I. Einleitung

Ich bin im versessenen Jahre zum zweiten Male beauftragt worden, die von der Wiener Universität veranstalteten volkstümlichen Vorlesungen über österreichisches Versassungsrecht abzuhalten. Die mit diesem Auftrage zugleich übernommene Pflicht und Verantwortung nach allen Dichtungen erwägend, musste ich dazu gelangen, die Tese der Exner’schen Rectoratsrede: „Durch politische Bildung zum Patriotismus“ einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und mir insbesondere die Frage vorzulegen, ob aus derselben für die Gestaltung des politischen Volksunterrichtes praktische Konsequenzen abzuleiten seien?

Meine so gewonnene Überzeugung heisßt mich diese Frage verneinen. Es erweist sich nämlich bei genauer Betrachtung die von Exner gebotene Lösung des Problems, den Coincidenzpunkt von Patriotismus und politischer Bildung zu finden, als ein Ei des Columhus, also nicht als wahrhafte Lösung. Denn diese Lösung wird nur gewonnen durch die Forderung, es habe sich Patriotismus sowohl wie politische Bildung mit einem und demselben von Exner strenge vorgezeichneten Inhalt zu erfüllen, eine Forderung, die sich als Bedrückung und Beängstigung sowohl des wissenschaftlichen wie des patriotischen Gewissens darstellt. So müssen sich, gemessen an diesem Inhalt, die theologische, die ethische, wie überhaupt alle ideologischen Auffassungen vom Wesen des Staates als ungebildet, politisch unverständig und radical unpatriotisch zugleich beschämt in den Winkel zurückziehen. Und doch wird sich Mancher für einen Patrioten halten, dem die Exner’sche Grundformel für politische Bildung als Nährmittel des Potriotismus schwächlich und inhaltsleer erscheint, und Mancher wird sich zu den politisch Gebildeten rechnen, dem diese Formel als Mittel politischer Erkenntnis den Eindruck des unzulänglichen und pythisch Orakelhaften macht.


Es ist eben Exner so wenig wie irgend einem seiner Vorgänger gelungen, die in dem von ihm behandelten Probleme gelegene große Schwierigkeit zu überwinden, welche in der Aufgabe besteht, das deutsche Geheimniß des Patriotismus zu entschleiern und denselben in die Fesseln einer wissenschaftlichen, mit praktisch verwendbaren Kriterien arbeitenden Begriffsbestimmung zu schlagen. Fragen wir uns, was wir aus der Exner’schen Rede für die Erkenntniß wahrhaft patriotischer Bestrebungen gewonnen haben, so müssen wir am Schlusse der Lectüre einbekennen, daß wir so klug sind wie zuvor. Gerade in Fällen, in denen wir eines leitenden Princips, eines guten Rathes, eines Mittels zur ehrlichen Lösung ehrlicher Zweifel am dringendsten bedürfen, läßt uns die Exner’sche Formel: „Bedachtnahme auf die gegebenen Verhältnisse und auf die Richtung der vorhandenen Kräfte“ im Zustande der Hilflosigkeit. Was hilft uns, um nur ein naheliegendes Beispiel anzuführen, diese Formel im Widerstreit zwischen nationalem und Stammespatriotismus einerseits und dem Staatspatriotismus andererseits, wie er sich aus der politischen Struktur Österreichs und Deutschlands ergibt? Zuletzt bleiben wir doch wieder auf unser politisches Gewissen, auf die Selbsterforfchung unserer innersten Empfindungen angewiesen, um mit politischer Aufrichtigkeit und Überzeugung wirken zu können.

Fassen wir aber den unterrichtspolitischen Inhalt der Exner’schen Rede in’s Auge, so ist die von Exner an die Universitäten gestellte Forderung, den Patriotismus durch Pflege der politischen Bildung zu heben, entweder überflüssig oder schädlich; überflüssig, wenn die Art, wie die Universitäten die politische Bildung bisher gepflegt haben, nämlich um ihrer selbst willen und durch die Mittel unbefangener wissenschaftlicher Forschung und Erkenntniß, beibehalten werden soll; schädlich, wenn damit verlangt wird, die Universitäten hätten die Pflege politischer Bildung auf die Hebung des Patriotismus einzurichten und derselben für diesen Zweck eine bestimmte politische Weltanschauung, etwa die von Exner vertretene, ausschließlich zu Grunde zu legen. Mit einem so eingerichteten politischen Universitätsunterricht würden wir zwar keinen patriotischen Erfolg erzielen, dafür hätten wir mitteis desselben die wissenschaftliche und deshalb notwendig unbefangene politische Forschung von den Universitäten verbannt.

Die hier entwickelte Anschauung über die Bedeutung der These: „Durch politische Bildung zum Patriotismus“ soll ihre eingehendere Begründung in den folgenden Darlegungen finden, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, wenn auch befangen infolge der allgemeinen und tiefen Wirkung der Exner’schen Rede, so doch gedrängt und betragen von der Überzeugung ihrer Bedenklichkeit sowohl in politischer als in wissenschaftlicher Beziehung.

Wien, im Jänner 1897.
Friedrich Tezner.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Politische Bildung und Patriotismus.