzige Stimmung junger Leute in Beziehung auf diese Periode läßt sich mit dem damaligen leidenschaftlichen Begehren nicht vergleichen.
Aber die geheimen Leiden, Bitterkeiten und Anklagen jenes jugendlichen Alters raubten dem kindlichen Gefühle nichts. Die Eltern standen als der Mittelpunkt der ganzen kleinen Welt da, und eine einfache Pietät, eine schlichte Unterwerfung machte sich daher von selbst. Was aber in dieser durch Willkür und Unrecht hätte erschüttert werden können, wurde wieder befestigt durch den Anblick der Not, die jene litten. Die Kinder sahen die Eltern Not leiden, wenigstens Bedrängnis und Verdruß mancher Art, und deshalb wurden sie ihnen Gegenstand eines ehrfurchtsvollen Mitleids. Die Jugend kommt meistenteils gut aus der Hand der Natur, deshalb ist ihr eine zärtliche Teilnahme an den Leiden älterer Personen gar nicht so fremd, wie die Liebhaber der Erbsünde meinen. Nur verschwindet das Mitleid rasch aus der Erinnerung, wenn das Leiden aufhört. Hier aber waren dauernde Bekümmernisse, und deshalb bildete sich auch die sympathetische Empfindung stationär (bleibend, dauerhaft.) aus und gab dem ganzen Verhältnisse eine eigene warme Färbung.
Patriarchalischer als jetzt war mithin die Gewalt in der eccelesia pressa (Bedrückte Kirche.) des damaligen deutschen Hauses. Auch nach außen machte sich dieser patriarchalische Charakter geltend. War gleich von einer früheren, noch größeren Herbigkeit des Regiments schon viel abgeschliffen, so standen doch noch manche Ecken und Kanten da, die jetzt sonderbar auffallen würden. Im allgemeinen galt der Grundsatz, daß die Kinder der Eltern Eigentum seien und daß ein jeder mit seinem Eigentume schalten dürfe, ohne daß andere Einspruch zu erheben das Recht besäßen. Nichts Seltenes war es, daß die Eltern, gleichsam um ihr Eigentumsrecht durch untrügliche Zeichen abzustaben, die Kinder durch seltsame Kleidung oder andere Auffälligkeiten auszeichneten. Varnhagen**) erzählt, daß ihn sein Vater als Türken habe gehen lassen. Dieser Zug gehört nun allerdings einer älteren Periode an. Aber auch ich erinnere mich noch mancher Dinge ähnlicher Art. So wohnten zwei Familienväter als nächste Nachbarn nebeneinander, deren Eigentumseifer gleich groß war, sich aber verschieden äußerte. Der eine hatte fünf rasch aufeinander gefolgte Knaben. Diese ließ er eines Tages plötzlich völlig uniformiert in rote Jacken mit blauen Sammetkragen und Silberstickerei und in gelbe Nankinghöschen stecken, in welchem schreienden Putze sie dann wie Jockeis verjüngten Maßstabes auf der Straße umherwandelten. Der andere gestattete an dem Haupthaare seiner Kinder nicht Schere noch Schermesser. Sie mußten ihre Mähnen bis auf die Mitte des Rückens hinabwallend tragen, obgleich keines etwa besonders schönes Gelock führte, sondern alle nur sogenannte Lichtspieße***), an denen nichts zu schonen war. Dergleichen würde nun jetzt manche Verwunderung erregen, damals aber unterlag es keiner Zensur.
Freilich gab es auch manches Haus, in welchem die weichliche Erziehung herrschte, über die Fichte in seinen „Reden an die Deutsche Nation“ zürnt und Tieck in der „Verkehrten Welt“ spottet. Es fehlte nicht an diesem und jenem „Ehepaare Rabe“, welches die „verehrungswürdigen Kleinen“ zu den Gebietern des Hauses erhob. Aber auch diese Abirrungen verloren sich nicht aus dem patriarchalischen Gebiete, dessen Kennzeichen darin bestehen, daß der Untergebene etwas tun muß oder sich erlauben darf, weil der Vorgesetzte, bloß durch sich und seinen Willen bestimmt, ihm gebietet oder verstattet. Es waren schwächliche Despoten, solche Eltern, wie sie aber in größeren Verhältnissen auch vorkommen, wo dann Weiber oder Eunuchen herrschen, ohne daß gleichwohl dadurch der Despotismus in das Repräsentativsystem oder in den Liberalismus umschlüge. Unter solchen Einflüssen entstehen Ungezogenheiten, die Widerstandslust wird genährt, und es kann bis zum offenen Aufruhr kommen; aber alles bleibt in der Sphäre Absaloms und Davids. Der moderne Geist, der die Familie zu durchziehen angefangen hat und dem jetzigen jungen Geschlechte zeitig die Ahnung gibt, daß ihm gegen das ältere Rechte zustehen, daß beide sich unter der Herrschaft eines gemeinsamen Begriffs befinden, war jener verkehrten Welt fremd.
Ich für meine Person bin in der allerstrengsten Weise auferzogen worden, und da das, was ich erfahren, wie eine Spitze des alten Systems sich ausnimmt, so will ich einige Erinnerungen mitteilen.



*) Vom italienischen nepote: Enkel oder Neffe: ungerechte Bevorzugung naher Verwandter bei der Besetzung von Ämtern.
**) Der Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), aus Düsseldorf gebürtig.
***) Der Lichtspieß ist ein langer, dünner, recht glatter Stab, an den die Seifensieder beim Lichterziehen die mit Schleifen versehenen Dochte stecken, um sie dann in die Lichtformen zu tauchen, wo der Talg sich an die Dochte setzt. Die glatten Strähnen gelblichen oder weißen Kopfhaars erinnerten an diese entstehenden Lichter.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons