Drittes Kapitel

Diese wesentlichen Merkmale des polnischen nationalen Geistes lassen zur Genüge erkennen, dass das Polentum, als politischer Faktor betrachtet, schon in seinem inneren Wesen an einer eigentümlichen Anomalie leidet. Das Bewusstsein, dass all die stolzen Triebe der Nationalpsychologie nicht im rechten Verhältnisse zur Summe der inneren Kräfte des eigenen Volkes stehen, lässt daher die Verwirklichung dieser Pläne in fremder Hilfe suchen. Dass dieser Weg der einzig richtige ist, die nationale Unabhängigkeit in gewünschter Form und ersehntem Umfange wieder zu erreichen, schien den Polen nach den aufständischen Bemühungen gegen alle drei Teilungsmächte*) auch die politische Erfahrung in Österreich hinreichend zu beweisen, wo die Polen dank ihrer diplomatischen Gewandtheit unter Ausnutzung der kleinmütigen Eifersuchtspolitik des Kanzlers Beust eine staatspolitische Stellung erlangen konnten, welche der wirklichen Stärke und Bedeutung ihres Volksstammes keineswegs entspricht. Diese Tatsache, dass die Polen in Galizien, wo sie nur in Minorität sind, eine beinahe unumschränkte politische Souveränität auszuüben und in der Monarchie eine führende, wenngleich nicht glückliche, Rolle zu spielen vermochten, unterhielt ihren Glauben an die Durchführbarkeit ihrer nationalen Pläne und veranlasste sie, sich fortwährend an diese oder jene von den zwischen einander konkurrierenden Teilungsmächten anzulehnen und diese zum „Sammeln polnischer Länder“ zu bewegen, um später bei einer passenden Gelegenheit das eigene nationale Ideal auch gegen den „Befreier“ selbst zu verwirklichen. Diese Taktik musste freilich zu einer äußerlichen Spaltung der polnischen nationalen Politik führen, einer Spaltung, welche durchaus keine moderne Erscheinung, sondern so alt wie die polnische Frage selbst ist. Sie bleibt auch immer nur eine taktische Maßnahme, durch welche die Einheitlichkeit der polnischen nationalen Idee nicht im geringsten geschädigt wird.

*) Die in der breiten Öffentlichkeit verbreitete und besonders heute von den Polen sorgfältig unterhaltene Überzeugung, dass polnische Aufstände nur gegen Russland gerichtet waren, ist unbegründet; Österreich hatte auch mit wiederholten Aufstandsproben (1790, 1809, 1848) zu tun. Dass sie hier und in Preußen nicht diejenigen Dimensionen, wie in Russland, erreichen konnten, erklärt sich durch den Umstand, dass in beiden erstgenannten Staaten nur Bruchteile der polnischen Nation leben.


Der Umstand, dass der russische Teil Polens am größten war, dass die dortigen Polen sich bis 1863 einer ziemlich umfangreichen Autonomie erfreuten, deren sie nur durch eigene, heute allseitig anerkannte Schuld verlustig wurden, sowie nicht zumindest der aufrecht erhaltene Zusammenhang Russisch-Polens mit den litauischen, weißruthenischen und ukrainischen Ländern, die ehemals zur polnischen Republik gehört hatten und auch noch heute von den Polen als unveräußerliche Bestandteile ihres Vaterlandes betrachtet werden, — alles dies hatte zur Folge, dass solche Hoffnungen auf Wiedervereinigung polnischer Länder hauptsächlich mit Russland verknüpft waren, wenn auch zeitweise die beiden anderen Mächte, Deutschland und Österreich, mit in Rechnung gezogen wurden. Übrigens lässt sich das Vorhandensein zweier bzw. dreier sich auf verschiedene Nachbarstaaten stützender Parteien in der polnischen Geschichte einige Jahrhunderte zurückverfolgen.*) Eine ständige moskwophile Partei bestand auch seit der Mitte des 17. Jahrhunderts; daran haben die Teilungen Polens nichts geändert, vielmehr den Russophilismus verstärkt. Wenn daher polnische Politiker von dem natürlichen Gegensatz zu Russland erzählen, so sind diese Behauptungen nicht stichhaltig.**) Die Kämpfe, welche im Laufe der Geschichte zwischen Polen und Russland (Moskowien) geführt wurden, sind keine wirklichen Nationalkämpfe im üblichen Sinne des Wortes, wie z. B. die deutschfranzösischen oder bulgarisch-serbischen Gegensätze, sondern eher Streitigkeiten um die Beute auf den fremden, zwischen den beiden Interessierten liegenden Gebieten (das polnische und das russische Volk besitzt bekanntlich gar keine gemeinsamen Berührungspunkte), Streitigkeiten, die dem Kampfe zwischen England und Frankreich um den Kolonialbesitz analog wären. Wer daher in der heutigen englischfranzösischen Waffenbrüderschaft keinen politischen Widersinn erblickt, muss auch die heutige angeblich „unverständliche“ Sympathie zwischen Polen und Russland nicht nur als verständlich, sondern auch als natürlich finden. Daran ändern die polnischen Aufstände von 1831 und 1863 ebenso wenig wie die wiederholten Kämpfe der Ungarn gegen Österreich an der heutigen österreichisch-ungarischen Waffenbrüderschaft. Die Schwankungen in der Haltung der Polen gegenüber den einzelnen Teilungsmächten waren nicht nur durch rein politische Erwägungen bedingt, sondern auch durch wirtschaftliche und soziale Interessen der führenden Klassen stark beeinflusst. Die Bedeutung der ersteren (wirtschaftlichen) ist in neueren Zeiten hinsichtlich Russisch-Polens allgemein bekannt; die der letzteren (sozialen) etwas vergessen. So wurde z. B. die antiösterreichische Strömung des 18. Jahrhunderts in Galizien durch die Reformen Josephs II., die antirussische der 60er Jahre in Russisch-Polen durch die Bauernbefreiung, die vorübergehende Deutschfreundlichkeit 1905 daselbst durch die Angst vor der Agrarreform usw. hervorgerufen. Andererseits ist es auch nicht ganz richtig, wenn man glaubt, der moderne Russophilismus der Polen Russlands werde durch wirtschaftliche industrielle Gründe allein bedingt; eine starke Mitwirkung politischer und sozialer Motive ist hier unverkennbar; ohne die letzteren würde die Haltung der polnischen Agrarier und der Russophilismus unter den galizischen Polen, hauptsächlich unter der Bureaukratie und den Grundbesitzern, direkt unverständlich sein. Wenn ein Teil der galizischen Polen (vorzugsweise die westgalizischen) bis zum letzten Augenblicke sich dem Russophilismus gegenüber ablehnend verhielt, so geschah dies in richtigem Verständnisse, dass der politische Besitzstand des Polentums in Österreich viel grösser ist als seine gesetzliche Berechtigung, und dass es sich noch lohnt, um dieses Überschusses willen loyal zu sein und Legionen zu bilden, deren ursprüngliche Bestimmung mit der reinen Loyalität nichts gemeinsam hatte, wie das die über die Entstehung der Legion Unterrichteten wissen. Man gab sich ursprünglich der Täuschung hin, dass in dem zu erwartenden Kriege eine etwa 50.000 Mann starke Truppe eine militärisch und politisch selbständige und wirksame Rolle spielen würde. Trotzdem hat die polnische Legion unter sehr ausgiebiger Unterstützung seitens der Monarchie nicht ein Viertel der genannten Ziffer erreicht, obwohl die Legionäre größtenteils zwangsweise eingezogen wurden. Dass Russisch-Polen sich in dieser Beziehung ablehnend verhält, ist allzu bekannt, um dem polnischen Märchen von dem „Enthusiasmus“ der polnischen Bevölkerung in Russland Glauben schenken zu können. Die Tatsache, dass außer der polnischen Legion in Österreich noch je eine in Russland und Frankreich gebildet wurde, steht unumstößlich da.

*) Seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts entbehrte das polnische Reich jeglichen eigenen organischen Rückgrates und konnte seine illusorische Unabhängigkeit nur mit Hilfe der untereinander konkurrierenden Nachbarstaaten behaupten.

**) Eine polnische Broschüre, die ad captandam benevolentiam Germaniae veröffentlicht worden ist und die den Namen eines Berliner Universitätsprofessors im Titel führt, behauptet allen Ernstes, die polnische Geschichte habe nur einen einzigen Mann aufzuweisen, der den polnischen Thron Russland angeboten hätte, und zwar den Fürsten Czartoryski. Es genügt, bloß oberflächlich mit der polnischen Geschichte vertraut zu sein, um zu wissen, dass seit dem XVI. Jahrhundert sehr oft von polnischen Thronkandidaten aus der Zarenfamilie die Rede war und dass diese Bewerber immer auf einen Anhang unter den Polen rechnen konnten. — Aber nicht nur in entlegenen Zeiten waren die Polen dem Verständnisse gemeinsamer Interessen zwischen Polen und Russland zugänglich. Im Jahre 1905, in der Morgendämmerung des russischen Konstitutionalismus, wurde in Warschau ein beachtenswertes Handbuch der polnischen politischen Kunst („Z dziejów odrodzenia politycznego Galicyi, 1859—1873“) zwecks Instruierung der russischen Polen herausgegeben. Die Darstellung, wie die österreichischen Polen zur galizischen Autonomie und zu ihrer Machtstellung in der Monarchie gekommen sind, sollte die polnischen Politiker in Russland belehren, dass sie im Interesse der polnischen Zukunft eine entschieden reichstreue und dynastische Loyalitätspolitik Russland gegenüber einzuschlagen und nicht etwa von einem Aufstande zu träumen, geschweige denn nach Oesterreich zu schielen haben. Die Verfasser des Werkes waren die ausgesprochensten „Österreicher“ unter den Polen, die Krakauer konservativen Universitätsprofessoren: Bobrzynski (nachmaliger k. k. Statthalter), Jaworski (heute der Präsident des Obersten Nationalkomitees) und Milewski (vor dem Kriege an der Universität Lemberg, jetzt geflüchtet mit den Russen).


In Anbetracht alles dessen darf es also nicht wundernehmen, wenn das bekannte russisch-englische Abkommen über die Regelung der polnischen Frage nach dem für die Entente siegreichen Kriege nicht nur einen beinahe ungeteilten Beifall inmitten der Polen Russlands, sondern auch außerhalb derselben vielfache Sympathien fand. Freilich, eine solche Lösung des polnischen Problems erscheint für die Polen als die gegebenenfalls günstigste. Ein ethnographisch-einheitliches Gebiet von etwa 170.000 qkm mit beinahe 20 Millionen Einwohnern, angegliedert an das russische Weltreich in der Form einer Realunion bei gleichzeitiger Zertrümmerung der Zentralmächte, würde großartige Aussichten für die polnische Zukunft eröffnen.

In der an dem Projekt geübten Kritik wurden polnischerseits zwei Hauptmängel hervorgehoben: *) die fragliche Zugehörigkeit Danzigs und das Fehlen jeder Gewähr für die national-politische Stellung polnischer Leute in den „historischen“ Teilen Polens, d. i. in Litauen, Weißruthenien, in der Ukraine, besonders aber im heutigen Ostgalizien. Was diesen zweiten Vorwurf betrifft, ist er schwach begründet; erstens wird das Polentum in den „historischen Provinzen“ (oder wie sich die Polen modern ausdrücken: in „Ostpolen“) durch die verabredete Autonomie des ethnographischen Polens keineswegs in seiner bisherigen Stellung beeinträchtigt, vielmehr nach Maß der Entwicklung des Mutterlandes gestärkt; zweitens ist eine Gewähr für die Erhaltung dieses spärlichen Polentums nur so lange möglich, als die „historischen Untertanen“ Polens in jenen Ländern (Litauer, Weißruthenen, Ukrainer) national unterdrückt bleiben, und darum kümmert sich Russland in seinem eigenen Interesse aufs eifrigste.

*) Professor Dr. Alexander Brückner „Russen und Polen“ (Leipz. Illustr. Ztg. v. 18./III. 1915); Professor Dr. Moritz R. v. Straszewski: „Die polnische Frage“, Wien 1915 u. a.

Dasselbe gilt auch bezüglich Galiziens, durch dessen Russifizierung das Polentum manchen Gewinn für sich zu verbuchen hoffte, wie es seinerzeit in Weißruthenien und im Cholmer Land der Fall war. Durch die Unterdrückung der linierten Kirche würden viele griechische Katholiken zum römischen Katholizismus, der bei dem gemeinen Volke „polnischer Glaube“ genannt wird,*) übertreten und somit der Polonisierung ausgesetzt bleiben. Diesen Entwicklungsgang der Russifizierung Galiziens hatte bekanntlich auch der gewesene galizische Generalgouverneur Graf Bobrinskij in einer Besprechung den ausländischen Korrespondenten in Aussicht gestellt. Der Umstand erklärt die auf den ersten Blick widersinnige Tatsache, dass der polnische, durchaus nationalistisch gesinnte Klerus stark russophil ist. **) Der Anschluss Polens an Russland gibt den Polen das Monopol, den Katholizismus in dem ganzen russischen Imperium zu vertreten, zu führen, zu beeinflussen und national auszunützen. Nur unter solchen Verhältnissen kann der hergebrachte Wahn, Polen reiche in Russland so weit, wie Katholiken zu finden sind, noch immer fortleben. Dieser Theorie gemäß bildete sich unter den Polen überhaupt, in den geistlichen Kreisen insbesondere, die Ansicht, die kirchliche Union in Osteuropa wäre sowohl in der Geschichte als auch gegenwärtig vom polnisch-kirchlichen Standpunkte aus schädlich, als eine Verfassung, die der polnischen Ausbreitung im Osten einen Damm schaffe und die „untertänigen“ Völker Polens (zumal die Ukrainer) national fördere. ***) Deswegen wandte die polnische Geistlichkeit alle Mittel an, um im Jahre 1905 mit dem russischen Toleranzpatente das Entstehen der Union zu verhindern; die Folge dieser Politik war doppelt: die Union ist bis heute aus Russland verbannt, und den Anhängern des Katholizismus wird dieser ausschließlich in der national-polnischen Form geboten.****)

*) Ein passendes Gegenstück zu dieser Benennung haben wir in Ungarn mit seinem „magyarischen“, „deutschen“, „slovakischen“, „ruthenischen“ usw. Glauben, der mit den sprachlich-nationalen Verhältnissen durchaus nicht übereinstimmt. Dasselbe gilt auch in den besprochenen Ländern.

**) Dass auch die preußisch-polnische Geistlichkeit von dieser Gesinnung nicht frei ist, wird sehr klar durch die Broschüre des P. L. Choinski „Bledna polityka Polski“ (Posen 1913) bewiesen.

***) Wenn also die polnischen Publizisten die russische Bekehrung der ruthenischen Unierten als polnisches Leiden bezeichnen, kann von einer Aufrichtigkeit dieser Behauptung kaum die Rede sein.

****) Diese Anschauung ist nicht neu, sie reicht sogar in das XVII. Jahrhundert zurück (cf. P. Zaleski, „Historya jezuitow w Polsce“); die neuere historisch-philosophische Begründung dieser Theorie beim Krakauer konservativen Gelehrten Koneczny (hauptsächlich in „Swiat slowianski“).


All dies erklärt die Erscheinung, dass während der vergangenen russischen Okkupation Galiziens die Beziehungen zwischen den Russen und der polnischen römisch-katholischen Geistlichkeit sehr korrekt waren, indessen die griechisch-katholisch-unierte Kirche harten Verfolgungen ausgesetzt wurde, was auch in Ententekreisen, besonders in Frankreich, böses Blut machte. Übrigens ist es kein Zufall, dass die russophilsten Elemente unter den Polen gerade diejenigen sind, welche auf diesen „historischen“ Gebieten, zumal auf dem ukrainischen Boden, leben und wirken. Auf diese Weise braucht die Unzufriedenheit nicht sehr ernst genommen werden.*)

*) Freilich darf man nicht bezweifeln, dass die Polen sehr gerne das ententemäßige Polen sowohl im Norden (Preußen) als auch im Süden (Galizien, die Zips) erweitern möchten, wie es aus manchen polnischerseits inspirierten vierverbandfreundlichen Publikationen herauszulesen ist.

Nun aber besitzt der Grey-Ssasonoffsche Plan der Errichtung eines neuen Polens keine Aussicht auf Erfolg. Außer ihren bisherigen polnischen Gebieten verfügen jetzt die siegreichen Zentralmächte über den gesamten russischen Teil Polens, und nur ihnen steht jetzt das entscheidende Wort über die polnische Zukunft zu. Um dies für die polnische nationale Sache möglichst günstig zu gestalten, bemüht sich nun die antirussische Partei, und zu dem Zwecke überhäuft sie die öffentliche Meinung und die maßgebenden politischen Kreise der Zentralmächte mit zahlreichen Vorschlägen, Forderungen und Drohungen, um dieselben für polnische Ziele zu gewinnen und die Errichtung eines Polenstaates nach einem von den polnischen Politikern vorgeschriebenen Schnitt durchzusetzen — eines Staates, welcher einen gewissen Ersatz für das bereits verlorene Ideal bilden könnte. Bevor wir diese polnischen Wünsche einer näheren Besprechung unterziehen, müssen wir einige Grundsätze und Tatsachen, welche bei der Behandlung solcher Fragen überhaupt und der polnischen insbesondere in Betracht kommen, feststellen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.