Wie man unter der Zensur schreibt und spricht

Um einen Begriff zu geben, wie man unter der Zensur schreibt und spricht, folgen hier ein paar Beispiele aus den Vorträgen.

Es musste den Zuhörern einleuchtend gemacht werden, dass ich recht wohl den Inhalt gewisser Bücher verstand, selbst wenn dieser nicht direkt erwähnt werden durfte. Es war z. B. unmöglich, die Scene in Dziady zu zitieren, wo Polens Martyrium mit dem des Gekreuzigten verglichen wird, aber man konnte daran erinnern.


— Ich sagte daher in meiner Einleitung folgendes:

Sie erfahren von mir, wie Ihre Literatur in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts sich im Bewusstsein eines europäischen Lesers spiegelt, erfahren, welchen Eindruck ein wohlwollender Fremder von ihrem Geistesleben erhalt.

Denn ein wohlwollender Fremder bin ich. Nicht ein rein künstlerisches oder intellektuelles Interesse, sondern eine breitere menschliche Sympathie hat mich zu diesem Stoffe hingezogen. Es liegt darin etwas, was das Gemüt nicht nur beschäftigt, sondern ergreift; die moderne polnische Literatur setzt in höherem Grade als die meisten anderen das Gefühl in Bewegung. Sie hat etwas verschlossenes, nicht leicht durchdringliches. Oder besser: Sie ist gleichzeitig verschlossen und offen, je nach dem Gerichtspunkte, worauf man sich stellt. Sie erinnert in dieser Hinsicht an ein bekanntes Bild von Gabriel Max Das Tuch der Veronika — ein Bild, dass ich in künstlerischer Beziehung nicht hoch schätze, denn es ist ein Kunststück, kein Kunstwerk, das aber wohl geeignet ist, aufzuklären, was ich meine. Beim ersten Anblick scheint das Gesicht auf dem Bilde das einer Leiche zu sein; die Augen sind fest geschlossen, der Ausdruck ist leblos. Nimmt man aber den rechten Gesichtspunkt ein, so erhält die Physiognomie plötzlich Leben, die Augen öffnen sich und richten auf den Zuschauer ihren ernsten und kummervollen Blick.

Direkt die verschiedenen polnischen Aufstandsversuche zu nennen, war unausführbar. Ich konnte meine Meinung nur wiedergeben, indem ich in möglichst allgemeinen Ausdrücken den Zustand der Gemüter nach großen öffentlichen Unglücken „wie Hungersnot, Überschwemmung oder misslungenen Revolutionen" charakterisierte. Gerade so unmöglich war es beim Durchgehen von Slowackis Król Duch (König Geist), geradeaus zu sagen: die Grausamkeit, die hier vorkommt, wurde von Iwan dem Schrecklichen in eigner Person vollführt. Ich wählte diese Umschreibung:

„Wenn in Król Duch die Hauptperson erzählt, wie sie mit ihrem Schwerte den Fuß des alten Sängers an den Boden nagelte und dieser dennoch ungestört in der Mitteilung seiner Botschaft fortfuhr, so erinnert dies an eine Anekdote vom Hofe Iwan des Schrecklichen. Unter dieser Form passierte der Satz die Zensur für den mündlichen Vortrag und die Zensur für den Druck der Vorträge im Feuilleton der Gazeta Polska, wurde jedoch später von einem andern Zensor in dem gedruckten Buche gestrichen.

In Mickiewiczs Dziadi kommt in Konrads Improvisation eine Stelle vor, wo der Held in Verzweiflung Gott für die Gleichgültigkeit anklagt, womit er ihn leiden lässt; darin ist die wirkungsvollste Verslinie diese: Du bist nicht der Vater der Welt, sondern ihr — Zar! Ich bedurfte dieser Zeile in meinem Vortrage und wollte versuchen daran zu erinnern. Das genannte Dichterwerk einfach zu besprechen war unmöglich, sogar bloß seinen Titel zu nennen war schwierig. Hingegen ließ es sich versuchen, Konrads Namen zu nennen, ohne anzugeben in welchem Drama die Gestalt vorkam, und die Stelle etwas anders zu zitieren als sie lautete. Ich konnte fest auf die außerordentlich geringe Kenntnis des Zensors zur polnischen Literatur bauen.

Ich beschloss also über die verschiedene Stellung der polnischen Dichter zum Erkenntnisproblem zu sprechen und insinuierte in diesem Zusammenhange die Wendung: „Und wie die Wilden des Altertums, wenn sie ihren Göttern zürnten, einen Pfeil nach dem Himmelsgewölbe abschossen, so schleudert Konrad das Hohnwort ins Weltall hinaus, das, sagt er, von Geschlecht zu Geschlecht wiederhallen solle: Du Gott! Du bist nicht der Vater der Welt, sondern ihr . . .

Hier machte ich eine Pause von mehreren Sekunden, in welchen buchstäblich ein Beben durch den dichtbesetzten Rathaussaal ging. Dann fiel das Wort . . . Tyrann, und man atmete auf und sah einander an. Niemand rührte eine Hand. Nach einer solchen Stelle herrscht immer Todesstille, um den Redner nicht zu kompromittieren. Statt dessen applaudiert man gewaltig einige Minuten später bei irgend einem unschuldigen Gleichnis und man bewahrt den stärksten Applaus bis zum Schluss auf, wo niemand kontrollieren kann, was besonders den Beifallsturm hervorgerufen habe. Diese Stelle gehört zu jenen, die in der auf den Vortrag und dem ersten Feuilletondruck folgenden Zensur ausgestrichen wurde; diese Zensur nahm nicht weniger als sieben Monate in Anspruch, und die kleine Arbeit ging in stark verstümmelter Gestalt daraus hervor.

Noch ein letztes Beispiel was die Zensur, die wahrscheinlich nicht mit Shakespeare vertraut war oder kein Verständnis für Symbolik hatte, zu sagen erlaubte. Es war die Rede von den Dichtern unter den polnischen Emigranten. Ich verglich sie mit Hamlet und sagte unter andern:

Man findet in all diesen Geistern Züge von Hamlets Wesen; sie stehen seit ihrer Jugend in seiner Situation. Die Welt ist verrenkt, und sie soll von ihrem schwachen Arm eingerenkt werden. Sie fühlen alle wie Hamlet das innere Feuer, die äußere Ohnmacht ihrer Jugend, hochgeboren, wie sie sind, edeldenkend, wie sie sind, die Zustände, die sie umgeben, als ein einziges großes Schrecknis auffassend, sind sie zugleich zum Träumen und Handeln, zum Grübeln und zur Rücksichtslosigkeit veranlagt.

Hamlet hat seine Mutter, seine teure Mutter, die er inniger liebt, als andre Söhne die ihrige lieben, unter der Hand des gekrönten Räubers und Mörders erniedrigt gesehen. Der Hof, wozu ihm der Zutritt offen steht, erschreckt ihn — ungefähr wie in Krasinskis Versuchung (symbolische Darstellung des Hofes zu Petersburg) der Hof den jungen Mann schreckt. Diese Nachkommen Hamlets lassen sich, wie er, weit fort in fremde Lande schicken. Wenn sie sprechen, verstellen sie sich wie er, kleiden ihre Meinung in Gleichnisse und Allegorien, und es gilt von ihnen, was Hamlet über sich zu Laërtes sagt: Nimm dich in acht! denn es liegt etwas Gefährliches in mir.

Wunderbarerweise hat keine der vielfachen Zensuren, denen diese Vorträge unterworfen gewesen, keine der vielen, die ihrem Abhalten vorausgingen und keine der zwei neuen, welche die Ausgabe in Zeitungs- und Buchformat prüften, gegen diese Stelle etwas einzuwenden gefunden.