Ist Polen als Ziel der Aufopferungen wert?

Kraszewski rief einmal während seiner Verbannungszeit aus: „O du Land, das, wenn wir sterben, so manche Erinnerung an uns birgt, o du schönes Land, unsere Mutter! Wenn wir unseren Freunden Lebewohl sagen, bleibt uns die Hoffnung, sie jenseits, im Himmel wiederzusehen. Aber nie, nie sollen wir deine geliebten Landschaften wiedersehen, deine Lindenalleen, deine kleinen Landhäuser, deine Bäche und Flüsse, nie deinen Frühling, der immer so jung war, keine all dieser Erinnerungen. Kann der Himmel wirklich so schön sein, dass er uns dies alles vergessen lässt, oder fließt ein Lethestrom vor der Pforte des Paradieses?"

In diesen Worten eines kindlich Gläubigen, der auf ein Wiedersehen mit den Freunden hofft, aber doch nicht das Wiedersehen des Vaterlandes erwarten kann, liegt ein Empfinden, das, etwas vertieft, weit mehr als jene Worte umfasst.


Wie seltsam ist doch ureigentlich dieses hartnäckige, nationale Streben bei den Polen! Sie kämpfen bis zum Äußersten für die Erhaltung und Entwicklung ihrer Sprache und Volkseigenart, erdulden dafür tausend Qualen. Jeder einzelne von ihnen weiß, dass er sterben wird, aber er will das Bewusstsein haben, dass die Sprache und das Volk ihn überleben, wenn er nichts mehr davon weiß. Selbst diejenigen unter ihnen, die an ein folgendes Leben glauben, bilden sich nicht ein, dass sie in dem anderen Dasein polnisch reden werden. Und die Nichtgläubigen, die für ihre Personen nicht die Vernichtung fürchten, fürchten sie für das ganze Volk, wovon doch jede einzelne Person sterben wird.

Dieses Gefühl gleicht der Schreckempfindung, welche die meisten Menschen ergreift, wenn sie zum ersten Male hören, dass sich der Erdball langsam abkühlt, und einst, in fernen Zeiten eine eiskalte Kugel sein wird, worauf kein Leben gedeihen kann. Sie haben immer gewusst, dass jeder Einzelne des Menschengeschlechtes sterben muss, aber sie wollen, dass das Menschengeschlecht nicht aussterben dürfe. Diese Vorstellung der erstarrten Kugeloberfläche zerstört alle ihre lieben Illusionen vom stets steigenden Kulturfortschritte, jener Religion des Fortschrittes, worin die meisten leben, die die offenbarten Religionen aufgegeben haben; denn noch haben nur wenige begriffen, dass das Ziel der Menschheit nicht in ihrem Ende und Tod liegen kann, falls ihr ein Ende bevorsteht, sondern in ihren höchsten Individualitäten liegen muss. Wenn auch das Menschengeschlecht einmal ausstirbt, ist die wahre Kultur darum nicht weniger wertvoll, nicht weniger des Kämpfens wert. Ihr Wert hängt nicht von der Dauer durch alle Ewigkeiten ab. Es kommt nicht darauf an, ob eine Symphonie lang oder kurz währt, sondern ob sie schön ist. Ihr Wert ist unabhängig von der Zeit, die sie ausfüllt.

Die Polen wissen, wie wir andern, historisch, dass Reiche und Völker in nicht geringer Zahl geblüht haben und zu Grunde gegangen sind, aber sie wollen nicht glauben, dass das Los nun ihr Volk und ihre Sprache getroffen hat, wie stark sie auch von allen Seiten bedrängt werden. Sie wollen für das Leben kämpfen und dies ist, wie auch der Ausfall wird, ihre Ehre.

Bei vielen unter ihnen regt sich natürlich der Zweifel, ob es jemals gelingen wird, sich einer Oberherrschaft zu entreißen, die sich auf ungeheure Heere stützt, ob jemals wieder eine polnische Staatsordnung errichtet und ein Reich gegründet werden kann aus einem Volke, dass nun fast seit einem Jahrhundert jeder Selbstregierung entwöhnt ist. Unumgänglich stellt man die Frage, die ich einmal (in einer Vorrede zu Cherbulicz’s Ladislaus Bolski) so formuliert habe: Ist Polen ein Ideal oder eine Realität? Es konnte nicht bestehen damals, als es bestand, kann es wiedererrichtet werden, nun, da es gefallen ist? Ist dieses Polen, wofür die Polen leben und in den Tod gehen, mehr als eine Abstraktion und ein Hirngespinst? Ist das Ziel der Aufopferungen wert? Oder sind es die Aufopferungen, die dem Ziele seinen Wert geben?

Das Ziel ist wie alle irdische Ziele, nur deutlicher, greifbarer, ein Ideal, d. h. eine Unwirklichkeit, die Vorstellung von einem Gut. Es beweist seine Macht über die Gemüter durch die Stärke, womit es Geschlecht auf Geschlecht zwingt, geistige Güter über materielle zu setzen. Die Opfer, die diesem Ideal gebracht werden, beweisen zwar noch nicht seinen Wert. Aber es ist an und für sich wertvoll, insofern es Charaktere bildet und Talente entwickelt, und unzweifelhaft hat es hochsinnige Gedanken erweckt, heldenmütige Handlungen und eine sowohl reiche als bedeutungsvolle Literatur hervorgerufen. Als Triebkraft ist es eine zivilisatorische Macht; denn es erzeugt stolze, freisinnige Menschen.

Wir sind nicht gewohnt, ein ganzes Volk in einem Streben aufgehen zu sehen, dem von allen Seiten entgegengearbeitet wird, und das gegen das historische Gesetz des Untergangs zu streiten scheint, einem Streben, das nicht nur kraft des Selbsterhaltungstriebes, sondern mehr oder weniger bewusst kraft des Grundgedankens geschieht, dass das Erdenleben mit jeder schwindenden Volksindividualität ärmer und einförmiger wird — ein Streben, das deshalb dennoch vergeblich sein könnte: Nur dass der Untergang Polens nicht gleichbedeutend wäre mit dem Untergange von Assyrien und Ägypten im fernen Altertume; denn politisch gesprochen bedeutet Polen gegenüber Russland und Preußen Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft, das heißt: die Frage, ob diese Mächte siegen oder unterliegen sollen. Polen — das ist die Frage, ob Waffenmacht oder Volkswille in der Weltgeschichte heutzutage das letzte Wort haben. Sollte es definitiv mit Polen aus sein, so würde dieses im Prinzip nicht weniger bedeuten, als dass es mit Europas Freiheit- und Freisinnskultur aus ist. Nach Polen würde ein unabhängiges Land nach dem andern fallen.

Gewinnt jedoch die Freiheitskultur Terrain, so muss auch der Druck, der auf Polen ruht, gehoben werden und die polnische Nationalität eine Gestaltung finden, worunter sie ihr eigenes Leben führen kann. Seit hundert Jahren ist sie nun von drei Großmächten unterjocht worden, hat als Amboss gedient und ohne zermalmt zu werden die ungeheuren Hammerschläge ausgehalten. Es kann nicht noch einmal so lange Zeit währen, bis dem Hämmern Einhalt getan oder bis diese Kultur, die einmal Westeuropas Stolz war, auf immer vernichtet ist.

Wir können keiner Sache auf den Grund sehen. Unser Leben ist eine Erscheinung, wir sind von Erscheinungen und nur von Erscheinungen umringt: Wir sind einander nichts als Bilder. Wenn wir sterben, bleibt das Bild im Bewusstsein der andern zurück, weil es das einzige von uns war, was sich darin fand. Wir wissen auch, dass die Ideale, die man in alten Tagen einem Orte beilegte und zu Eigenschaften einer übernatürlichen Persönlichkeit machte, die höchste Freiheit, die höchste Gerechtigkeit u. s. w. nur bloße Bilder sind, nirgendwo und zu keiner Zeit verwirklicht sind, auch niemals völlig verwirklicht werden; wir wissen, dass sie nur die Existenz haben, die unsere Denk- und Handlungsweise ihnen verleiht. Sie existieren nur, insofern wir sie lieben. Aber wir lieben sie nur, insofern wir für sie arbeiten.

Die höchste Liebe ist ein Schmerz, den wir lindern, indem wir für das, was wir lieben, leben und wirken. Dass das ganze polnische Geistesleben sich um die Frage der polnischen Nationalität dreht, ist also nicht solch eine dürftige Betätigung, wie es scheint; denn nach der geschichtlichen Entwicklung der Verhältnisse ist Polen mit dem Menschenrecht zur bürgerlichen und geistigen Freiheit, mit dem Rechte der Völker zur Unabhängigkeit identisch geworden. Polen ist mit unserer Hoffnung oder unserer Illusion vom Kulturfortschritte unseres Zeitalters verschmolzen. Seine Zukunft fällt mit dem Fortschritte der Zivilisation zusammen. Sein völliger Untergang wäre gleichbedeutend mit dem Siege der modernen, militärischen Barbarei in Europa.