Zweites Kapitel

Die polnische Frage ist eines der verwickeltsten und schwierigsten national-politischen Probleme Europas. Sie ist sowohl an äußeren Gegensätzen als auch an inneren Widersprüchen so reich, dass ein passendes Gegenstück in der politischen Welt nicht leicht zu finden ist. Es ist nicht nur heute so. Die Ansicht, dass erst die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert diese verhängnisvollen Verhältnisse herbeigeführt hätten, ist nicht begründet. Auch das ehemalige selbständige Polen war hinsichtlich seiner Entstehung, Entwicklung, politischer und sozialer Struktur ein anachronistisches Unding und infolgedessen ein wahres Unheil für Mittel- und Osteuropa; unter anderen Verhältnissen hätte Russland nie solch riesige und gefährliche Dimensionen, wie es heute der Fall ist, erreichen können. Da die polnische Vergangenheit aufs innigste mit der Gegenwart verbunden und zum ausschließlichen Born des nationalen Gedankens der Polen geworden ist, darf man bei der Behandlung der polnischen Zukunft diesen historischen Zusammenhang keineswegs außer Acht lassen, vielmehr muss man in demselben die einzig richtigen Kriterien zur Beurteilung einzelner Seiten der polnischen Frage suchen. Denn die Polen bilden das klassischste Beispiel eines Volkes, welches aus seiner wechselreichen Geschichte niemals eine Lehre gezogen hat. Im Gegenteil, sie glauben fest, das Vermächtnis ihrer Geschichte in vollem Umfange und nach allen Richtungen ungeschmälert und unverändert aufrechterhalten zu können und zu müssen. Sollte man daher in dem heutigen weltgeschichtlichen Moment nicht vorsichtig genug handeln, um einen unkorrigierbaren Missgriff zu vermeiden, so würde man Gefahr laufen, dass die vergangenen Unglückseligkeiten sich jetzt wiederholen. . .

Die Polen bilden ungeachtet dessen, dass der Boden ihrer Vorfahren heute innerhalb der Grenzen von vier *) Staaten liegt, eine ausgesprochen national-politische Individualität — dank der oben erwähnten sehr lebendigen und stark gefestigten geschichtlichen Überlieferung. Folglich ist auch ihre nationale Psyche, welche im Laufe des 19. Jahrhunderts endgültig feste Charakterzüge erhalten hat, so einheitlich, wie kaum bei einem anderen Volke. Bezüglich der Grundlagen der nationalen Ideologie, ihrer Formen und Ziele, ist beinahe kein Unterschied zwischen den Polen Österreichs, Russlands und Preußens zu verzeichnen. Einige Grundzüge des polnischen Nationalgeistes müssen hier hervorgehoben werden.


Vor allem der Imperialismus. Er äußert sich vorzugsweise in einem starken Staatstrieb, der sich mit der Möglichkeit einer freien Entwicklung der völkischen Eigenart im Rahmen eines fremden Staatsverbandes nicht zufriedenstellen will, vielmehr nach der völligen Souveränität in Form eines großen und mächtigen national-polnischen Reiches strebt. Dabei aber sind die Polen bereits seit dem 14. Jahrhundert fortwährend daran gewöhnt, ihre politischen Pläne nicht auf das eigentliche polnische Volk zu beschränken; ihre historische Rolle fortsetzend, betrachten sie sämtliche Gebiete des ehemaligen Polens, ohne Rücksicht auf nationale Verschiedenheiten und Gegensätze, als ein unteilbares und unveräußerliches Nationalerbe und alle darauf wohnenden Völker rundweg als selbstverständliche Untertanen Polens. Diese imperialistische Tendenz mag bei einem unstaatlichen, nicht zahlreichen und bodenarmen Volke, wie es die Polen sind, noch so ungewöhnlich oder krankhaft erscheinen, so ist sie doch eine reelle politische Erscheinung, indem sie die einzig maßgebende Richtlinie der polnischen Politik, die sog. Jagiellonische Idee darstellt; sie verdient daher demgemäß behandelt zu werden. **)

*) Wir sagen ausdrücklich vier. Es sind nur wenige Jahre vorüber, dass die Polen anlässlich des Grenzprozesses um das „Meerauge“ im Tatragebirge zwischen Galizien und Ungarn, beim Schiedsgerichte in Graz allen Ernstes ihre Ansprüche auf die bekannten 16 Zipserstädte erhoben haben. Auch die zahlreichen unter der Fahne der Entente erschienenen Projekte einer politischen Neugestaltung Europas vergessen nicht, das Zipserland für das künftige Polen zu annektieren. (Vgl. La paix, que nous devons faire, 1915.)

**) Dass die Jagiellonische Idee keine bloße Schwärmerei unverantwortlicher Individuen ist, wird durch die Broschüre über „Die polnische Frage“ eine offizielle Publikation des „Obersten polnischen Nationalkomitees“, welches zurzeit bei den dreibundfreundlichen Polen als „in der Geschichte Polens nach den Teilungen die erste, öffentliche und legale Institution“ angesehen wird (Polen I, 40), bewiesen. Vielleicht noch deutlicher spricht das neuerschienene „Handbuch der polnischen Statistik“ (Statystyka Polski. Tableau statistique de la Pologne, Krakau 1915), wo als „Polen“ folgende Gebiete betrachtet werden: Kongress-Polen, Litauen und Weißruthenien (Wilna, Kowno, Grodno, Minsk, Mohilew, Witebsk), „Ruthenien“ (Wolhynien, Podolien, Kiew), Galizien, Österreichisch-Ostschlesien, „Großfürstentum Posen“, Westpreußen („Königliches Preußen“), Ostpreußen („Herzogliches Preußen“), Oppeln.


Im engen Zusammenhänge mit diesem eigenartigen Imperialismus steht der aristokratische Charakter der polnischen Politik. Bekanntlich war der polnische Adel Gründer des historischen polnischen Reiches und blieb auch später eigentlicher Träger des nationalen Gedankens. Den besten Ausdruck dieser Tatsache gibt die polnische Literatur! Aus diesem Grunde spielt der Adel eine ungewöhnlich bedeutende Rolle im polnischen öffentlichen Leben, und nur dieser einzige Stand kommt bei allen polnischen Zukunftsträumen in Betracht, gleichgültig, ob diese von Aristokraten, Demokraten oder Sozialisten geträumt werden. Diesem Glauben, eine spärliche adelige Schicht sei imstande, das eigentliche Volk zu ersetzen, schließt sich noch eine polnische Eigentümlichkeit an, und zwar die Behandlung des religiösen Lebens.

Es lebt bei den Polen vom Mittelalter her die Überzeugung fort, dass der römisch-katholische Glaube mit der polnischen Nationalität identisch ist, dass somit der echte Pole nur ein römischer Katholik sein könne, und dass jeder römische Katholik in den „polnischen“ Ländern eo ipso, ohne Rücksicht auf seine völkische Abstammung, auch Pole sein müsse. Wie dieser Standpunkt der katholischen Kirche in vergangenen Zeiten sehr viel Schaden zugefügt hat, so ist er auch heutzutage noch eines der Haupthindernisse, denen die Ausbreitung des Katholizismus, zumal der kirchlichen Union, im Osten begegnen.*)

*) Diese hemmende Rolle des polnischen Katholizismus in Osteuropa wurde von neutralen (zumal den italienischen Kirchenhistorikern, z B. Msgn. Palmiari) bereits erkannt, bewiesen und gewürdigt.

Mit dieser religiösen Exklusivität steht im ursächlichen Zusammenhänge noch eine besondere, ausschließlich das Polentum charakterisierende nationale Eigenschaft, der sog. Messianismus, eine krankhafte Erscheinung, die sich im Glauben, die Polen seien ein von der Vorsehung erwähltes und zur Erlösung der Menschheit bestimmtes Volk, offenbart und praktisch die Formen eines unbeschränkten Chauvinismus und rücksichtsloser Unduldsamkeit den Fremdvölkern gegenüber annimmt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.