Abschnitt. 5

Eines Tages ging Schenk langsam in stumpfem Brüten durch die Gassen. Seine Frau, das arme liebende, duldende Geschöpf, die nie über ihr Loos murrte oder nur seufzte, hatte ihm am Tage vorher sagen müssen, daß sie nicht das Geringste mehr zum Essen im Hause habe. Das Kind war lange krank gewesen und hatte jetzt vom Arzt eine Pflege verordnet bekommen, die die Armen seit Langem nicht mehr kannten. Endlich
aber hatte der Hausmann Schenk beim Ausgehen angehalten, und ihm barsch ins Gesicht gesagt: daß er mit der rückständigen Miethe für die letzten drei Vierteljahre nicht länger warten könne; wenn er daher am folgenden Tage das Geld nicht erhalte, so müsse er die
Familie aus dem Hause weisen und sich an ihrem Geräth bezahlt zu machen suchen. Das letztere war für den Unglücklichen die gräßlichste Drohung. Er hatte nach und nach die einigermaßen entbehrlichen Stücke aus seiner Wirthschaft in den Zeiten der höchsten Noth versetzt, und besaß nur noch ebensoviel, um mit Weib und Kind nicht auf dem harten Boden schlafen zu müssen. Wurde ihm auch das noch entrissen, so konnten sie zusammen elend in der Straße sterben.

Schenk ging aus, ohne zu wissen, wohin, und ohne Gedanken, wie er diesmal die augenblickliche Noth abwenden könne. Wer ihn jetzt sah, erkannte in ihm den früher fleißigen und ordentlichen Arbeiter nicht mehr. Sein Äußeres trug den Stempel der schauderhaftesten Verwahrlosung, die Kleider schlotterten ihm schmutzig und zerlumpt am Leibe herab, seine tiefliegenden Augen waren glanzlos und stumpf, sein Haar wirr und struppig, und sein Gesicht zeugte von Entbehrungen und gräßlichem Elend. An der Ecke zweier Straßen blieb er einige Augenblicke vor der Ladenthür eines eleganten Fleischerladens stehen. Während er mit heimlicher Lüsternheit die verlockenden, reinlichen Fleischwaaren betrachtete und an seine Armen daheim dachte, stieg eine plötzliche Versuchung in ihm auf. Die Thür war offen und der Laden leer. Sein Herz pochte in Unentschlossenheit, aber er wandte sich weg, und schritt langsam die Straße weiter.


In diesem Augenblick war ein Mann flüchtig an ihm vorüber gestreift. Einige Schritte weiter blieb derselbe plötzlich stehen, gleich als ob Schenks Gesicht eine Erinnerung in ihm hervorgerufen, und blickte ihm nach. Als er über die Person Schenks im Reinen zu sein schien, kehrte er um, und Schenk ward durch einen Schlag auf seine Schulter aus seinen trübsinnigen Gedanken aufgeschreckt.

»Guten Tag, Fritz Schenk! Kennst Du mich nicht mehr?« –

Der Angeredete starrte zu dem Andern in stumpfer Gleichgültigkeit auf. Der Mann, der vor ihm stand, war eine hohe breitschulterige Figur, ziemlich fein und modern gekleidet, und von einem auffallenden und erzwungen vornehmen Wesen. Damit stand freilich der Ausdruck seines Gesichts in keiner Übereinstimmung, denn seine von einem dichten rothen Bart umzogenen Züge waren der Typus der niedrigsten Gemeinheit. Dieser Mensch hieß Wilhelm Fischer, hatte wegen Raubanfalls auf offener Heerstraße und verschiedener Diebereien mehrere Jahre im Zuchthaus und Gefängniß gesessen, und kannte Schenk aus der Zeit seiner Haft. Fischer hatte seitdem seinem frühern Treiben Valet gesagt, und einen Erwerbszweig ergriffen, bei dem er sich augenscheinlich ganz wohl befand. Er war, nachdem er zuletzt aus dem Gefängniß entlassen worden, zu dem Polizeichef gegangen, hatte ihm vorgestellt, daß er von seinem bisherigen Leben abstehen wolle, und gebeten, in irgend einer Weise verwendet zu werden. Der Polizeirath, der in Fischers ausgebreiteter Diebsbekanntschaft ein treffliches Mittel zur Entdeckung manches Verbrechens erblickte, hatte ihn in seine Dienste genommen und ihm den Auftrag gegeben, seine früheren Bekanntschaften fortzusetzen, und wenn er einen Anschlag erführe, ihn davon in Kenntniß zu setzen. Das war gegenwärtig die eigentliche Stellung Fischers. Dieser Elende begnügte sich jedoch keineswegs damit, die Absichten und Thaten seiner ehemaligen Genossen zu belauschen, sondern, um seinem Chef öftere Beweise seiner Thätigkeit geben zu können und sich in den Augen desselben hervorzuthun, spornte er auch selbst die Unschlüssigen an und machte ihnen nicht selten sogar die Anschläge, um die er sie nachher verrieth.

»Nun? Was starrst Du mich an?« sagte er zu dem Handwerker. »Kennst Du Will Fischer nicht mehr? Thust ja, als hätten wir nicht zusammen da –«
»Nun, Will Fischer,« erwiderte Schenk düster, »und was willst Du von mir!« –
»Was ich von Dir will, Du Tropf? Dich fragen, wie es Dir geht, nichts weiter. Und ich habe ein Recht dazu, denn ich bin ein alter Bekannter, und Du siehst nicht aus, als ob Du einen Freundschaftsdienst zurückstoßen würdest.«
»Ja, es geht mir schlecht genug!« murmelte dumpf der Unglückliche. »Keine Arbeit und kein Verdienst mehr, Gott weiß, wie das enden wird. Ich habe seit vorgestern nichts mehr gegessen!« –
»Komm mit,« sagte der Andere mit rauhem Mitleid. »Ich weiß da in der Nähe einen Ort für unser Einen, wo Du Dich füttern kannst.« –

Schenk folgte ihm mechanisch, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich aber blieb er stehen, sein Auge belebte sich, wie von einem glücklichen Gedanken beseelt, und er hielt seinen Gefährten am Arm fest, indem er ihn ängstlich forschend betrachtete.
»Will Fischer,« sagte er mit bangem Ton, »es geht Dir gut, ich sehe Dir es an. Du meinst es auch gut mit mir, denn Du willst mir eben zu essen geben. Hilf mir
daher ganz – wenn Du kannst, leihe mir zehn Thaler. Ich muß morgen meine rückständige Miethe bezahlen, oder ich werde mit meiner Frau und einem kranken Kinde nackt und bloß auf die Straße gestoßen. Ich bin verloren, Will, wenn Du mir nicht hilfst!« –
Will Fischer verzog sein Gesicht zu einem sonderbaren Lächeln und drückte seine Hände fest in die Taschen.
»So,« sagte er, »Du brauchst morgen zehn Thaler – mußt sie haben, wie man so sagt – unter jeder Bedingung.« –
»Ja, ich muß sie haben, unter jeder Bedingung. Ich weiß nicht, was ich sonst thun würde, aber den Jammer daheim würd’ ich nicht erleben! Zehn Thaler, Will – es ist ja nicht so viel, und uns kann es jetzt retten. Gott wird es dir lohnen, Will!« –
»Ja, Gott wird es mir lohnen und der Teufel den Segen drüber sprechen. Ich könnte nachher sehen, wie ich’s wieder einbrächte, und für Dich wär’s auch nur auf ein paar Tage. Übrigens laß uns jetzt nur nach der Kneipe gehen, da können wir weiter davon sprechen. Ich habe zwar selbst das Geld nicht, vielleicht läßt sich aber noch anderer Rath schaffen.« –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polizei-Geschichten.