Die seelischen Wirkungen des Zustandes auf die Jugend

Eine wichtige Folge der Zensurinstitution in Polen ist die unaufhörliche Unruhe der Presse und dadurch der Bevölkerung. Da es unmöglich ist, jemals darüber Gewissheit zu erlangen, was im Innenlande gärt, und es unausführbar ist, mitzuteilen, was man weiß oder zu wissen glaubt, werden Stadt und Land von ewigen Gerüchten durchzogen, worin sich die politischen Hoffnungen und Kümmernisse der Bevölkerung spiegeln. Bald heißt es, dass dieser oder jener hochstehende Beamte abberufen ist, weil die Regierung selbst den Druck zu hart finde; man glaubt einen liberaleren Hauch zu verspüren, findet in den zufälligsten Fahrlässigkeiten von Seiten irgend einer Behörde Symptome, dass man in Zukunft vielem durch die Finger sehen werde, was man früher verboten habe. Bald heißt es, dass die gewaltsamsten Zwangsmaßregeln auf dem Stapel stehen, dass bisher unbekannte Gefahren drohen. So wird die Bevölkerung stets wie ein Fieberkranker erschüttert.

Man begreift leicht, in wie hohem Grade eine solche ewige Beunruhigung der Gemüter hemmend auf das Gedeihen und die Entwickelung des Geisteslebens wirkt. Von den Wissenschaften können nur die exakten gedeihen. Besonders hoch steht die Medizin. Dr. Tytus Chalubinski, ein Greis, dessen Gesichtsausdruck schon den Stempel der Genialität trägt, hat lange als Polens erster Arzt gegolten; nach ihm ist Baranowski der angesehenste. Historische und politische Literatur steht naturnotwendig augenblicklich zurück. Zur Zeit besitzt Russisch-Polen keinen Geschichtsschreiber ersten Ranges. In der neueren historischen Literatur ist wohl der kürzlich verstorbene Szujski am bedeutendsten, und als Essayist der europäisch bekannte Julian Klaczko; beide haben in Österreich gelebt und gewirkt. In der Literaturgeschichte ist ein nüchterner Forschergeist vorherrschend. Man nähert sich deutscher Methode und deutschem Stil. Polens erster und ausgezeichneter Literarhistoriker Spasowicz, der zugleich einer der berühmtesten Advokaten des russischen Reiches ist, hat, weil er in Russland lebt und schreibt, sich in allen Fragen, die ans Politische streifen, eine Vorsicht aneignen müssen, die sein Hauptwerk: „Die Geschichte der polnischen Literatur", weniger unterhaltend macht, als es sonst geschehen wäre. Der angesehenste Kritiker, Professor Tarnowski in Krakau, ist ein romantisch gesinnter Akademiker der alten Schule, dessen Tendenz mit den Jahren stets ultra-katholischer geworden. Der Ultramontanismus in Krakau wirkt fast so hemmend wie der Regierungsdruck in Warschau. Und wenn Tarnowski als Vorleser in Warschau auftritt, vermag er nur durch eine rein äußerliche und formelle Beredsamkeit zu wirken.


Es ist überhaupt ein Aberglaube, den man aufgeben sollte, dass rohe, äußerliche Gewaltmittel unwirksam seien, wenn es sich darum handelt, einen Volksgeist zu brechen und zu zerstören.

Die Zensur ist nur noch das geistigste der brutalen Mittel, das die Machthaber hierzu besitzen.

Ein weniger geistiges und noch wirksameres sind die Konfiskationen. Nach dem Aufstand von 1863 hatte man allen Grund und Boden der Gutsbesitzer konfisziert, die daran teilgenommen oder in Verdacht standen, ihm Sympathie und Beistand geschenkt zu haben. Ich kenne einen Mann aus altem litauischem Fürstengeschlechte, der ein fürstliches Vermögen besaß, und der nun nach einem zwanzigjährigem Aufenthalte in Sibirien genötigt ist, von einer kleinen Stellung in einem Bankhause zu leben. Ich kenne eine Dame, die Erbin eines Besitztums im Werte von Millionen von Rubeln war, der man jedoch ihr Erbe unter dem Vorwand nahm, dass Bauern auf dem Gute ihres Onkels aufrührerischen Rotten Lebensmittel verabreicht hatten.

Diese Konfiskation von Grund und Boden ist natürlich nicht von entscheidender Bedeutung, solange der Bauer dort verweilt und polnisch gesinnt bleibt. Aber Russland sucht den Bauer auf jede Weise zu gewinnen. Man hat die Leibeigenschaft aufgehoben, — als die Polen selbst diese Aufhebung ins Werk gesetzt hatten (bei der Verfassung vom 3. Mai 1791), wurde sie von den Russen außer Kraft gesetzt, und man hat in reichem Masse den alten Hass der Bauern wider ihre Herren ausgenutzt. Und wenn die Weichselüberschwemmungen das Land verheeren, reist die Generalin Gurko umher und verteilt Hunderttausende von Rubeln, welche die kaiserliche Blasse hergibt, an die Bauern, die mit der Wohltat zugleich eine Aufforderung erhalten, Dankbarkeit zu hegen gegen den Zaren, ihren Vater, — eine Aufforderung, die oft Erfolg hat.

Auch die Verbannung nach Sibirien ist ein kräftiges Wirkungsmittel. Es herrscht kein Zweifel, dass die Blüte einer ganzen Generation, derjenigen der jüngsten polnischen Vergangenheit, fast alle die Männer, welche sich am meisten durch Mut, Verstand und Begeisterung auszeichneten, dort oben gestorben sind. Diejenigen, die zurückgekehrt sind, haben oft ihren Scharfblick verloren. Sie sind nicht selten auf dem Punkte stehen geblieben, auf dem sie standen, als sie Polen verließen. Als Beispiel könnte ich zwei Schriftsteller nennen. In der Redaktion der Gazeta Polska sitzen Hänckel, der mit vier anderen an eine Eisenstange gefesselt, während zweier Winter und eines Sommers zu Fuß nach Irkutsk wandern musste, wo er zehn Jahre blieb, und Boguslawski, der den gleichen Zeitraum dort aushalten musste. Sie sind tüchtige Schriftsteller, aber unverbesserliche Romantiker. Moderne Menschen werden sie nie.

Und schon die schreckliche Rechtsunsicherheit wirkt untergrabend. Vor einigen Wochen kam ein junger Mann nach zweijähriger Verbannung zurück. Sein Vergehen war, dass er am Tage, nachdem Apuschtin die zuvor erwähnte Ohrfeige von einem verbitterten Studenten erhalten, einer Zeitung 25 Rubel zu einem wohltätigen Zweck mit den Worten geschickt hatte: Aus Anlass einer glücklichen Begebenheit. Es nützte ihm nichts, dass sein Bruder den Tag zuvor nachweisbar einen Sohn erhalten hatte, — man wollte nicht glauben, dass dies die Begebenheit war, worauf er anspielte er wurde fortgeschickt. Körperlich hatte er nicht gelitten. Er kehrte, wie so viele Sibiriaken, frisch und mit roten Wangen zurück; aber er war vorsichtig geworden, sehr konservativ in allen Äußerungen, und wollte sich nicht darauf einlassen, seine Verurteilung zu kritisieren.

Als der bekannte Szymanowski, Dichter und Herausgeber des Courier Warszawsky, neulich totkrank lag, besuchte ich ihn. Er erzählte von dem Schreck, den er ausgestanden hatte, als man des Nachts kurz zuvor an dem Haustore geläutet hatte. Er erinnerte sich da jener Nacht vor zehn Jahren, als die Gendarmen kamen, ihn zwangen aufzustehen und in einem Schlitten fortführten. Wessen man ihn beschuldigte, wusste er nicht. Seine Familie erfuhr erst spät seinen Aufenthaltsort. Als er nach Verlauf einiger Monate freigegeben wurde, erfuhr er nicht gleichzeitig, was er verbrochen hatte, und wusste es auch heutigen Tages noch nicht. Und Szymanowski hat Zeit seines Lebens den ruhigsten Konservatismus vertreten.

Man bedenke nun die seelischen Wirkungen dieses Allgemeinzustandes auf das ganze junge Geschlecht. Es ist nun schon so weit in Russisch-Polen gekommen, dass mancher junge Jurist oder Mediziner von alter polnischer Familie besser Russisch als Polnisch redet, ja seine Muttersprache mit fremder Betonung spricht. Es gibt z. B. folgenden Fall: Der junge Mann hat in Petersburg studiert. Er hat keineswegs seine Nationalität aufgegeben, aber er verkehrte mit Russen, musste mit ihnen kameradschaftlich verkehren. Nun kehrt er nach Warschau zurück, wo ein Pole niemals mit einem Russen verkehrt, sondern die Nationalitäten wie Öl und Wasser geschieden sind. Es kommt ihm unnatürlich vor, dass seine Mutter und Schwester sich dagegen auflehnen, dass er dem Generalgouverneur Visite macht. Sie leben ein anderes Gefühlsleben, führen eine andere Sprache wie er. Der Nerv der nationalen Entrüstung ist bei ihm stumpf geworden. Außerdem sind praktische Rücksichten zu nehmen; macht er keine Zugeständnisse, so weiß er genau, dass, er nie auch nur das untergeordnetste Amt in Polen erhalten und es nie erreichen wird, in Einer Stadt mit seiner Mutter zu leben. Er kann Anwalt in Riga oder Amtsrichter in Kazan werden, aber nie eine Stellung in Warschau erhalten, wenn er Trotz bietet.

Die sprachliche Unterdrückung ist ebenfalls wirksam. Als kürzlich bei einer von Privaten ausgeschriebenen Preiskonkurrenz für das beste Drama der Gewinner Koslowski durch die Reinheit und Kraft der Sprache Aufsehen erregte, hörte man, wie mit nicht wenig Stolz und Freude überall hervorgehoben wurde, dass ein junger Mann von 25 Jahren, der also unter der neuesten Schulordnung erzogen war, solch ein schönes Polnisch schrieb, ein Slowacki-Polnisch. Man hegt also schon durchgehends die Furcht, dass das junge Geschlecht die Muttersprache nicht mehr werde rein schreiben können.

.Die Versuchung, den Russen einige Zugeständnisse zu machen, ist, wie schon angedeutet, groß. Es ist außerdem oft schwierig, eine entschiedene Grenze zwischen Russisch und Polnisch zu ziehen. Sind die Russen auch nicht in der Gesellschaft aufgenommen, so ist es doch fast unmöglich, die einzelnen Polen auszuschließen, die entweder wirklich servil sind oder doch im Verdachte der Servilität stehen. Die Polen, die Ämter erhalten haben, werden zuweilen nur Beamte, loyale Beamte. Von manch einem, der als polnischer Patriot gelten will, sagt man, dass er misslungene Schritte getan hat, um den Titel eines kaiserlichen Kammerjunkers zu erhalten. Zuweilen ist in Einer Familie der Vater eifriger Pole, der Sohn politisch gleichgültig, also eher russisch gesinnt. Manch einer, dessen Sohn als Held während des Aufstands gefallen ist, ist, wie der Theaterpräsident Gudowski, nun eine Stütze des Thrones.

Es gibt auch Grenzen, die der passive Widerstand nicht überschreiten kann. Da das Theater die letzte Stätte ist, wo polnisch gesprochen wird, hat man selbstverständlich große Angst vor russischen Aufführungen auf der Nationalbühne. Es sollte denn ganz einfach scheinen, dass, wenn eine russische Truppe ankommt, nicht nur alle Polen zu Hause bleiben, sondern dass auch die polnische Presse diese Theater-Aufführungen nicht bespreche. Doch ganz so einfach ist es nicht. Man gibt allen polnischen Gymnasiasten und Beamten Freibillete und zwingt sie zu gehen. Die Zensur verlangt, dass die Vorstellungen besprochen werden, und geschieht dies nicht — z. B. mit der Entschuldigung, dass niemand auf der Redaktion des Blattes Russisch versteht — so legen die Zensoren der Zeitung große Hindernisse in den Weg; sie streichen so rücksichtslos, dass man nachgeben muss. Der Widerstand, den die Presse erheben kann, wird augenblicklich gebrochen.

Und dauernd schwebt die Gefahr über Russisch-Polen, dass die Regierung eines schönen Tages das Theater in Warschau schließt, und die weitere Gefahr, dass die Regierung den Zeitungen befehle, mit doppeltem Texte, russisch und polnisch, herauszukommen. Dann müssen diese bald eingehen, und die Sprache verstummt.

So schwach ist das unglückliche Polen geworden, dass man sich schon mit der Freude begnügt, nicht ganz vergessen zu sein. Man ist zufrieden, wenn ein polnischer Tenor, wie Mierczewinski, Aufsehen erregt.

Dann wird doch der Name Polens genannt. Man freut sich, wenn ein Mann mit dem polnischen Namen Rogoszynski (komischerweise eigentlich: Schulze) eine Entdeckungsreise nach Afrika unternimmt, obgleich er ganz unfähig war, nur den geringsten Streifen Land in polnischen Besitz zu nehmen — weil es kein Polen gibt — und noch dazu auf Bismarcks Befehl verhaftet und auf einem deutschen Kriegsschiff fortgeführt wurde.

So niederdrückend wirkt eine Fremdherrschaft.

Und doch bereitet selbst diese konsequente Unterdrückung der Nationalität, die sie vernichten will, Nutzen.

Die Bauern erwachen. Sie lernen ohne Lehrer in polnischen Gebetbüchern lesen. Sie legen Geld zusammen und bezahlen davon einen Schullehrer, damit er ihnen privat jeden nötigen Unterricht in der Rechtschreibung ihrer verbotenen Sprache gebe. Besonders die religiöse Verfolgung erweckt sie und macht sie zu bewussten Polen. Vor dem preußischen Kulturkämpfe fühlten sie sich in Posen nicht als Polen; vor den Verfolgungen der Uniierten nicht als Polen in Russisch-Polen. Wenn die Polizei, wie in diesem Jahre in Lublin, gegen die uniierten Priester einschreitet, vermehrt und hebt sie das Nationalbewusstsein in einer ganzen Provinz.

Es ist ferner kein unbedingt ungünstiges Verhältnis, dass fast kein Pole Beamter werden kann und fast keiner Offizier wird. Es hat die gute Wirkung gehabt, die Polen auf die ihnen so fremden Wege des Handels und der Industrie zu fuhren, hat viel dazu beigetragen, den Beginn eines produktiv arbeitenden Bürgerstandes zu schaffen. Es hat außerdem nicht wenig auf den Aufschwung des Ackerbaus eingewirkt.

Und doch kommen selbstverständlich diese guten Wirkungen wenig oder verhältnismäßig wenig in Betracht, im Vergleiche zu den zerstörenden. Länger als noch etwa 100 Jahre scheint Polen diesen Druck nicht aushalten zu können. Aber wenn man ein Volk materiell und geistig unter so ungeheuren Hindernissen leben sieht, wenn man mit Interesse seinem Lebensgange und seine Geistesentwicklung folgt, die unter solchen Verhältnissen stattfindet, — so liegt nahe sich zu fragen, ob das Volk, dem man selbst angehört und dessen Lebenslos den Polen beneidenswert erscheint, die im Vergleiche himmlischen Bedingungen, unter denen es lebt, benutzt hat, wie es konnte und sollte? Und wenn man sieht, wie weit die Polen es bringen, so stutzt man angesichts eines Volkes wie des dänischen, das alles besessen hat, was den Polen mangelt und fehlt: Unabhängigkeit des Landes, Verfassung, Pressfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht, sein Geld nach Belieben zu verwenden, die Staatsmacht in seiner Hand, das Heer in seinem Dienste, offener Zugang zum Meere wie zu allen Gütern der Freiheit — dass ein solches Volk ein so wenig reiches, ein verhältnismäßig so inhalt- und formloses Leben geführt hat und sich so viele seiner besten Vorteile entreißen ließ, ohne dass irgend ein Fremder die geringste Schuld daran trägt.

"Wie sanguinisch auch das Temperament der Polen ist, so liegt doch das nach menschlichem Ermessen Aussichtslose ihrer Lage, wie ein Alp auf ihren Gemütern. Man erblickt ja keine andere Aussicht, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszukommen, als die äußerst unbestimmte, die sich in den Möglichkeiten eines großen Krieges zwischen Russland einerseits, Deutschland und Österreich andererseits eröffnen könnte. Nicht, dass man den Wunsch hegt, das russische Regiment mit dem deutschen zu vertauschen, obgleich dieses viel humaner ist — es erscheint zum Entgelt gefährlicher und unabschüttelbarer. Wenn die Hoffnungen eine bestimmtere Sichtung annehmen, gründen sie sich eher auf die Errichtung einer großen slawischen Macht unter Österreichs Führung, wobei den Polen in dem dazu gehörenden Teil ihres Vaterlandes eine Hauptrolle zufallen würde. Festere Formen können diese Zukunftsträume bei den Entwickelteren und Erfahreneren nicht annehmen.

Aber man irrt sich kaum in der Auffassung, dass bei der großen Mehrzahl der Durchschnittsgebildeten der Glaube an die Wiedererrichtung des alten polnischen Reiches in einer nicht allzu fernen Zukunft noch immer wie eine Religion lebt.