Abschnitt. 1

Die Einwohner des preußisch gebliebenen Staates hatten eigentlich gar keinen Zustand mehr,*) die neuen „Westfalen“, welche aus Niedersachsen, Hannoveranern, Braunschweigern, Hessen und einigen alten Westfalen koaguliert (geronnen, zusammengeballt.) waren, hatten einen Halbzustand, ähnlich dem des Zusammenwohnens in einem teuren und dabei schlechten Gasthofe: sie machten zwar untereinander wohl Gasthofsbekanntschaften, aber immer mit dem Gedanken an baldiges Umziehen. Ihre Furcht empfand zwar, daß bei Sturm und Unwetter das löcherichtste Obdach immer noch besser sei als keines, jedoch erzeugte dieses Gefühl des einigermaßen Geborgenseins keineswegs eine Neigung zu dem traurigen Schutzmittel. Am meisten mögen die Sachsen in der alten Weise sich fortgedacht haben, doch kam auch bei ihnen allgemach die Überzeugung zum Durchbruch, daß ein zu mächtiger Freund eine gar bedenkliche Gabe des Schicksals sei.**)
Die Städte, welche jetzt überall mit den Häusern zu den Toren hinauswandern, verödeten; in den Straßen begann Gras zu wachsen; ein eigenes Haus, wonach sonst jeder verlangt, wurde an vielen Orten wegen der Heereszüge ein Fluch. In meiner Vaterstadt kam einmal ein altes Mütterchen auf das Rathaus gegangen, überreichte der Serviskommission, ganz froh und erleichtert durch ihren Entschluß, die Schlüssel ihres Häusleins und sagte: die Herren möchten nun damit anfangen, was ihnen gut dünke; sie habe aufgegeben, was ihr doch nicht mehr gehöre, sondern der Einquartierung.
So war das Gefühl und die Lage, als man sich von der ersten Betäubung erholt hatte und wieder um sich zu blicken begann. Die Teilnahme an den öffentlichen Dingen, soweit sie sich nicht in Haß entlud, schränkte sich darauf ein, daß jeder in seinem Kreise einzelnes wie Schulen, Stiftungen, Vermächtnisse, Anstalten vor dem Angriff der Fremden zu erhalten suchte. Der Patriotismus, wenn man das so nennen will, wurde durchaus lokal, korporativ; man sieht, wie die gewaltigste Zerschmetterung hier die ersten Keime des Verbindungsgeistes hervorrief, aus welchem naturgemäß ein erneutes öffentliches Leben der Deutschen nur emporwachsen kann.
Aber die Familie hatte in ihrem innersten Wesen durch Napoleons Sieg nicht gelitten. Im Gegenteil, da ihr jede Neigung, sich nach außen zu wenden, nachdrücklichst verleidet wurde, da für keinen Besseren in den Beute gewordenen Landstrichen irgend ein Antrieb vorhanden war, im Gemüte mit dem Staate anzuknüpfen, so zog sie sich nur um so straffer, krampfartiger in sich zusammen. Was einer in seiner Frau, in seinen Kindern, in den Hausgenossen und nächsten Freunden hatte, das besaß er noch – und außerdem nichts. Das Gefühl dieses Zusammenhangs mit allen seinen Konsequenzen wurde daher noch gesteigert, jedes Haus war nur für sich da, und in dieser Isolierung und gesonderten Existenz tritt uns nun das Hauptunterscheidungszeichen der deutschen Familie während der Unterdrückung von der jetzigen in ihrer Verflößung nach dem Allgemeinen hin entgegen.
Sonderbar mag der Zustand in Preußen gewesen sein. Die Last der Tyrannis war dort noch schwerer, unter ihr aber bestand denn doch der wundgedrückte Staat mit seinem Königshause, seinen Gesetzen und älteren Einrichtungen fort. Dazu kamen die Arbeiten der Wiedergeburt, die bald nach dem Sturze begannen, sowie die Einflüsse Fichtes und Jahns***) auf ihre nicht kleinen Kreise. Es ist unwahrscheinlich, daß dort die Isolierung der Familie in sich so groß gewesen sei wie links von der Elbe; der Blick mehrerer Menschen auch aus der Mittelschicht der Bildung mag sich in jenen Gegenden in das Öffentliche gesenkt haben, wenngleich die Städteordnung****), die hier scheinbar den größten Anreiz hätte geben müssen, als ein zu neues Institut in der Tat am wenigsten wirksam war und nur von einem Teile der Städte als willkommene Gabe empfangen, von einem anderen Teile aber als Mittel beargwöhnt wurde, drückende Lasten durch die Belasteten verteilen zu lassen und sie dadurch scheinbar leichter zu machen.



*) Das Königreich Preußen bestand jetzt, nach dem Frieden von Tilsit, nur noch aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien. Magdeburg gehörte nunmehr zum Königreich Westfalen, dessen Hauptstadt Kassel und dessen König Napoleons Bruder Hieronymus war.
**) Der Kurfürst Friedrich August III. von Sachsen, dessen Truppen bei Jena noch gegen Napoleon gekämpft hatten, trat wenige Wochen darauf dem Rheinbund bei und war ein aufrichtiger Verehrer und Verbündeter Napoleons. Er erhielt von diesem 1807 das Großherzogtum Warschau (das jetzige russische und preußische Polen); sein Land wurde zum Königreich erhoben.
***) Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) wirkte namentlich 1808 in Berlin durch seine „Reden an die deutsche Nation“. Der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) eröffnete 1811 eine Turnanstalt in der Hasenhaide bei Berlin; die körperliche Geschmeidigkeit und Abhärtung war ihm ein Mittel, kräftige Bürger eines künftigen Deutschlands heranzubilden. Von Fichtes Reden sagt Immermann: in ihnen „wagt ein einzelner Mann, ein deutscher Gelehrter, mit dem Gebieter der Welt in Kampf zu treten. . . . Man hat gefragt, wie es gekommen, daß keine Füsillade [Erschießung] die Folge jener Reden geworden sei. Die Antwort ist einfach. Es befand sich unter den Zuhörern kein Verräter. Dumpfe und Stumpfe, auch Mißwollende mochten darunter sein, aber Niemand, der schlecht genug gewesen wäre, den Franzosen den Sinn der Reden in ihre Sprache zu übersetzen. Denn Fichte hatte neben dem unerschrockenen Mute des Helden auch seine ganze Klugheit. Er stellte sich nicht unter den Augen des Feindes oder innerhalb der Verhacke desselben auf; er nahm eine feste Stellung auf vorteilhaftem Terrain: in Ideen, in solchen, die diesen Namen verdienten. Von Ideen wußten aber die damaligen Franzosen nichts; sie hatten dazu keine Zeit. Was sie von dem rohen Wortinhalt der Reden hörten, mochte ihnen nur wie puerile [knabenhafte] Schwärmerei des müßigen deutschen Geistes klingen.“ Über Jahn urteilt Immermann, er sei einer der größten Sonderlinge deutschen Charakters gewesen. „Er hatte sich nicht bloß auf Erziehung und Sprache versessen, sondern wollte die Welt überhaupt in die Gestalt bringen, wie sie etwa ein gescheiter altmärkischer Bauer, der zufällig zehn Jahre lang studiert hat, erblicken mag. Jahn war der reformatorische Sonderling par excellence; er wollte Alles umkehren. Berlin lag ihm nicht an der rechten Stelle, an der Elbe sollte ein Preußenheim entstehen. Eine Volkstracht empfahl er an, worin Jeder bei den öffentlichen Gelegenheiten zu erscheinen habe; der Frack war ihm eine Todsünde. Volksfeste begehrte er mit dreiabendlichen Feuern an Tagen, deren Gedächtnis erst durch die Gelehrten im Volke hätte wieder erschaffen werden müssen. Handarbeiten müsse Jeder lernen, der Sinn für das Schöne sei zu wecken, nur solle nichts Nackt-Griechisches öffentlich aufgestellt werden. Selbst den Mädchen legte er Leibesübungen auf, und sogar schießen sollten sie lernen. Über den Staat müsse Jeder unterrichtet sein; Niemand solle Staatsbürger werden, der nicht vorher ein Examen über Pflichten und Rechte des Staatsbürgers bestanden hat. – Zwischen solchen Grillen finden sich helle Blicke über Regierungseinrichtungen, allgemeine Bewaffnung, Assoziationen. Jahns Stärke ist altmärkischer derber Bauernverstand; mit diesem Bauernverstande trifft er, soweit ein solcher reicht, nicht selten den Nagel auf den Kopf.“
****) Ein Werk des Freiherrn Karl v. Stein (1757–1831), der im Verein mit Scharnhorst und Gneisenau die Erneuerung Preußens durch zweckmäßige Einrichtungen leitete.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons