Polen und Frankreich. Polen und Deutschland.

„Gestehen Sie zu, dass die polnische Küche vortrefflich ist“, sagte Frau Halina.

„Das gebe ich zu, ich glaube, sie ist die beste der Welt.“


„Dass alle unsere Gerichte originell sind!"

„Zugestanden, sie schmecken gut, und man weiß in der Regel nie, was man isst.“

„Gestehen Sie zu, dass unser Boden fruchtbarer als anderer Boden ist, dass unsere Landschaften Stil und Anmut und den weitesten Horizont haben.“

„Zugestanden, selbst die Flachheit ist hier grandios."

„Geben Sie zu, dass unsere Sprache biegsam und schön ist, geschmeidig und weich, wohlklingend und üppig, wenn sie auch nicht den wechselnden Gesang des Russischen besitzt. „

„Zugestanden, ihr Klang gewinnt Herzen.“

„Gestehen Sie zu, dass niemand so tanzt, wie wir tanzen. Gibt es einen Tanz wie unsere Mazurka?“

„Ich bin zwar nicht ganz kompetent, aber ich bin geneigt, von der polnischen Tanzkunst das Beste zu glauben. Man findet nicht leicht ein ähnliches Ballett wie das in Warschau.“

„Gestehen Sie zu, dass unsere Frauen schön sind!"

„Schön und wohlgekleidet. Wer zweifelt daran?*

„Gestehen Sie zu, dass unsere Männer intelligent und gastfrei sind?“

„Das sind sie, aber was wollen Sie mit all diesen Zugeständnissen?"

„Gestehen Sie zu, dass uns von der Natur alle Bedingungen eines glücklichen Volkes verliehen sind. Wir sind lebensfroh, leichtlebig und haben allesamt einen Funken von Phantasterei — warum sind wir denn das unglücklichste Volk der Erde geworden? Oder hat jemals in der Weltgeschichte ein so unglückliches Volk, wie das unsrige, existiert?"

„Ich bezweifle es, es sei denn, dass man des jüdischen Volkes gedenkt, das nicht mehr ein Volk ist.“

„Ist es nun nicht unglaublich, unmenschlich, dass das ganze Europa das Interesse an uns verloren hat, dass niemand, niemand unseretwegen einen Finger rührt. Von den Teilungsmächten ist nicht zu reden. Aber ist es nicht eine Schmach, Frankreich vor unseren Tyrannen auf dem Bauche zu sehen, Frankreich, das wir verehrt, wofür wir gekämpft und geblutet haben?"

Bei jedem Polen und bei jeder polnischen Frau findet man diesen Schmerz über die untertänig-enthusiastische Haltung Frankreichs Russland gegenüber. Nirgends kennt man Frankreich besser als hier; man ist französisch erzogen, spricht französisch als zweite Muttersprache, liest und schätzt französische Bücher mehr als die aller anderen Länder. Die Selbstdemütigung Frankreichs vor Russland hat gerade deshalb so tief verletzt.

Kein Volk der Welt hat ähnlich an Frankreich geglaubt und sich für Frankreich geopfert wie das polnische. Man lese Henri Houssaye's „1814". So oft es zum Äußersten kommt, sobald es einen verzweifelten Angriff oder die persönliche Bettung des Kaisers betrifft, müssen die polnischen Lanzeniere herbei. Sie und die alte Garde sind immer die letzte Hoffnung; sie versagen nie.

Eine polnische Frau, sogar eine Frau, die Napoleon nicht gewonnen, sondern überrumpelt hatte, und deren Bewunderung nie zur Liebe wurde, war die einzige, die ihn nach seinem Fall auf Elba besuchte.

Jetzt ist Polen von dem französischen Volk so vergessen, dass sein Name nie genannt wird. Man weiß nichts von den Polen, und es ist unmöglich, nur einen Artikel über ihre Leiden in einer französischen Revue aufgenommen zu bekommen. „Voll wie ein Pole" (soûl comme un Polonais) ist die einzige Erinnerung an Polen, die heutigen Tages als Redensart übrig geblieben ist; sie entspricht der deutschen Redensart „polnische Wirtschaft".

Wir haben erlebt, dass wir in den französischen Blättern anlässlich der häufigen Ministerwechsel lasen: „Was müssen unsere Freunde, die Russen, von uns denken, von diesen Ministerien, die jedes Jahr wechseln, ja mehrere Male im Jahre! Dort bleiben die Minister ununterbrochen 20 und 30 Jahre." Würden die Franzosen nur ein halbes Jahr wie Russisch-Polen regiert, so würde dies unzweifelhaft ihre russischen Schwärmereien ein wenig beruhigen.

Was würden Franzosen sagen, wenn in allen Schulen Frankreichs unbedingt verboten wäre, französischen Unterricht zu erteilen! Oder wenn allen Schulkindern aufs Strengste verboten wäre, sogar in den Schulpausen oder auf der Straße sich mit einander in ihrer Muttersprache zu unterhalten! Das ist aber gerade den polnischen Kindern verboten.

Oder wenn in dem geschichtlichen Unterrichte der Name des Vaterlandes nie genannt, seine Geschichte als nicht gewesen betrachtet und alle Kraft und Anstrengung angewandt würde, die unendlich idealisierte Geschichte eines fremden Volkes den Kindern einzuprägen! Falls Elsass und Lothringens Los, nur hundertmal verschlimmert, das Los von ganz Frankreich würde!

Man hat in diesem Sommer hier allen jungen Leuten, die über die Grenze wollten, den Pass verweigert. Was würde eine französische Dame sagen, wenn .sie mit ihrem kleinen Sohne nicht über die Grenze kommen könnte? Wäre sie Polin, so müsste sie, wie eine mir bekannte junge Mutter, schön zu Hause bleiben. Man fürchtete hier, dass die Jugend zur Ausstellung nach Lemberg reisen, Zeuge politischer Demonstrationen werden, polnische Reden und Lieder hören würde, und man verhinderte dies einfach durch Passverweigerung. — Was würde wohl ein Franzose sagen, wenn ihm der Zutritt zu allen Ämtern und einträglichen Stellungen, zum Heere und der Marine und der höheren Administration verschlossen wäre; wenn ihm der Staat nie eine höhere Stellung als bis zu 1.000 Rubeln gäbe. Das ist hier der Fall. Kein Pole erhält irgend eine bessere Anstellung.

Als der Staat kürzlich die privaten Eisenbahnen in Polen ankaufte, wurde das ganze polnische Personal ohne Ausnahme verabschiedet; hunderte von Familien wurden brotlos. Und im Postetat hört wie überall das Avancement des Polen bei dem Gehalte von 1.000 Rubeln auf.

Was würden die Franzosen sagen, wenn jede Zeile, die bei ihnen für eine Zeitung geschrieben, erst zur Prüfung auf eine Regierungszensur wandern müsse, und wenn die Schriftsteller für das, was sie zu schreiben beabsichtigt hatten, aber was nie gedruckt wurde, zu Strafen verurteilt würden! Und das ist hier der Fall.

Was würden sie sagen, wenn sie ein für allemal in ihren Theatern darauf verzichten müssten, sowohl Sommerwie Winterrevuen zu sehen! Aber hier sind keine „Revuen" möglich oder denkbar. Die' Ereignisse des Jahres durchzugehen! Was sollten das für Ereignisse sein? Es gibt keine öffentlichen Persönlichkeiten mit Ausnahme der Beamten, und ihre Namen dürfen nicht genannt werden, an ihr Thun darf nicht gerührt werden, nicht einmal in einem Zeitungsartikel, viel weniger auf der Bühne. Reichstag, Versammlungen, Zusammenkünfte und dergleichen, die Stoff zum Scherz geben, existieren ja nicht. Das einzige, was man behandeln dürfte, wäre vielleicht der rein private Skandal, aber man ist hier nicht gemein, und eine Zeitung, entsprechend den dänischen „Witzblättern", gibt es in Polen nicht, nicht einmal in Galizien, wo die persönliche Polemik doch in Blüte steht.

Was würden die französischen Arbeiter sagen, wenn es ihnen unbedingt verboten wäre, irgendeinen Verein zu gründen, irgendeine Verbindung zu haben? Wenn nicht nur ein Strike eine bisher undenkbare Sache, sondern, wenn es ihnen unmöglich wäre, jemals über ihre Interessen zu beratschlagen. Aber gerade das wäre ihnen unmöglich, wenn sie russisch regiert würden. Und es würde ihnen wenig nützen, wenn sie im Namen der Versammlungsfreiheit protestieren wollten: denn die Versammlungsfreiheit ist ein Ding, das man hier nicht kennt.

Was würden endlich die gläubigen Katholiken in Frankreich sagen, wenn sie unter die Herrschaft des russischen Zar-Papstes kämen? Wenn ab und zu (wie in diesem Frühjahr im Dorfe Kroze) eine Kirche, die man russifizieren will, umringt wird und die Bauern, die sie nicht aufgeben und sie nicht verlassen wollen, von den Kosaken und dem Militär niedergeschossen werden, wenn ferner über die Überlebenden die Knute geschwungen wird und das Blut fließt, so geht diese Nachricht ein paar Tage lang durch die europäischen Blätter und man gibt sich damit zufrieden, dass solche Zustände eine Ausnahme sind. Aber die tägliche, unverdrossene Plackerei wird nie erwähnt. Krasinski hat seiner Zeit Polen das Land der Gräber und der Kreuze genannt. Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten der polnischen Landschaft sind die hohen Holzkreuze, die überall errichtet und eingezäunt sind. Es sind keine Kruzifixe wie in Italien und Tirol, sondern einfache Kreuze. Wenn nun solch ein Kreuz zerfallt oder zerbröckelt, glaubt man da, dass man es wieder herrichten darf? Nicht ohne Erlaubnis der Regierung, und darauf kann man warten. Vor zwei Jahren schlug hier auf dem Felde der Blitz in solch ein Kreuz. Nun steht es schon zwei Jahre zerbrochen dort, man darf es nicht reparieren lassen, weil man in den Regierungsbureaux in Petersburg noch nicht die Bewilligung dazu ausgefertigt hat. Ja, wenn es ein Andreaskreuz wäre! Aber jenes wird als ein römisch-katholisches Symbol aufgefasst. — Selbst die Kreuze scheut man unter diesem Regiment und fürchtet sie als Aufruhr-Zeichen. Das Land der Kreuze und der Gräber! Beschränkt man auch die Zahl der Kreuze nach Kräften, so gestattet man wenigstens den Gräbern, sich frei zu vermehren. 1831 lautete das russische Bulletin: L’ordre règne à Varsovie. Nun herrscht nicht mehr die Ordnung, sondern die Cholera, freilich nicht in den russischen Bulletins. Die Regierung denkt pädagogisch, gibt die Zahl der Kranken und Toten je nach Gefallen an, so dass man sich im Auslande und Europa darüber beruhigt.

Um zwei kleine Städte dieser Gegend hat man einen Militärkordon gezogen; niemand kommt aus noch ein, und die Eingeschlossenen sterben wie Fliegen. Am Umfange des Unglückes trägt nicht nur die Armut der Bevölkerung, sondern noch mehr ihre Unwissenheit die Schuld. Sowie die Cholera kommt, ist es unmöglich, dem Proletarier mit Vernunft zuzusprechen, ja es ist unmöglich, ihm Medizin einzugeben. Es ist unmöglich, die Bauern oder die Domestiken vom Obstgenuss abzuhalten: Die Cholera ist ein Schicksal, sagen sie, der, dem sie bestimmt ist, bekommt sie. Und es ist zu dieser Zeit unbedingt unmöglich, irgend einem Erkrankten, was ihm auch fehlen möge, einen Tropfen Arznei einzuflößen. Sie bilden sich ein, dass man sich der Kranken schnell entledigen wolle und sind überzeugt, alles sei Gift, was ihnen von fremder Hand gereicht wird. Keine Überredung kann diese Vorstellung verdrängen.

Aber wer trägt die Schuld all dieser Unwissenheit?

Vor einem Menschenalter ruhte die Hoffnung der Polen auf Frankreich. Diese Zeit ist gründlich vorüber. Damals bestand die Politik der Polen auch in Österreich und Preußen in einer ganz unfruchtbaren Opposition. Was die Begierungen auch vorschlugen, die polnischen Deputierten sagten nein. In Österreich änderte sich zuerst dieser Zustand. Die Polen erhielten Rede- und Handlungsfreiheit, begegneten Sympathien, erhielten nach und nach auch Macht und fühlten sich nun zufrieden. In Preußen beharrte man dagegen beim alten System. Als die Polen unter Wilhelm I. mit Sicherheit auf Unwillen und Unterdrückung der Regierung zählen konnten, beschränkte sich ihre Wirksamkeit im deutschen Reichstage natürlich in der Abstimmung immer auf „nein". Sie sprachen fast nie, da sie die Nutzlosigkeit wohl erkannten, außerdem waren sie schlechte Redner. — Erst als Josef Koscielski Mitglied des Reichstages und Herrenhauses wurde, veränderte er diese Taktik. Er unterhielt in Berlin freundschaftliche Beziehungen zu der Bismarckschen Familie und ertrug die Unzufriedenheit, die er darüber bei seinen Landsleuten erregte. Er trat im Reichstage als Redner auf und gewann durch seine Beredsamkeit das Ohr der Kammer. Nach Bismarcks Sturz wurde er vielleicht noch beliebter bei dem jungen Kaiser, als früher im Bismarckschen Hause. Er und seine junge Frau wurden zum Mittagessen allein mit dem Kaiser und der Kaiserin eingeladen, und selbst jetzt, nach seinem Zurücktreten vom politischen Schauplatze, ladet die Kaiserfamilie ihn und die Seinigen zu sich ein.

Koscielski kam den Wünschen des Kaisers entgegen, soweit es ihm nur möglich war, und bewog die polnische Partei mit ihm zu stimmen. So hat er für die Marinebewilligungen gestimmt und hierdurch den Kaiser in solchem Maße verpflichtet, dass dieser ihm zum Dank einen hohen Orden schickte. Dagegen erhielten die Polen, wie bekannt, große Zugeständnisse doppelter Art in Bezug auf ihre Sprache und ihre Kirche. Zum ersten Male nach langer Zeit wurde ein Erzbischof nach ihrem Herzen ernannt. Und dafür hatten sie Koscielski zu danken. Es konnte darüber kein Zweifel sein, dass seine gewinnende Persönlichkeit und sein politischer Takt ihnen mehr Terrain erobert hatte, als sie seit Friedrich Wilhelm IV. Tage gehabt hatten, während ihnen die Bewilligung einiger Schiffe zur Flotte nicht den geringsten Schaden verursachte.

Doch Taktiker sind die Polen nie gewesen, und Koscielski erntete durch seine Taktik statt Popularität Geringschätzung. Er hieß in der Folge nur noch Admiralski. Das war ein Spitzname, den jeder verstehen und dessen Witz jeder begreifen konnte. So oft er später für eine Regierungsvorlage stimmte, verdächtigte man ihn. Er hat, wie alle Polen, eine gewisse Liebe zum Glanz und er war vielleicht nicht ganz unempfindlich für die Artigkeiten, die ihm am Hofe erwiesen wurden. Die Polen ließen ihn immer wieder hören, dass nur seine persönliche Eitelkeit in seinem Berliner Wirken Nahrung finde und dass er die Interessen Polens den seinen opfere. So legte er im Frühjahr sein Mandat nieder.

Er hatte richtig eingesehen, dass die Polen, seit sie nichts mehr von Frankreich zu hoffen haben, in Güte versuchen müssen, Zugeständnisse von Deutschland, zu erhalten.