Abschnitt. 6

Sie schritten wieder fort. Will Fischer führte den Handwerker durch mehrere kleine Nebenstraßen, bis sie zuletzt vor dem Schlußgebäude einer engen Sackgasse ankamen.

»Das da ist ein neues Bureau!« sagte er, auf das Kneipenschild über einer Kellerwohnung zeigend. »Es kommen oft tüchtige Kerle hieher, weil der Wirth ehrlich
ist und immer einen geheimen Weg hinten über das Wasser bauen kann. Wenn Du mich einmal suchst, so komme nur Abends in diesen Fuchsbau.« –


Sie traten die Stufen hinunter in den Keller, wo Fischer bekannt zu sein schien. Während er mit dem Wirth, dem Hehler der hier verkehrenden Diebsbande, im Winkel ein leises und angelegentliches Gespräch führte, hatte ein Mädchen Brot, Käse und Branntwein gebracht. Schenk goß die beiden Gläser mit jäher Hast hinunter und begann gierig das Essen zu verzehren.
»Nun, das muß ich sagen,« lachte Will Fischer, wieder herantretend, »dein Appetit wenigstens hat bei Deinem Leben nicht gelitten.« –
Schenk nahm schweigend den Rest des Essens, wickelte ihn in ein Stück Papier und steckte das Ganze sorgfältig in seine Tasche.
»Ich werde das meiner Frau bringen,« sagte er dann halb vor sich hin. »Sie wartet schon den ganzen Morgen, und es ist doch etwas.« –
»Deine Frau! So, so. Sagtest es ja auch zuvor schon. Kenn’ ich sie vielleicht? Etwa eine Bekanntschaft von damals, als wir zusammen –«
Schenk warf einen zornigen Blick auf seinen Nachbar und stieß das leere Glas heftig auf den Tisch.
»Nun, ereifre Dich nicht!« begütigte der Andere sogleich. »War nur neugierig, wie es eigentlich mit Dir aussieht, seit wir auseinander gekommen sind.« –
»Wie im Himmel sieht’s bei uns aus, wie im Himmel, Will,« erwiderte Schenk mit wilder Bitterkeit, »wir essen nicht und trinken nicht. Es ist ein herrliches Leben, man genießt die ganze Schöpfung, man hört die Vögel singen, man hat im Sommer die schöne Natur, im Winter das prächtige Eis, und braucht für Alles das gar Nichts zu bezahlen.
Ich erinnere mich, daß der Pfaffe mir früher sagte, es sei eine Gnade Gottes, daß wir geschaffen würden und leben dürften. Ich wollte das lange nicht einsehen, aber es ist doch wahr, es liegt nur an dem Einzelnen selbst, wenn er sich das Leben verkümmert. Das Leben ist doch umsonst, wozu sich da plagen und Sorgen machen? Es kömmt am Ende doch auf Eins heraus, obman auf seidenen Kissen oder allmählig Hungers gestorben ist.« –
»Ich verstehe nicht, was Du da sagst,« antwortete Will Fischer. »Aber wenn Du schon verzweifelst, so thust Du Unrecht. Ich weiß eben was für Dich, was Dich auf lange Zeit herausreißen kann.« –
»Will!« rief der Handwerker plötzlich erregt.
»Laß mich los und mach’ keine Flausen. Kennst Du das Landhaus drüben in Ch***?«
»Ich habe einmal darin gearbeitet.« –
»Desto besser. Es wollten ein paar tüchtige Kerle heut Nacht Besuch drin machen, aber der Wirth erzählt mir, daß sie’s verschieben müssen, weil ihrer zu wenig sind. Wenn Du dabei sein willst, kannst Du Dein Schäfchen scheeren und Deine Familie ins Trockne bringen.« –
Schenk sah seinen Nachbar mit einem festen Blick an und sagte dann langsam:
»Stehlen also. Ich hatte noch nicht daran gedacht, und es liegt doch so nahe. Ich glaube, ich habe nicht einmal Muth dazu.« –
Der Polizeiagent schenkte die Gläser voll und erwiderte verächtlich:
»Es gehört freilich weniger Muth dazu, mit Frau und Kind zu verhungern. Übrigens hätten sie Dich vielleicht nur zur Wache gebraucht.« –
»Wenn ich sagte, daß mir der Muth fehlte,« versetzte Schenk, »so meine ich, daß ich nicht die Kraft hatte, den Gedanken zum Stehlen zu fassen. Es ist wahrhaftig weit gekommen. Und doch ist es wahr, das Einzige bliebe mir noch übrig. Ich werde mir’s überlegen,
Will.« –
Mit diesen Worten erhob er sich, fühlte in die Tasche, ob er das Essen auch noch habe, und wendete sich nach der Thüre.
»Wenn Du mir Bescheid bringen willst,« rief Fischer ihm nach, »so weißt Du, wo Du mich heut Abend findest.« –

Schenk wanderte in trübsinnigem Brüten durch die engen und schmutzigen Gassen des »schlechten Viertels,« jener Höhlen des Elends und des Verbrechens, wo die aus den Kreisen der herrschenden Gesellschaft verstoßene Armuth den Fluch ihres Daseins verbirgt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polizei-Geschichten.