Erstes Kapitel

Der kommende Weltkongress, dem die Aufgabe zufallen wird, die politische Weltkarte neu zu gestalten, wird augenscheinlich viel Analogie zum großen europäischen Kongress vor hundert Jahren haben, dabei aber auch manche grundsätzliche Verschiedenheiten von jenem aufweisen. Während der leitende Grundsatz des Wiener Kongresses das Ziel verfolgte, die politischen Verhältnisse Europas vor der großen Revolution möglichst voll wieder herzustellen, wird die kommende Friedensversammlung, soweit menschliche Voraussicht reicht, die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Selbst zur Zeit, wo sich die strategische Lage noch nicht so entschieden zugunsten der Zentralmächte gestaltet hatte, war klar, dass, wer auch als Sieger die künftigen Friedensbedingungen bestimmen mag, auf einen möglichst gründlichen Umsturz der vor dem Kriege herrschenden Machtverhältnisse hinarbeiten wird, damit dem enormen Weltunglück die entsprechende Sühne und Gewähr für die Zukunft folge.*) Das neue Prinzip wird daher dem alten legitimistischen als revolutionär gegenüberstehen und seinen besonderen Ausdruck darin finden, dass nicht nur manchem Gliede des bisherigen Staatensystems eine veränderte Rolle vorgeschrieben, sondern auch durch Heranziehung neuer politischer Faktoren und Kräfte dem Staatensystem selbst ein neues Antlitz gegeben wird. Das letztere gilt vor allem für Osteuropa, wo unter dem Deckmantel des russischen Imperialismus sich manche verborgenen Werte von weltgeschichtlicher Tragweite befinden und sowohl ihrer Schicksalsstunde als auch des richtigen Mannes starker Hand harren. Inwieweit diese Kräfte in allernächster Zukunft verwertet werden können, hängt von dem vorläufig noch nicht ganz absehbaren Grade des russischen militärischen und politischen Zusammenbruches ab; dass aber dessen bisheriger Verlauf bereits zum Ausgangspunkte eines neuen osteuropäischen Zeitalters geworden ist, lässt sich nicht mehr in Abrede stellen. Somit tritt das im Zusammenhang stehende Problem der nichtstaatlichen Völker Osteuropas in den Vordergrund und erfordert eine eingehende Prüfung in Bezug auf alle Vorbedingungen ihrer eventuellen politischen Verwertung. Das Problem ist nicht einfach, weder in seiner Auffassung noch in seiner Behandlung, zumal, da es praktisch-politisch ganz neu ist und beinahe jedes vorbereitenden Fachstudiums entbehrt. Man darf nicht die durch Russland unterdrückten Fremdvölker nach einer Schablone beurteilen, geschweige denn behandeln. Wer sich der Meinung hingibt, diese Völker reichen in ihren Ansprüchen und Hoffnungen nicht über den Wunsch hinaus, zwischen ihnen und dem Moskowiterreich einen neuen politischen Kordon „um jeden Preis“ gezogen zu sehen, liefert den Beweis, dass er der Erkenntnis des Problems ferngeblieben ist.

*) Sollte das gewaltige Ringen, wider alles Erwarten, als Remis-Partie enden, dann wird der nächste Friedensschluss nichts anderes als die Vereinbarung eines Waffenstillstandes sein.


Die Ursachen der Unzufriedenheit einzelner Fremdvölker Russlands sind zu verschieden und stehen sogar mehrfach in zu komplizierten Verhältnissen zueinander, als dass sie durch irgendein „einfaches“ Mittel behoben werden könnten. Darum mögen sich die Zentralmächte hüten, Entschlüsse zu fassen, ohne vorher jedes einzelne Problem gründlich kennen gelernt und erwogen zu haben. Von etwa einem Dutzend Fremdvölkern Russlands, die sich auf irgendwelche Weise politisch verwenden ließen, sind zwei von größter Bedeutung: die Polen und die Ukrainer, und zwar liegt diese Bedeutung weniger darin, dass diese Völker an und für sich gewisse politische Werte darstellen, vielmehr in der Lage bzw. in den Eigentümlichkeiten ihrer Hauptwohngebiete selbst und in dem Umstande, dass von den beiden Völkern beträchtliche Teile sich innerhalb der Grenzen der verbündeten Kaisermächte befinden und dass ihre nationalpolitische Entwicklung mit dem Verhältnisse dieser Mächte zu Russland verknüpft und durch den gegenwärtigen Krieg wesentlich beeinflusst wird.*) Dabei aber bilden beide Fragen, die polnische und die ukrainische, zwei von Grund aus verschiedene Typen nationalpolitischer Probleme, die eher von einem Gegensätze zueinander als von einer Interessengemeinschaft Russland gegenüber beherrscht scheinen.

Die vorliegende Schrift ist der polnischen Frage gewidmet, weil diese dank den Kriegserfolgen bereits in ihrem vollen Umfange zur theoretischen Beurteilung und praktischen Lösung reif geworden ist. Es wird hiermit der Zweck verfolgt, manche weniger bekannten und scheinbar weniger bedeutenden, in Wirklichkeit aber hochwichtigen Seiten des polnischen Problems zu beleuchten und eine richtige Orientierung in dieser komplizierten Angelegenheit zu erleichtern.

*) Hier kommen nicht in Betracht: Rumänien mit Rücksicht auf das staatliche Rumänien, und Litauer wegen der Geringfügigkeit ihres Bodenbesitzes in Preußen. Auch die Bedeutung der Deutschen in Russland kommt infolge des Mangels an einem geschlossenen ethnographischen Gebiet hier weniger in Frage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
Warschau 032 Johann III. Sobieski, Schloss Wilanów

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Warschau 033 Maria Kasimiera, Schloss Wilanów

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Warschau 034 Sakramentinerrinnen-Kirche

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Warschau 035 Kirche in Czerniaków

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Warschau 030 Sigismundus-Säule, Bronzestatue des Königs

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Warschau 029 Die Sigismund-Säule am Schlossplatz

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