Eine alltägliche Begebenheit, die den Zustand illustriert

Eine an sich unbedeutende Begebenheit, die wir gestern Abend erlebten, wirft für mich das stärkste Licht auf die Lage des Teiles der Bevölkerung, deren Mut zu brechen für die Russen von Interesse ist, und beleuchtet gleichzeitig das Verhältnis der Bessergestellten zum Volke in vielen Gegenden.

Wir folgten einer Einladung und fuhren zum Abendessen nach P. Wir waren vierzehn zu Tisch, die alten W., der Sohn und seine junge englisch aussehende Frau, deren Schwester und Brüder, die Töchter des Hauses und noch ein Paar geladene Gäste. Bei Tische geschah es, dass einer der Diener, der die Teller aufsetzen sollte, sie vor jedem Platz in solch lärmender Weise schwang, dass die Gespräche dadurch unterbrochen wurden. Einige meinten, dass er zu viel getrunken habe, andere glaubten, dass er in naiver Art dafür Sorge trug, dass das vergoldete W. auf allen Tellern gerade vor den Gast zu stehen komme — darauf hatte er nämlich geachtet — bald sprachen wir auch von anderen Dingen. Aber kaum waren wir von Tisch aufgestanden und in das Nebenzimmer gegangen, so hörten wir entsetzliches Geschrei. Der Diener war, augenscheinlich in einem Anfall von Alkoholismus, plötzlich toll geworden, hatte in der Küche ein langes Messer ergriffen und warf sich damit über den Türhüter. Man nahm ihm das Messer, aber er fuhr fort zu rasen, zu schreien und zu lärmen, lief hin und her in dem großen offenen Vestibüle, blieb nur ab und zu stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, schrie und drohte dann von neuem und begann die Anwesenden auf Russisch auszuschimpfen. (Er hatte früher in einem russischen Hause gedient.) Sein Auftreten war so unheimlich, und es schien so unvernünftig, ihn die Nacht im Hause zu behalten, dass man sich darüber einigte, nach der Polizei zu schicken. Allerdings ist auf dem Lande das nächste Polizeibureau oft weit entfernt, und selbst im scharfen Trabe konnte es erst nach Verlauf einer halben Stunde erreicht werden. Es währte auch volle zwei Stunden bis der Polizist ankam.


Es wurde notwendig, im Hausflur hin- und herzugehen, um auf den Tollen Acht zu geben, der uns übrigens durch seine Unruhe viel zu schaffen machte, indem er von einem Zimmer ins andere lief. Ich machte einen der jungen Herren darauf aufmerksam, dass der verrückte Mensch sich einem Schranke nähere; er erwiderte, dass es der eigene Schrank des Dieners sei, und er beobachtete ihn deshalb nicht genügend. — Ah, sagte er, da nahm er einen Revolver aus dem Schranke; er gehört meinem Bruder, der Bursch muss ihn aus der Tasche seines Überrockes gestohlen haben; sagen Sie es aber nicht den Damen!

Diese sahen jedoch bald selbst, dass der Tolle mit dem geladenen Revolver in der Hand hin- und herfuhr, und einige waren sehr ängstlich. Plötzlich fiel ein Schuss, und bleich wie Leichen stürzten zwei Dienstmädchen in das Zimmer und riefen: Er hat gefeuert! Alle eilten aus dem Zimmer, einige, um ihn anzuhalten, andere, um Deckung zu suchen.

Es wurde aufgeklärt, dass der betreffende Diener, der überhaupt erst einen Monat und sechs Tage im Dienste war (vom 1. August ab), nicht nur jetzt zügellos, sondern überhaupt ein gefährlicher Mensch war. Die Mädchen erzählten, dass er am vorigen Sonntage, als die Herrschaft fort war, den anderen Dienern entwickelt habe, dass man das Gut anstecken und wenn möglich die ganze Familie verbrennen müsse. Immer wieder war er auf solche Äußerungen zurückgekommen.

Der Herr des Hauses hatte nach nicht weniger als fünf seiner Bauern geschickt, damit sie sich des Barschen bemächtigen sollten. Aber sie wollten keinen Finger dazu rühren. Sie sahen unheimlich feindselig und gehässig aus. Sie werden in der letzten Zeit sehr stark von Agitatoren bearbeitet; man hetzt sie gegen die Gutsherren und deren Familie auf, und so oft es diesen schlimm ergeht, sehen sie mit wahrer Schadenfreude zu. Die Russen benutzen diese Stimmung und schüren sie auf jede Weise. Man braucht nur einen Spaziergang auf dem Lande zu machen, um die Gesinnung der Bauern zu bemerken. Alle älteren Bauern grüßen höflich und murmeln die Formel: Niech bendzie pochevalowy, d. h.: Er (Christus) sei gelobt, worauf die Antwort folgt: Na wieki, (in alle Ewigkeit); die jüngeren Bauern grüßen niemals. — Schon vor vielen Jahren, wenn man unter jungen Dänen die Möglichkeit einer Revolution in Russland erwog, sagte ich: „Eine schöne Revolution, die daraus bestehen wird, dass die Bauern die Häuser über den Köpfen der freisinnigen Gutsbesitzer anstecken werden." — Meine Ansicht wurde aufs neue bestätigt.

Der Vorschlag, dass wir uns selbst des Verrückten bemächtigen sollten, erweckte eine unwillige Verwunderung, die sehr lehrreich für mich war. „Dann wird die Polizei Partei gegen uns nehmen und wir, nicht er, werden arretiert."

Da er jedoch wieder feuern wollte, warf sich der Kutscher, der mehr Energie als die Herren hatte, über den Kerl, und obgleich ihn sechs Männer nur mit Anstrengung hielten, konnte man doch seine Arme auf den Rücken binden. Dann brachte man — aus Angst vor der Polizei — eine gute, weiche Bettdecke, worauf er gelegt wurde, während er unablässlich wütete und schimpfte.

Eine Pause, Wagengerassel; der russische Polizist kommt an. Unmilitärische Gestalt in Uniform, Brille, langes, schwarzes, zurückgestrichenes Haar, im Gesichtsausdruck liegt Stumpfheit, Verschlossenheit, Kleinlichkeit, Pedanterie. Er beginnt damit, die Zeugen verhören zu wollen. Aber aus Angst vor der Rache des Dieners, wenn er wieder loskommt, will keiner zeugen. Der Türhüter weiß nicht, dass er mit einem Messer überfallen wurde, die Mädchen haben den Tollen nie Drohungen ausstoßen hören. Den Revolver hat er weit hinaus in die Büsche des Gartens geschleudert; die Waffe kann im Finstern nicht so schnell gefunden werden. Es zeigt sich schon, dass die Herrschaft, die den Knecht hat binden lassen, der einzig schuldige Teil sei.

Man bietet dem Polizisten Geld, aber weil man es so unvorsichtig und ungeschickt tut, dass andere es hören, schlägt er tugendsam die Bestechung ab. Man schreitet nun zur Untersuchung der Sachen, die man bei dem Gebundenen gefunden hat. Ein Notizbuch voller Visitenkarten auf den Namen einer russischen Baronin (Diener stehlen hier gerne Visitenkarten, um sich auf den Namen der Herrschaft Waren bei den Kaufleuten holen zu können); außerdem ein Gerät zum Gießen von Kugeln. Der Polizist befiehlt, dass man die Stricke des Gefangenen lösen soll Dieser erhebt sich und demonstriert. Er will das Haus nicht verlassen, ehe er den Lohn von drei Monaten ausbezahlt bekommt — obwohl er nur einen Monat und sechs Tage gedient hat, und der Augenblick, wo er wegen Messerstich und Revolverschuss arretiert wurde, nicht gerade dazu geeignet erscheinen sollte, von der Löhnung zu sprechen. Der Polizist unterstützt sein Verlangen und will mit ihm fortfahren.

„Er hat gute Gründe, ihn wohlbeschlagen mit Münze zu wissen“, sagt mein Wirt zu mir; „sobald sie nun auf dem Wagen sind, beginnen sie darüber zu parlamentieren, wie viele Rubel der Polizeibeamte haben soll, wenn er den andern aus dem Wagen springen und im Dunkel der Nacht verschwinden lasse. In einer halben Stunde kann er zurück sein und die Vorwerke in Brand stecken, falls er sich nicht gleich heraufwagt."

Um dieser sofortigen Flucht vorzubeugen, heuchelte man eine große Angst für das teure Leben des Polizisten, falls er mit dem losgebundenen Verbrecher allein auf dem Wagen wäre, und man gab ihm — zum Schutze — einen der zuverlässigsten Männer des Gutes mit.

Dies schließt natürlich nicht aus, dass er heute trotzdem schon entwichen ist.

Endlich rollte der Wagen fort, und ich glaubte diese Episode, die auf so unangenehme Weise unseren Abend gestört hatte, beendet und schnell vergessen. Aber als ich in den Saal zurückkam, las ich zu meiner Verwunderung in den Gesichtern der Damen die tiefste Niedergeschlagenheit. „Weshalb trauern Sie jetzt, da das Ganze doch glücklich überstanden ist?“ „Nichts ist überstanden “, sagte die junge Frau W. „Sie können leicht mutig sein, Sie reisen in einigen Tagen nach Hause. Meine Eltern fahren in einem Monat nach Warschau, eine meiner Schwestern nach Paris, die andere nach Deutschland. Dann bleiben mein Mann und ich hier allein zurück. Ganz sicher wird sich der Knecht dafür rächen, dass wir ihn binden ließen. Er wird uns töten oder Feuer anlegen. Sie rächen sich immer. Auf dem Nachbargute fand mein Schwager voriges Jahr zwei Pferde auf seinem Acker. Er brachte sie in seinen Stall, und als der Bauer sie den nächsten Tag abholen wollte, sagte er: Das kostet 50 Kopeken Geldstrafe. Der Bauer begann zu lamentieren, er sei ein armer Mann, könne es nicht bezahlen. — Du wirst die Geldstrafe bezahlen, sagte mein Schwager, sie ist gering genug, und du bist kein armer Mann, du hast acht Pferde und vorigen Monat schicktest du vier deiner Pferde auf meine Weide. Der Bauer bezahlte, aber denselben Abend schlich er sich mit einer Heugabel hinter meinen Schwager und schlug ihn hinterrücks mit einem Schlage tot. Er kam fast ohne Strafe davon."

„Ja, die Umgebungen, worin wir leben, sind gefährlich, wir sind von allen Seiten eingeschlossen”, sagte der Besitzer von S., „ich musste im Frühjahr einen Diener fortjagen, der mich bestohlen hatte; später wurde auf meinem Gute zweimal Feuer angelegt. Jeder kennt den Urheber; aber ich kann nichts beweisen."

Wir fahren erst um zwei Uhr in der Nacht fort. Aber die schwere Stimmung schwand keinen Augenblick.

Als ich auf dem Heimwege die Ereignisse des Tages Revue passieren Hess, konnte ich unmöglich den Eindruck abwehren, wie stark die durch die allseitige Unterdrückung hervorgerufenen politischen und sozialen Missverhältnisse sich in diesem erbärmlichen Vorfalle spiegeln. Ich musste mich des Zustandes in Galizien im Jahre 1846 erinnern, als die Bauern, an welche die Herren sich kehrten, um sie zur Teilnahme an dem nationalen Aufstand zu bewegen, verfuhrt durch die lügenhaften Aussagen österreichischer Abgesandter, sich wie ein Mann erhoben und ihre Raserei über den polnischen Adel ergossen, der ihrer Ansicht nach die Ausführung der kaiserlichen Bestimmungen zu ihrem Wohle verhindert hatte. Freilich muss der Adel mit viel alter Schuld gegen den Bauer belastet sein, sonst wäre solches damals nicht möglich gewesen, und sonst existierte der Hass nicht noch heutzutage. Doch die heutigen Gutsbesitzer sind teils so national, teils so human, dass nur die Unwissenheit des Volkes, der von den Russen erhaltene tierische Zustand die Schuld an dem Elend und dem Hasse trägt.

Unter dem hiesigen Drucke wird alles, selbst das Missverhältnis zwischen den Klassen, zur Karikatur der Zustände des übrigen Europas.

Und so sonderbar es klingt: Trotz der Missstimmung gegen die höheren Klassen, ist das Volk hier in Polen (wie vielleicht in keinem anderen Lande) tiefer von der nationalen als von der sozialen Frage ergriffen.

Es wäre undenkbar, dass der Klassenkampf des ganzen Zeitalters Polen unberührt gelassen hätte.

Aber der Unwille gegen die Russen ist im Volke dennoch hundertfach stärker, als der Argwohn gegen den Herrn. Der Russe ist als Nicht-Katholik verachtet. Das schlimmste Schimpfwort des Bauern ist Moskal (Moskovit).

Zwischen den Wohlhabenden und dem Volke gibt es hier nur den ökonomischen Abstand, aber zwischen dem Polen und dem Russen steht als scheidende Macht die Religion, und die Religion ist hier die Hauptmacht.