Zweite Fortsetzung

Das Königreich Polen zählt 2.600.000 Juden. Sie bildeten 13,90 Prozent der Bevölkerung im Jahre 1890, und trotz ihrer nicht unbedeutenden Auswanderung 14,64 Prozent im Jahre 1910. Die Hauptsache der starken Zunahme der Juden im Königreiche Polen ist in der russischen Politik zu suchen, welche das Siedlungsverbot für Juden außerhalb des Königreiches und Westrusslands (Litauen, Weiß- und Kleinrussland, Bessarabien und Gouvernement Cherson) aufrechterhält und durch planmäßig, sporadisch veranlasste Pogrome die restlichen, im eigentlichen Russland ansässigen Juden nach Polen abdrängt. Die Flut der russischen Juden nach Polen übte auf die Lage der einheimischen polnischen Juden einen nachteiligen Einfluss aus. Nicht nur, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verschlimmerte, indem in erster Reihe die einheimischen polnischen Juden von der wirtschaftlichen Konkurrenz der in Massen zugereisten russischen am stärksten zu leiden hatten, sondern auch nicht minder dadurch, dass die zugewanderten russischen Juden das friedliche Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung störten, indem sie als russifikatorisches Element auftraten. Während die erste Generation der zugewanderten russischen Juden, ungeachtet aller Pogrome, denen sie in Russland zum Opfer fielen, an der russischen Sprache festhielt und sich im Verkehr ihrer bediente, konnte der Erwartung Raum gegeben werden, dass ihre Nachkommen sich die polnische Sprache aneignen und gegenüber der einheimischen Bevölkerung, welche trotz aller russifikatorischen Bestrebungen der Staatsbehörden, aller Güterkonfiskationen, aller Ansiedlungen und Gewaltmaßregeln in 73*8 Prozent der ganzen Bevölkerung aus Polen besteht, das als nationale Provokation aufgefaßte sprachliche Verhalten unterlassen würden. Diese Erwartung traf indessen nicht ein, dank der Förderung und Unterstützung, welche den russischen, nach Polen eingewanderten Juden von der russischen Regierung gerade wegen ihres Festhaltens an der russischen Sprache zuteil wurden. Dieselbe Regierung, welche die Juden aus dem Innern Russlands mittels Gesetz und durch veranstaltete Pogrome vertrieb, lieh denselben Juden in Polen ihre Fürsorge dafür, dass sie sich in den Dienst der Russifikation des Landes stellten. Zweierlei wurde dadurch beabsichtigt: das Ablenken des Hasses der Polen gegen die Russen auf die Juden und das Hervorrufen einer neuen Gärung in Polen durch Verschärfung der Judenfrage.

In Polen bildete die Judenfrage eigentlich niemals eine konfessionelle oder Rassen-, vielmehr eine wirtschaftliche und nationale Frage. Während der kurzen Zeit der Selbständigkeit Kongress-Polens bis zum Jahre 1830 und auch später bis zum Jahre 1863, dem Jahre des zweiten polnischen Aufstandes gegen Russland, welchem die rücksichtsloseste Unterdrückung folgte, hat es die, wiewohl später noch so beschränkte Selbstverwaltung bewirkt, dass sich die Juden dem Königreiche national anschlössen und dass sich auch wirtschaftlich das gegenseitige Verhältnis in friedlicher Weise anbahnte. Vorbildlich hierfür war die Hauptstadt des Königreiches, Warschau, wo die Juden auf dem Gebiete des übrigens blühenden wissenschaftlichen Wirkens, auf wirtschaftlichem, namentlich industriellem, sozial gesellschaftlichem und auf allen anderen Gebieten des eingedämmten oder unterdrückten öffentlichen Lebens den hervorragendsten Anteil nahmen. National mit der polnischen Bevölkerung verschmolzen, im friedlichen Zusammenarbeiten mit der übrigen Bevölkerung wetteifernd, bildeten die Juden im Königreiche einen anerkannten, integrierenden Bestandteil der Gesellschaft, dass es noch bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den Anschein haben konnte, im Königreiche dürfe die Judenfrage im großen und ganzen als gelöst gelten. In keiner Literatur der Welt sind die Juden größerer Wärme und Sympathie begegnet, wie in der polnischen des XIX. Jahrhunderts, und die Verherrlichung des polnischen Patriotismus der Juden hat nirgends einen ergreifenderen Ausdruck gefunden, als in dem größten polnischen Nationalepos „Pan Tadeusz" des polnischen Dichterfürsten Adam Mickiewicz. Groß ist die Zahl der polnischen bedeutendsten Dichter und Schriftsteller, welche die Anhänglichkeit der polnischen Juden an ihre Heimat priesen, oder ihr Leben und Leiden in Worten tiefster Teilnahme und Liebe schilderten. Die polnische Literatur des XIX. Jahrhunderts bildet auch in der Judenfrage ein Denkmal edelsten Humanismus.


Der russischen Politik, auf welche die Polen selbst in ihrem eigenen Lande keinen Einfluss ausüben konnten, sollte aber dieses von Natur aus zarte Gewebe der Verständigung einer Nation mit dem siebenten Teile ihrer andersgläubigen Gesamtbevölkerung und einem Drittel der Stadtbevölkerung, ein Dorn im Auge werden und sie fand Mittel, diese Verständigung zu trüben. Ausnahmegesetze auch gegen die Juden in Polen, welche ihnen in der Ausübung der freien Berufe enge Grenzen setzten, die beschränkte Zulassung der jüdischen Jugend zum öffentlichen Unterricht in allen Lehranstalten sollten den Gegensatz zwischen Juden und Christen in der polnischen Gesellschaft hervorkehren und die Erwerbsmöglichkeit der Juden in Polen vermindern. Die hierdurch wachsende Pauperisation der jüdischen Bevölkerung musste Gärungsstoffe in die Gesellschaft bringen, welche einerseits den unbeabsichtigten Erfolg hatten, die jüdische Jugend in die Arme der revolutionären Partei zu treiben, aber auch andererseits den beabsichtigten, das Zusammenleben der verschiedentlich behandelten Gesellschaftskreise zu vergiften. Dazu der Andrang der aus Russland vertriebenen Juden nach Polen und der dadurch hervorgerufene nationale Gegensatz zwischen diesen Juden und den Polen. Die Judenfrage in Polen, die ihrer friedlichen Losung unentwegt entgegenging, ist aufs neue entfacht worden.

Die große Freiheitsbewegung in Russland nach dem unglücklichen russisch-japanischen Kriege, welche so viele Hoffnungen aller Geknechteten auslöste, hat an dieser Sachlage nicht nur nichts geändert, sondern vielmehr sie noch verschlimmert. So wie sie Russland ein Zerrbild einer Verfassung brachte, so brachte sie den Juden eine Verschlechterung ihrer Lage im ganzen Reiche und eine Verschärfung ihrer Beziehungen zur polnischen Bevölkerung in Polen. Die gewaltsame Auflösung der ersten und zweiten Duma bis zur Schaffung einer Majorität aus den dunkelsten und rückschrittlichsten Elementen, hierauf die unter Patronanz der Regierung erfolgte Ablenkung der allgemeinen Unzufriedenheit auf die Juden mittels wiederholt verunstalteter Pogrome verleiht dem russischen Verfassungsleben ihren Stempel.

Ein Abklatsch dieser Verhältnisse kam mit unwiderstehlicher Konsequenz im Königreiche Polen zum Vorschein. Um die Sympathien und Unterstützung einer so gearteten Dumamajorität für die nationalen Bestrebungen der Polen zu gewinnen, schrieben die aus dem Königreiche gewählten polnischen Abgeordneten, die auf ihr polnisch-nationales Programm gewählt wurden und der nationaldemokratischen Partei angehörten, den Kampf gegen die Juden auf ihr Schild. Die Partei, ursprünglich eine national-oppositionelle und freiheitliche, unterlag in der dritten Duma der dort zur Herrschaft gelangten reaktionärsten Strömung und bildete sich bald zu einer extrem antisemitischen aus. Unter dem Vorwande, dass es den Kampf gegen die national fremden oder direkt schädlichen Elemente gilt, wozu die aus Russland eingewanderten Juden sicherlich Veranlassung gaben, kehrten sich die Nationaldemokraten auch gegen die polnischen Juden, als den national „Unverlässlichen". Diese Agitation der polnischen Nationaldemokraten war namentlich in Warschau von Erfolg begleitet, zumal diese Partei dort in wenigen Jahren ausschlaggebend wurde, indem sie vor keinem Mittel, nicht einmal vor Denunziationen und dem krassesten Terrorismus zurückscheute, die Andersdenkenden mundtot zu machen. Jener Teil der Warschauer Presse, welcher an den alten Traditionen festhielt und die Juden vor den Verdächtigungen der Nationaldemokraten in Schutz nahm, wurde nach bewährtem Muster zur „Judenpresse" gestempelt. Die hervorragendsten Persönlichkeiten, die es wagten, gegen die Nationaldemokraten aufzutreten wurden gleichfalls nach bewährtem Muster als im Dienste jüdischer Kapitalien, als „Judenknechte" ausgeschrien. Der Schutz, den hierbei die Nationaldemokraten, welche gleichzeitig die Versöhnung mit der russischen Regierung predigten und eine russophile Orientierung propagierten, naturgemäß genossen, bewirkte, dass alle gegnerischen Elemente, die hervorragendsten Männer der Wissenschaft, der Literatur (der letzteren mit zwei: sage zwei Ausnahmen), alle an Zahl und Namen in Warschau so bedeutenden Intellektuellen, die Vertreter der freiheitlichen bürgerlichen und der Arbeiterparteien sich von der Teilnahme am öffentlichen Leben zurückzogen. Gegen die Denunziationen der Nationaldemokraten, vereint mit der auch im Westen genügend berüchtigten russischem Polizeiwillkür, konnten sich Andersdenkende nicht behaupten. Sogar das „unterirdische" Polen, die polnischen Revolutionäre, sahen sich gezwungen, abzuwarten.

Den Höhepunkt ihrer Agitation erreichten die Nationaldemokraten aus Anlass der Warschauer Wahlen in die vierte Duma im Jahre 1912, als ihr anerkannter Führer (Dmowski) gegen die vereinigten Stimmen der Juden, des Freisinnes und der Arbeiter nicht durchdringen konnte. Das Verhängen des wirtschaftlichen Boykotts gegenüber den Juden war die Antwort der Nationaldemokraten. Einen Pogrom zu predigen und zu organisieren, gebrach es sogar dieser extrem antisemitischen Partei im Königreiche vielleicht nicht an Willen, aber an Mut. Sie wusste es sehr genau, dass ihr auf diesem Wege, trotz allen Aufhetzens der Leidenschaften, die polnische Bevölkerung nicht folgen werde. Pogrome in Polen sind nicht vorgekommen, hierfür fehlte in der Stimmung der wenn auch noch so aufgewühlten Bevölkerung jede Voraussetzung. Die Polen haben in der hunderte Jahre alten Geschichte des Zusammenlebens mit dem Juden ihnen niemals Hass entgegengebracht und ein Pogrom ohne Unterlage des nasses ist undenkbar.

Merkwürdig und bezeichnend, dass gerade die höchste Blüte der nationaldemokratischen antisemitischen Agitation, der wirtschaftliche Boykott der Juden in Warschau und anderen Städten des Königreiches, die Bevölkerung zur Besinnung brachte. Der Boykott, mit großer Leidenschaft eingesetzt, war von kurzer Dauer Die wirtschaftlichen Bande erwiesen sich stärker als das Schlagwort und bewirkten die Auflehnung der christlichen Bevölkerung gegen das Verbot des Einkaufes bei Juden. Der Boykott flaute auch ab und es wagten sich bald Stimmen m die Öffentlichkeit, welche ihn verurteilten. Die Wogen der antisemitischen Agitation begannen sich zu glätten, einer ruhigeren Aussprache das Feld räumend. Selbst der Ton der antisemitischen Presse wurde herabgestimmt, die nationaldemokratische Partei im Königreiche wurde sich dessen bewusst, dass sie nach ihrem rapiden Wachstume dem Zerfalle entgegenging, namentlich, nachdem sich ihre Reihen zu lichten begannen und die intelligentesten Mitglieder sich von den Führern lossagten. Aber bevor der gänzliche Verfall der Partei eintreten konnte, bevor sie ihre Kurzlebigkeit erwies, kam der große Krieg, den die Partei sofort benützte, um die Judenfrage auf den Nagel zu hängen — seit Ausbruch des Krieges betreibt die russische Regierung die Judenverfolgung in Polen übrigens allein im ausgiebigsten Maße — und sich ganz und ausschließlich und ohne Vorbehalt in den politischen Dienst der russischen Regierung zu stellen. Dass ihr dies bei allen Andersgesinnten in Polen, bei der großen Majorität der polnischen Nation den Todesstoß versetzen wird, das soll sich nach dem Kriege erweisen. Die Voraussetzung hierfür ist die Lostrennung des Königreiches von Russland, das Befreien der Polen vom verderblichen russischen Einfluss. Die Freiheit Polens ist die Freiheit der Juden in Polen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen und Juden - Ein Appell