Cholera, Zensur, Arrestationen

Gegen sieben Uhr, wenn die glühende Tageshitze nachlässt, kommen meist die verschiedenen Bewohner des Hauses aus ihren Zimmern. Der eine macht einen Spazierritt, andere gehen über die Felder, einige der Älteren begnügen sich mit einem Spaziergang im Garten. Gestern Abend, als unser Wirt am Basenplatz vor der Veranda vom Pferde stieg und Fräulein Helene nach einem langen Gespräch im Garten über die Zukunft des Menschengeschlechts, über Religion, Moral und Liebe ins Haus kam, zeigte ich unserer Wirtin das Heft der Revue de Paris, worin ein Hauptteil der Hymne an Apollo (Musik und Text) abgedruckt ist, die man so glücklich gewesen, in Delphi zu finden, und bat sie, die Hymne zu spielen und zu singen. Sie sang und rief verwundert: Wagner! Das ist der reine Wagner! Ich sagte ihr, dass diese Musik genau den gleichen Eindruck auf den französischen Gelehrten gemacht habe, der sie veröffentlicht hat, und wir ergingen uns in Betrachtungen darüber, welche Ehre es für Wagner sei, dass man in jenen unter der Erde verborgenen Melodien aus dem alten wunderbaren Schönheitslande schlagende Analogien seiner Kunst finde. Hätte Nietzsche diesen Fund erlebt, so würde es auf ihn einen tiefen Eindruck ausgeübt haben, und seine Wagnerkritik wäre eines Stützpunktes beraubt worden. Denn künstlerische Dekadenz in Griechenland im fünften Jahrhundert v. Chr. — das ist unstreitig ein hartes Wort.

Von altgriechischer Musik kam das Gespräch auf altgriechische Vasenmalereien; ich zeigte die Abbildung der merkwürdigen Malerei, wo Eos die Leiche ihres Sohnes tragend so vollständig der Darstellung der christlichen Mater dolorosa vorgreift. Wir sprachen von dem Satyr mit dem Stelzbein, der auf einer alten Vase gemalt uns beweist, wie weit das Altertum die Kunst verstand, ein Bein zu amputieren und es durch ein künstliches zu ersetzen — bis wir Griechenland verließen, um von Polen zu sprechen; statt von griechischer Malkunst plauderten wir über Wiwiorskis Decken- und Wandgemälde. Wir Hessen dann auch Unglück und Sorgen der Griechen fahren, um uns mit näherliegendem, polnischem und modernem Elend zu befassen.


Die Cholera hat ringsum in den Dörfern um sich gegriffen. Sie wütet in B., in K. überall; von zehn Erkrankten sterben in der Regel sofort mindestens fünf. Zum Unglück werden in diesem Monate sehr viele Kirchenfeste abgehalten. In einer Woche findet auch hier in der Kirche eine sogenannte Vergebung statt (die Franzosen sagen Pardon); hierzu versammeln sich die Bauern in hellen Haufen, um fröhlich zu leben und sich ihres Daseins zu erfreuen. Im Mittelalter hatte diese Art von Festlichkeit einen vernünftigen Sinn. Dazumal legte die Kirche Sündern und Sünderinnen strenge Strafen auf, jede Art von Buße (sie durften z. B. fünf Jahre hindurch kein Fleisch essen, mussten jahrelang Bußhemden tragen u. s. w.). Mitunter gab es eine allgemeine Verzeihung, die natürlicherweise mit Freude und Wildheit gefeiert wurde. Heutigen Tages sind die strengen Strafen und Bußübungen fortgefallen, und nur die Kirmessen sind noch erhalten. Aber unter den jetzigen Verhältnissen ist damit keine geringe Gefahr verbunden. Die Bauern schwelgen in Obst, essen sogar viele unreife Früchte und trinken dazu große Massen Bier. Wir haben uns an den Priester gewandt, haben ihn gebeten, an den Erzbischof behufs Aufschub des Festes zu schreiben; aber da dieser auf das gleiche Gesuch einer Nachbarkommune abschlägig geantwortet hat, ist wenig zu hoffen.

Vorige Woche fuhr ich einen Tag nach Warschau und erhielt Audienz bei seiner Exzellenz, dem Zensurpräsidenten, Herrn Jankulio, ein schöner Mann von gemischter Abstammung; denn in seinen Adern fließt, sagt man, griechisches, jüdisches und russisches Blut. Er steht der Gurkoschen Familie nah, ist eine Zeitlang Sekretär beim Generalgouverneur gewesen und hat schnell Karriere gemacht. Er empfing mich äußerst höflich, versicherte, dass man durchaus nicht die mir zugesandten Drucksachen zurückhalte, u. a. aus dem Grunde, weil man in der hiesigen Zensur gar kein Dänisch lesen könne; ich solle unverzüglich alles zugeschickt bekommen u. s. w. Nichtsdestoweniger erhalte ich jetzt erst nach einer Woche eine dänische Zeitung vom 31. Juli, die mit einer Stempelmarke der Petersburger Zensur mir am 12. August zugeschickt wird. Se. Exzellenz, die doch einige Untergebene hereinrufen und Bericht erstatten ließ, war demnach schlecht darüber unterrichtet, was in seinem eigenen Bureau geschieht; die Beamten, die kein Dänisch verstehen, haben einfach alles nach
St. Petersburg geschickt, wo immer genug Finnländer in der Zensur sind, die die Sprache verstehen. Man nimmt keine weitere Rücksicht auf die Bequemlichkeit des Lesers, wenn es sich darum handelt, die fremde Presse zu überwachen. Ganze Revue-Artikel werden ausgeschnitten; in einer französischen Revue wurde ein ganzer Aufsatz über die Geschichte des Anarchismus ausgemerzt; alles, was aus politischen, moralischen oder religiösen Gründen missbilligt werden kann, wird so geschwärzt, dass kein Buchstabe lesbar ist.

Man kann es nicht leugnen, die Russen verstehen zu regieren. Die Maschine arbeitet bis zur Vollkommenheit, lautlos, in Todesschweigen, aber wirksam. Längst ist z. B. die Zeit vorbei, wo politische Prozesse eine gewisse Öffentlichkeit trugen. Nun geht es ganz anders und unstreitig weit verständiger zu. Eines Morgens wird der Betreffende sehr früh von einem Paar höflicher Gendarmen in einem Wagen abgeholt. Und von diesem Augenblick an ni vu, ni su. Unmöglich das Geringste, das aller geringste über ihn zu erfahren, bis er wiederkommt, falls er wiederkommt. Auf einem Nachbargut wurde eines Morgens ein junges zwanzigjähriges Mädchen verhaftet. Auf die verzweifelte Frage der Eltern weshalb keine Antwort, die Gendarmen hatten nur ihre Befehle, wussten nichts. Die Eltern ließen anspannen und kamen fast gerade so schnell als der andere Wagen in Warschau an, stürzten zu den Autoritäten; diese wussten nichts, nur dass das junge Mädchen nicht mehr in Warschau war. Nach Verlauf eines halben Jahres kam sie von der Petropavlovsk Festung bei Petersburg zurück. Ein Vetter von ihr war als Besitzer einer Menge verbotener Bücher verhaftet worden. Auf die Frage, woher er jedes einzelne erhalten habe, hatte er nicht geantwortet, bis endlich das ständige Aufwecken zur Nachtzeit und die übrigen angewandten Mittel seinen Mund öffneten. Er gestand, dass seine Cousine ihm eins dieser Bücher verschafft habe. Da sich nichts anderes gegen sie anführen ließ, ließ man sie damals frei. Aber als dieses Jahr die wahnsinnige Trauerprozession junger Männer und junger Mädchen durch die Straßen von Warschau an dem Tage stattfand, wo der Aufstand von 1794 losbrach, wurde sie als Teilnehmerin wieder gefangen genommen. Es nützte den Anstiftern nichts, dass sie die Jugend durch einen Anschlagzettel zusammengerufen hatten, der lautete: Es ist eine Dame gestorben (hier stand ein erdichteter Name) voll großer Tugenden und Anlagen. Sie war unsäglich von ihren Kindern geliebt, die nur ihrem Andenken und in der Hoffnung ihrer Auferstehung leben. Die, welche sie gekannt haben, mögen sich zu ihrer Ehre an dem (so und so bestimmten) Tage versammeln! Man hatte die Absicht, die Kränze vor das Haus des Schuhmachers zu legen, aus welchem damals das Volk zum Aufstand gerufen wurde, aber die Polizei umringte alle Teilnehmer und nahm sie gefangen, ungefähr 300 an der Zahl; sie sind alle deportiert und das junge Mädchen ist darunter. Man glaubt, dass sie an verschiedenen Orten isoliert sind. Ein Student, der vor einigen Jahren als Anführer einer sozialistischen Gruppe verhaftet wurde, ist nach der Verhaftung so spurlos verschwunden, dass sein Bruder trotz vielfacher Gesuche und Bittschriften, nicht einmal das erfahren konnte, ob er erhenkt oder noch am Leben sei. Die Zeiten sind längst vorbei, wo die Exekutionen noch öffentliche waren. Sie finden heimlich in den Gefängnissen statt und man meint, dass in Petropavlovsk nicht einmal Buch über sie geführt wird, Sie gehen dort so leicht vor; es fließt so viel Wasser um die Insel.

Das muss man den Russen lassen, sie verstehen als regierende Kaste keinen Spaß. Hier wurden vier Gardeoffiziere verhaftet, die ihre Stellung missbraucht und unter ihren Untergebenen nihilistische Propaganda getrieben hatten. Eins der vorgefundenen meuterischen Bücher war eine Schrift, im Auslande gedruckt, wovon ein vorgefundenes Billet angab, dass sie einem der Offiziere von einem Verwandten, einem Friedensrichter, geliehen war. Dieser wurde verhaftet und befragt, weshalb er sich das Buch angeschafft habe. Er antwortete, und wie es schien, mit Recht, das er es aus Neugierde habe lesen wollen, aber ganz und gar nicht die Ideen teile, die darin entwickelt waren. Die vier Offiziere wurden natürlich erschossen; aber überraschender wirkt, dass der Friedensrichter gehenkt wurde.

Das System hat das Vortreffliche, dass es Eitelkeit als Motiv zu politischen Verbrechen unmöglich macht. Keine Zeitung darf auch nur den Namen des Verbrechers nennen, geschweige seine Verhaftung erwähnen, noch weniger etwas berühren, von dem gedacht werden könne, er würde es zu seiner Verteidigung sagen. Er verschwindet lautlos, und nie mehr wird sein Name in irgend einem Blatte gesehen. Falls dieses System in Italien und Frankreich angewandt würde, verminderte sich wahrscheinlich sehr bedeutend die Anzahl der anarchistischen Mörder. Man kann indessen nicht leugnen, dass andererseits das System gewisse Unannehmlichkeiten hat.

Man ist in den letzten Jahren hinsichtlich verbotener Bücher unendlich viel strenger geworden, als man früher war. Es ist unmöglich geworden, sich solche anzuschaffen; kein Buchhändler wagt jetzt sie zu beziehen. Z. B. ist nicht eins der Bücher, die ich seit meinem letzten Hiersein in den Weltsprachen herausgegeben habe, über die Grenze gelangt. Früher konnte man sie immer buchhändlerisch verschreiben.

In merkwürdigem Gegensatz zu dieser Strenge steht die Liebenswürdigkeit und der gute Ton der hiesigen russischen Offiziere. Man glaube nicht, dass man jemals bei einem russischen Gardeoffizier — in Warschau liegt nur Garde — das Selbstgefühl und überlegene Auftreten beobachtet, das den preußischen Offizierstand bezeichnet. Höflichkeit, fast Bescheidenheit und vollendetes weltmännisches Auftreten sind die Kennzeichen des russischen Offiziers. Und diese Humanität ist nicht nur äußerlich. Die zwei russischen Offiziere, die infolge ihrer Stellung hier das Schlimmste tun könnten, der Chef der Gendarmerie, General Brock, und der Chef der Polizei, General Kreigels, sind geradezu geliebt von der polnischen Bevölkerung. Sie geben immer den möglichst milden Rapport. Die Härte, die man erweist, wird gegen ihren Wunsch erwiesen. Aber sie müssen den Befehlen, die sie erhalten, gehorchen.

In dem Offiziersstand selbst hat man auch keine Neigung, die Polen als erobertes Volk zu behandeln. Man hält ihnen gegenüber streng auf gentlemenmäßiges Benehmen. Man gab davon kürzlich ein eklatantes Beispiel. Ein Sohn des Generalgouverneurs, der hier Gardeoffizier war, sah bei einem Kameraden ein verbotenes Buch und fragte ihn, wie er es sich verschafft habe. Der Offizier gab ihm den Namen eines Buchhändlers an. Der junge Lieutenant ging zum Buchhändler und frug, ob er das Buch habe. — Nein, es sei verboten. — Ob er es ihm nicht verschaffen könne? — Er dürfe es unter gewöhnlichen Umständen nicht, aber für den Sohn des Generalgouverneurs gelte wohl das allgemeine Verbot nicht. — Einige Wochen später hatte der Lieutenant sein Buch und gab darauf sofort den Buchhändler an, der verhaftet wurde. Unmittelbar darauf reichten sämtliche Offiziere des Regiments ein Gesuch ein, dass Lieutenant Gurko von der Offiziersliste gestrichen werden müsse; andernfalls erbaten alle ihren Abschied. Sie bekamen keine Antwort, hielten aber hartnäckig ihre Forderung aufrecht. Die Folge war auch, dass Lieutenant Gurko seinen Abschied erhielt; er wurde allerdings gleichzeitig zum Generalstab versetzt.

Vorüber ist nun die Zeit der erdrückenden Hitze wo das große Sturzbadgebäude im Parke der Haupttrost war. Nie trete ich dort ein, ohne mich des ersten Aktes der Walküre zu erinnern. Denn es ist um mächtige Baumstämme gebaut, die vier an der Zahl, durch das Haus emporwachsen wie der große Baum im Hause der Mutter Siegfrieds. Jetzt ist die Temperatur derart, dass man sich umschauen und den erhaltenen Einladungen folgen kann. Dies geschieht infolge der schlechten Wege immer so, dass man vier Pferde vor den Wagen spannt; sonst kommt man gar nicht vorwärts. Und ringsumher auf den Nachbargütern findet man nicht wenig originelle Männer und bemerkbare Frauen.