Erste Fortsetzung

Der hervorragende dänische Schriftsteller Brandes und der bedeutende italienische Staatsmann Luzzatti klagen die polnische Nation des Antisemitismus an, klagen sie an, dass sie Judenverfolgung betreibe und Pogrome veranstaltete unter der offenen oder zumindest stillschweigenden Zustimmung der Intellektuellen in Polen. Die Anklage, die geeignet ist, die Polen der Sympathien der ganzen gebildeten und kulturellen Welt zu berauben, ist eine der schwersten und kann, von übelwollenden Elementen benützt und ausgenützt, als Argument gelten gegen die Berechtigung der Bestrebungen der Polen, eine staatliche Selbständigkeit zu erlangen. Deshalb darf diese Anklage nicht ohne Aufklärung, ohne Widerlegung bleiben.

Wo in aller Welt sind die Judenpogrome in Polen vorgekommen, wo und welcher Art sind die Judenverfolgungen?


In Preußisch-Polen, in der Provinz Posen, bildet die jüdische Bevölkerung einen so geringen Bruchteil der Gesamtbevölkerung, dass dort von einer Judenfrage überhaupt keine Rede sein kann. Wirtschaftliche Verhältnisse, die zu betrachten außerhalb des Rahmens dieser kurzen Schrift liegt, haben einen stetigen Abfluss der jüdischen Bevölkerung bewirkt, der sich in den friedlichsten Formen abgewickelt hat. Dort bilden die Juden seit langer Zeit keinen bedeutenden Populationsfaktor mehr, weder in nationaler, noch in wirtschaftlicher Beziehung. Wo keine Juden sind, oder wo sie so gering an Zahl sind, wie in Preußisch-Polen, dort kann es auch keine Judenverfolgung geben und dorthin wurden sie auch von den Anklägern der Polen nicht verlegt.

Anders liegen die Verhältnisse in Galizien, in Österreichisch-Polen. Hier bilden die Juden (im Jahre 1910) 10,86 Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes, in den Städten wächst diese Verhältniszahl auf etwa 30 Prozent, ausnahmsweise, wie in Brody, bilden sie sogar die Majorität der städtischen Bevölkerung. Hier, in Galizien, haben auch die Polen, welche in Westgalizien 98 Prozent der Einwohner ausmachen (im ganzen Lande bilden die Polen in Hinblick auf die bedeutende Anzahl der Ruthenen in Ostgalizien immerhin noch 58,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), eine so ausgedehnte Selbstverwaltung, im Lande durch Landtag und Landesausschuss, in den Städten durch eigene Statute (Lemberg und Krakau) oder durch Landesgesetz, dass in keinem Teile des einstigen polnischen Reiches das Verhalten der Polen zu ihren jüdischen Mitbürgern kennzeichnender sein kann, als gerade in Galizien. Hier wären die Polen für Judenverfolgungen und Pogrome allein verantwortlich. Denn hier haben sie den ausschlaggebenden Einfluss im Lande.

Wie ist nun die Stellung der Juden in Galizien? Auf wirtschaftlichem Gebiete, welches hier wie überall die größten Reibungsflächen bloßlegt, ist die wirtschaftliche Emanzipation der Bauernschaft in den letzten Dezennien nicht ohne Schädigung der jüdischen Erwerbstätigkeit vollzogen worden. Einzelne jüdische Erwerbsklassen sind in diesem wirtschaftlichen Prozess der Not preisgegeben worden, und es dauerte Jahre, bis die den betroffenen jüdischen Erwerbsklassen geschlagenen Wunden geheilt wurden. Aber nirgends und in keinem Falle hat dieser Wirtschaftsprozess Formen angenommen, welche auch von empfindlichster Seite als eine Judenverfolgung hätte gedeutet werden können. Im Gegenteil, während noch in den Achtziger- und Neuzigerjahren des vorigen Jahrhunderts der Widerstreit wirtschaftlicher Interessen zwischen der Bauernschaft und den auf dem flachen Lande wohnenden Juden das Gedeihen einer antisemitischen Bauernpresse unter Leitung des einflussreichen Agitators, des Paters Stojalowski, zeitigte, während noch damals von Stojalowski inszenierte Judenhetzen in einzelnen Gebieten Westgaliziens vorkamen, die von den polnischen Landesbehörden mit unerbittlicher Strenge unterdrückt wurden, ist mit der Zeit der Einfluss dieses antisemitischen Paters so sehr gesunken, dass er in seinen letzten Lebensjahren ganz isoliert geblieben ist. Dagegen wuchs im Kampfe gegen Stojalowski die unabhängige und freiheitliche polnische Volkspartei, welche mit der Zeit die große Majorität der polnischen Bauern zu ihren Anhängern zählte. Schon der Gegensatz dieser Partei zu Pater Stojalowski ist kennzeichnend für ihr Verhalten gegenüber den Juden. So entschieden verstand es die polnische Volkspartei sich von antisemitischen Tendenzen und Auswüchsen freizumachen, so aufklärend wirkte sie unter der polnischen Bauernschaft auf dem flachen Lande, dass, als vor einigen Jahren infolge innerer Streitigkeiten der Zerfall dieser Partei in zwei sich unerbittlich und rücksichtslos bekämpfende Fraktionen erfolgte, keine dieser Fraktionen mehr zu den vergifteten Waffen des Antisemitismus gegriffen hat.

In den polnischen Städten Galiziens — die polnische Bevölkerung bildet in allen Städten dieses Landes die Majorität — hat antisemitische Propaganda seit Beginn der Autonomie des Landes niemals recht Fuß fassen können. Zu antisemitischen Exzessen kam es in keiner Stadt Galiziens und trotz mannigfacher, die Zusammengehörigkeit störender Existenz- und Konkurrenzfragen zwischen christlichen und jüdischen Kaufleuten und Gewerbetreibenden wächst in den Städten das Bewusstsein der Interessensolidarität so zusehends, dass sich hier das interkonfessionelle Klassenbewusstsein in augenscheinlicher Weise festigt.

Die wirtschaftlichen Gegensätze, welche in der Regel den Zündstoff für extreme Bewegungen unter konfessionellem Deckmantel bergen, werden immer erfolgreich in friedlicher Weise ausgeglichen, und wenn sie bis jetzt in den letzten fünfzig Jahren zu keinen Ausschreitungen führten, darf wohl von Judenverfolgungen in Galizien wahrlich nicht gesprochen werden.

Nirgends können die Juden freier ihren Bildungsdrang betätigen, wie in dem von den Polen beherrschten Lande Galizien. In den Volksschulen, den Mittelschulen und den Hochschulen beträgt die Anzahl der jüdischen Schüler weit mehr, oft zwei- und dreimal so viel, als nach dem Prozentsatze der Bevölkerung, da den Juden in diesem Lande weder gesetzlich, noch faktisch die geringsten Schwierigkeiten in dem Besuche aller Schulen in den Weg gelegt werden. An den Bürgerschulen, Gymnasien und Hochschulen sind jüdische Lehrer und Professoren angestellt, an der alten polnischen Jagiellonen-Universität in Krakau dozieren auch Juden als öffentliche, ordentliche Professoren und Dozenten, und die polnische Universität in Lemberg wählte für das Studienjahr 1912/13 einen Juden zum Rector magnificus. Kann für die Stellung der polnischen Intellektuellen in Galizien gegenüber den Juden noch Bezeichnenderes hervorgehoben werden? Oder soll noch hervorgehoben werden, dass das höchste polnische wissenschaftliche, autonome Institut, die Akademie der Wissenschaften in Krakau, zahlreiche Juden zu ihren Mitgliedern ernannte und ernennt? Soll noch hervorgehoben werden, dass die autonome Advokatenkammer in Lemberg, deren Majorität eine polnische ist, einen Juden zu ihrem Präsidenten gewählt hat? Oder dass die beiden autonomen Hauptstädte des Landes, Lemberg und Krakau, mit ausschließlicher polnischer Gemeindevertretung Juden zu Vizepräsidenten (Bürgermeister-Stellvertreter) in freier Wahl bestellten? Dass zahlreiche Städte mit christlich-polnischer Majorität jüdische Bürgermeister wählten? Oder dass es die Juden im Justizdienste des Landes zu hohen Stellungen bringen, einen beträchtlichen Teil des angesehenen Advokaten- und Ärztestandes bilden? Die Beispiele wären ins Zahllose zu mehren, und sie alle beweisen, wie weit entfernt das von den Polen beherrschte Land von Judenverfolgungen ist.

Das Bild, noch so oberflächlich, wäre nicht vollständig, wenn die Stellung der Juden im politischen Leben des Landes nicht in aller Kürze gekennzeichnet würde.

Von den großen politischen Parteien ist das Verhältnis der Volkspartei zu den Juden bereits geschildert worden. Die radikalere polnische sozialistische Partei, welche in ihren Reihen die gesamte jüdische Arbeiterschaft zahlt gehört wie überall zu den freiheitlichsten und dort hat der Antisemitismus niemals und in keiner Form Fuß gefasst. In dieser Partei kämen auch wirtschaftliche Gegensätze zwischen christlichen und jüdischen Arbeitern nicht auf.

Maßgebend aber für das Verhältnis zwischen Polen und Juden in Galizien ist bis vor kurzem der Gesichtspunkt derjenigen Partei gewesen, in deren Hand sich die Macht des Landes vereinigte, aus deren Reihen Landmarschall und Statthalter hervorgehen, welche bislang die Majorität im Landtage, in den Bezirksvertretungen und bis vor kurzem die Majorität im reichsrätlichen Polenklub besessen hat: der konservativen Partei Zu Ehren dieser Partei, die lange Jahrzehnte hindurch die Vorherrschaft in Galizien besessen hat und trotz der wachsenden Bedeutung der bürgerlichen Parteien noch immer von maßgebendstem Einflüsse im Lande ist darf festgestellt werden, dass sie sich niemals, seitdem sie sich als politische Partei organisiert hat, durch antisemitische Propaganda oder auch nur durch antisemitische Allüren befleckt hat.

Mit fortschreitender Demokratisierung des Landes kamen namentlich im letzten Jahrzehnt die bürgerlichen Parteien zur politischen Geltung und zu wachsendem politischem Einflüsse, vorwiegend in ihrer eigentlichen Domäne, in den Städten. Die polnische demokratische Partei stutzt sich auf die Traditionen des letzten polnischen Reichstages und der von diesem erlassenen freiheitlichen Verfassung vom Jahre 1791. Sie ist der Erbe der Freiheitskampfe Kosciuszkos (1794), welche schon damals die Juden begeisterten, so dass sie unter dem polnisch-jüdischen Obersten Berko Joselowicz eigene jüdische Regimenter aufstellten; der Erbe der polnischen Aufstande vom Jahre 1830 und 1863, in welchen so viele jüdische Offiziere und Soldaten für die Freiheit Polens, ihres Vaterlandes, bluteten. Sie ist der politische Nachkomme des Freiheitskämpfers vom Jahre 1848 und des großen polnischen Demokraten, des späteren Reichstagspräsidenten Smolka, dessen berühmte Reden für die Gleichberechtigung der Juden im galizischen Landtage noch heute anderwärts Geltung haben könnten. Diese Partei übte naturgemäß eine Anziehungskraft auf die jüdische Intelligenz und die jüdische Bürgerschaft des Landes in einem so hohen Maße aus, dass sie sich auf diese stützen konnte, und die nationale Verschmelzung der jüdischen Bürgerschaft und der christlichen polnischen vorbereitete und bewirkte. Die polnischen Abgeordneten jüdischer Konfession im Landtage und im Reichsrate, welche bezeichnenderweise auch in Städten gewählt werden, wo die jüdische Bevölkerung keineswegs überwiegend ist, haben sich im Landtage und im Reichsrate zumeist dieser politischen Partei, aus deren Reihen in den letzten Jahren der Obmann des reichsrätlichen Polenklubs hervorging, angeschlossen. Die Stellung dieser, im öffentlichen Leben Galiziens zur Zeit dominierenden politischen Partei gegenüber den Juden ist dadurch gegeben.

Neben dieser polnischen demokratischen Partei ist vor etwa zehn Jahren eine zweite, sich demokratisch nennende Partei, die national-demokratische, entstanden, die ihre Führer aus Russisch-Polen importierte und die im Gegensätze zu ihrer Schwesterrichtung mit immer offenerem Visier die niedrigsten Instinkte der Massen zu erwecken suchte, die wirtschaftlichen Gegensätze zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung in grellste Beleuchtung rückte, unter dem Deckmantel nationalen Empfindens den Patriotismus der Juden verdächtigte und alles aufbot, um die Juden im nationalen Körper als fremdes, wirtschaftlich minderwertiges oder direkt abträgliches Element aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben zu entfernen. Wiewohl sich die polnischen Nationaldemokraten scheuten, den Rassenantisemitismus in Galizien, wofür die Polen niemals aufnahmefähig gewesen sind, zu predigen, wiewohl sie sich in ihrem Hauptorgane, welches für die städtische Bevölkerung bestimmt war, vor dem Vorwurfe des Antisemitismus verwahrten, wiewohl sie lange Zeit ihre wahren Tendenzen nicht ohne Geschick unter Hervorkehrung des Nationalinteresses in allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen zu verbergen und die öffentliche Meinungen lange Zeit irrezuführen wussten, trat die antisemitische Tendenz ihrer Schriften und ihrer Tätigkeit schließlich in unzweideutiger Weise unverhüllt zutage. In der national-demokratischen Partei ist eine einflussreiche antisemitische Partei in Galizien entstanden, von der alles zu erwarten war. Scheute sie sich ja nicht, sobald ihr Parteiinteresse es erforderte, die Juden durch Drohungen einzuschüchtern, dass die christliche Bevölkerung ihre Geduld verlieren könne, wenn sie sich dem national-demokratischen Wahlwillen nicht fügen werde. Die jüdische Bevölkerung fügte sich dem national-demokratischen Willen nicht und die verblümt angedrohten antisemitischen Exzesse sind nicht entstanden, vielmehr büßten die unter dem Deckmantel der Nationaldemokraten einherschreitenden polnischen Antisemiten, trotz aller Patronanz für die wirtschaftlichen Interessen der christlichen Bürgerschaft, die sie gegenüber der jüdischen Konkurrenz zu schützen behaupteten, in der christlichen Bürgerschaft ihre Anhängerschaft ein. Die christlichen Kaufleute Krakaus erließen gerade wegen des Antisemitismus der Nationaldemokraten eine öffentliche Absage an sie, und die einflussreiche christliche Bürgerschaft der Hauptstadt Galiziens, Lemberg, wo die galizische polnische Nationaldemokratie ihren Hauptsitz hatte, war trotz aller Bemühung zu einem Anschluss an sie nicht zu bewegen. So hat die einzige, in gewissen Gesellschaftskreisen einflussreiche, chauvinistische nationaldemokratische Partei, die jedoch bloß einen geringen Bruchteil der ganzen polnischen Gesellschaft Galiziens bildet, trotz der ihr zur Verfügung stehenden Presse, trotz allen Terrorismus, trotz Anwendung aller modernen demagogischen Wege und Mittel, trotz der Anpassung an die jeweils zutage tretenden Stimmungen, trotz der Förderung durch die in Warschau mächtigen verwandten Strömungen, deren Ableger sie in Galizien gewesen ist, an ihrem Antisemitismus Schiffbruch gelitten. Ihre Verhetzungen waren nie in der Lage, eine Judenverfolgung, einen Pogrom in Galizien hervorzurufen, und von diesen schändlichen Erscheinungen konnte Galizien um so sicherer verschont bleiben, als hierfür die Voraussetzungen fehlen in der öffentlichen Stimmung dieses, von den Polen beherrschten Landes, wohin asiatische Strömungen, trotz allen Vorarbeiten der Nationaldemokraten, keinen Einzug fanden. Gewiss kommen in Galizien — so wie auch anderwärts in den westlichen Ländern und Staaten — wegen sozialer oder politischer, oder wirtschaftlicher Zurücksetzung der Juden mehr oder minder berechtigte Klagen vor; aber seitdem die Juden des Landes, die einen aus Erziehung und tatsächlicher Angehörigkeit zur polnischen Nation, die anderen vom Bestreben geleitet, ein friedliches Auskommen mit der polnischen Bevölkerung zu erhalten (von 878.000 Juden in Galizien haben bei der letzten Volkszählung im Jahre 1910 sich nahezu 850.000 zur polnischen Nationalität bekannt), sich politisch den Polen angeschlossen haben, verliert die Judenfrage in Galizien immer mehr an ihren Schärfen und die tatsächliche Gleichberechtigung der Juden gewinnt auf allen öffentlichen und privaten Lebensgebieten immer tiefere Wurzeln.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Polen und Juden - Ein Appell