Polen. Beobachtungen und Erwägungen. Dritter Eindruck. (1894.)

Auf einem polnischen Rittergute
Autor: Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1898

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Polen, Warschau, Hauptstadt, Baugeschichte, Stadtgeschichte, Landesgeschichte, Kirchenbauten, Bürgerhäuser, Glockentürme, Schlösser, Palais, Schwedenkrieg, Reichshauptstadt, Theater, Plastik und Malerei, Künstler, Baumeister,
Einzige autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Adele Neustädter
I. Die Gegend, die Landschaft. Vermehrte Strenge der russischen Herrschaft

Wir reisten am Nachmittag von Warschau ab. Die Stadt siedete unter der glühenden Sonne; langsam gingen die Leute im Schatten der Häuser; alle, Militär, Fußvolk, Kosaken, Gendarmen waren in weiße Leinwand gekleidet.

Im Zuge trafen wir Bekannte, Polen, die von den Karpaten (Tatra) oder den böhmischen Badeorten zurückkehrten, andere, die auf Reisen gingen, und Sommerfrischler aus der Umgegend. In den Gängen bildeten sich Gruppen; man scherzte und lachte und die Zeit verstrich.

In K. erwarteten uns zwei Wagen, einer für unsere Gesellschaft, der andere fürs Gepäck und fort ging's im Galopp durch den Sommerabend auf vortrefflichen alten Militärchausseen aus der Napoleonischen Zeit, auf tiefen, sandigen, beschwerlichen Wegen und zuletzt durch eine endlose Allee von turmhohen Pappeln.

Franciszek erzählte von dem Generalgouverneur von Polen. Gurko ist augenscheinlich als General bedeutender, denn als allgemein menschliche Intelligenz.


Er musste, nachdem er seinen apoplektischen Anfall gehabt hatte, nach dem Auslande reisen. Überall wo er abreiste, ließ er ein Paar Stiefel stehen. Er war überzeugt, dass er nur unter dieser Bedingung wieder lebend an den Ort zurückkehren würde. Franciszek machte ihn darauf aufmerksam, dass, wenn auch das Zurücklassen von Stiefeln eine Hauptbedingung sei, um einen Ort wiederzusehen, dies Resultat zu erreichen doch höchst problematisch sei, wenn man die Stiefel mit Absicht stehen lasse. Ghirko antwortete, dass seine Erfahrung unbedingt dafür spräche. So oft er sich in Lebensgefahr begeben, habe er ein Paar Stiefel zurückgelassen, und so habe er ringsumher in Russland, der Türkei und Asien nicht weniger als 112 Paar stehen lassen. — Vieles, was als reiner Heldenmut erscheint, erklärt sich vielleicht durch solch einen felsenfesten Stiefelglauben.

Wir fahren und fuhren; es wurde finster und die Sterne kamen hervor. Wir fuhren durch elende Städte und elendere Dörfer. Weißgetünchte Fachwerkhäuser oder einfache Holzhäuser mit Strohdächern, und überall Scharen barfüßiger Kinder. Die Pferde wurden nicht müde und die Pappelallee erschien geradezu endlos. Soweit man blicken konnte, im Umkreise von Meilen keine Spur eines Herrensitzes. Ich begann zu behaupten, dass es gar kein Królewice gäbe, dass wir das Land wahrscheinlich im Kreise umfuhren und vermutlich gegen Morgen in sanftem Trab durch B. fahren und nach K. zur Station zurückkehren würden. Frau Jozefas große Augen funkelten lachend im Dunkel, und die zwei jungen Mädchen, die auch als Gäste geladen waren, stimmten mir bei und begannen so lang Geschichten zu erzählen, bis sie in endloses Gelächter gerieten. Eine possierliche Geschichte rief die andere hervor, und während die Felder aromatisch dufteten und die Luft immer frischer und kühler wurde, fuhr der lachende Wagen vorwärts im durchsichtigen Dunkel der Sommernacht. Man hätte glauben können, dass lauter frohe Menschen darin säßen.

Endlich gewahrte man hinter großen Baumgruppen etwas weißes. Bald unterschied man die Umrisse eines großen weitläufigen Hofes und die Konturen eines mächtigen Gartens.

Der Wagen macht einen Schwung, fährt durch die offenstehende Gartenpforte und hält an. In dem hellbeleuchteten Flur ist das ganze Hofpersonal und die Dienerschaft in Gala versammelt, um die Herrschaft zu empfangen und nachdem jeder auf seinem Zimmer den Reisestaub abgeschüttelt hat, versammeln sich alle in später Abendstunde zum Mittagsmahl, das man so lange aufschieben musste. Es sah reizend aus; viele Blumen auf dem Tische, alles festlich zum Empfange bereitet, vortreffliche Speisen und polnischer Champagner, eigentlich französischer, den man halbfertig importiert und hier den letzten Zusatz gibt, da der Zoll sonst pro Flasche volle 2 Rubel 50 Kopeken beträgt. —

Seitdem habe ich mich hier eingelebt, ich kenne die Gegend nun recht gut und umso besser, als kein Hauch aus Europa meine Rahe gestört hat. Es war mir nicht möglich, einen Brief, eine Zeitung seit meinem Hiersein zu erhalten. Alle meine Zeitungen sind zur Zensur gesandt und meine Briefe werden in Warschau zurückgehalten. Ich weiß nichts von der Welt, d. h. von Dänemark, als was ich in den Telegrammen der „Gazeta Polska" finde, und das ist nicht üppig. Ich habe telegraphiert, Briefe geschrieben, auf die Post in Warschau geschickt; alles prallt an der russischen Bureaukratie ab. Ob es wohl irgendwo, selbst in der Türkei, eine solche himmlische Rechtlosigkeit gibt wie in Russland?

Verlässt man das schöne Gebiet des Gartens, so überblickt man die flache Landschaft» Sie ist reich, Kornfeld reiht sich an Kornfeld; sie ist auch anmutig, denn Schwarzpappeln und Birken, Weiden und Linden verleihen den Wegen Schatten; aber der schönste Schmuck der Landschaft sind augenblicklich doch die mächtigen Roggenschober, die auf eine bei uns unbekannte Weise aufgestellt sind, wie uralte Türme, rund mit niedrigen spitzen Dächern. Das Dach ist goldgelb, der Turm ist braun, weil man die Ähren nicht in ihrer Länge sieht, und in der Sonne bieten diese Schober einen ungemein belebten Anblick. Sonst wird die Flachheit der Landschaft nur von Windmühlen, Bäumen, und hie und da in weiter Entfernung von einer Kirche oder einem Wald unterbrochen. Bund umher gehen Mädchen mit hellen Kopftüchern und raffen das Korn zusammen.

Die Einrichtung des Hauses ist über alles Lob erhaben; es ist inmitten des Bauernlandes eine Oase der Zivilisation. Alles entspricht einem ausgesuchten, wählerischen Geschmack, und das Herz wird besonders durch eine Bibliothek erfreut, die so enorm, so unterhaltend und so schön gebunden ist, dass man selten desgleichen in einer Privatwohnung irgend einer Hauptstadt finden wird. Jedes Zimmer hat seine Eigenart und an das Erdgeschoss schließt sich ein ungeheures Palmenhaus.

Das Haus bildet keinen geringen Gegensatz zu den umliegenden Wohnungen. Wenn die Bauern Hilfe und Rat haben wollen, gehen sie nicht zum Priester, der übrigens ein braver junger Mann ist (er ist in Rom gewesen und spricht etwas italienisch), sondern zu „unserer Frau“ hier auf den Hof, und man muss gestehen, ihre Menschennatur ist so echt und ihre Entwürdigung so tief, dass sie stehlen, was man ihnen nicht schenkt. Sie stehlen alles, was man stehlen kann, von den Hühnern bis zu den Gartengerätschaften, sie fallen hunderte von Bäumen im Walde und stehlen um so leidenschaftlicher, als Frau Jozefa sie nicht darob bestraft. „Gleichviel”, sagt sie, „sie sind so arm; das entschuldigt sie."

Es ist warm hier, aber selten zu warm, und man findet reichlich Gelegenheit zum Baden. Nur Fliegen und Mosquitos belästigen etwas. Man hat sich jedoch gegen sie durch die sinnreiche Einrichtung geschützt, dass der Innenteil der Doppelfenster des Hauses, nur aus einem feinen Strahldrahtnetz besteht, so dass man während des ganzen Tages bei offenen Fenstern sitzen und frische Luft schöpfen kann, ohne dass ein Insekt in die Stube dringt.

Ich habe nie, nicht einmal in Holland eine Reinlichkeit, wie sie hier herrscht, gesehen. Sie bildet wohl den schärfsten Kontrast zwischen den höheren und den Volksklassen in Polen. Das ganze Haus wird jeden Tag gereinigt, ja, ich glaube ein paar Mal des Tages; gleichzeitig werden drei bis vier Bedienstete in ein Zimmer dirigiert um es herzurichten, so dass in einer Viertelstunde alles in Ordnung ist.

Häufig erhalten wir Gäste: Gestern waren ein Paar polnische Maler da, die in München leben und irischen Bier- und Kunstgeruch, aus dem großen Kunstdorf mitbrachten; heute kommt der Redakteur einer großen Warschauer Zeitung.

Die russische Herrschaft hat sich, seit ich das letzte Mal hier war, ganz überwältigend entwickelt. Damals konnte man noch eine Zeitung unter Kreuzband erhalten, ohne dass sie die Zensur passierte, falls sie in einer Sprache geschrieben war, die man dort nicht verstand. Nun wird sie zur Prüfung nach Petersburg geschickt, falls sie hier nicht verstanden wird. Wir erhalten den Figaro mehr als acht Tage nach dem Erscheinen, und große Teile sind geschwärzt. Selbst eine klerikale und konservative Zeitung wie der Figaro wird häufig ganz konfisziert. In La vie paririenne wird das Unpassende geschwärzt, und das ist ein ganzer Teil.

Zur Zeit ist in Lemberg eine polnische Industrie- und Kunstausstellung. Die Regierung hat das Gebot erlassen, dass niemand aus Russisch-Polen etwas ausstellen dürfe. (In verschiedenen Fällen ist es dennoch unter der Hand geschehen.) Nun entstand aber die Frage, ob die Blätter über diese Ausstellung berichten dürften. Im ersten Monat war es unbedingt verboten, sie nur zu erwähnen. Später ließ man die Zeitungen wissen, dass jede vier Korrespondenzen aus Lemberg bringen dürfe, doch keine über hundert Zeilen, und nur über die ausgestellten Industriegegenstände, jedoch kein Wort über die Kunst. Zwischen jedem der Briefe sollte ein Zwischenraum von vierzehn Tagen liegen.

Es wird von einem Redakteur erzählt, dass er im Winter zum Polizeidirektor gerufen wurde, der ihn mit einer vor Zorn zitternden Stimme frug, was es bedeuten solle, dass er an einer Stelle seines Manuskripts die polnischen Buchstaben geschrieben habe, die der Benennung S. M. des Kaisers entsprechen. (J. C. M., d. h. Jego Cesarska Mose.) Was bedeutet J. C. M.? — Natürlich Seine Majestät, das ist ja eine allgemein angewandte Verkürzung. — Aha! — Sie unterstehen sich, den Titel Seiner Majestät des Kaisers zu verkürzen? Sie haben in Ihrer Zeitung keinen Platz für seinen ganzen Titel? In diesem Falle können Sie sicher darauf rechnen, dass er für Sie einen Platz finden wird — woran Sie keinen Gefallen finden werden. Nun können Sie vorläufig 600 Rubel Geldstrafe für Ihre schlechte Absicht bezahlen.

Ich sah in Warschau schlimme Beispiele der polizeilichen Brutalität. Beim geringsten Anlass schlagen und stoßen die Polizisten mit der Säbelscheide die armen Droschkenkutscher, die mit den auf dem Rücken hängenden Nummern wirklichen Sklaven gleichen. Hier auf dem Lande ist das Volk durch den Druck gebrochen. In der Dorfschule unterrichtet man nur auf Russisch, das die Bauern nicht verstehen. Da jedoch der Unterricht nicht obligatorisch ist, gehen nur äußerst wenig Kinder in die Schule. In Rechtssachen bedient man sich auch des Russischen und alles geht durch den Dolmetscher, so dass in kriminellen Sachen der Angeklagte seine Aussage nicht kontrollieren kann. Das ganze offizielle Bestreben geht darauf aus, den polnischen Bauer gegen die Wohlhabenden aufzuhetzen und in allen zivilen Rechtsstreitigkeiten gibt man ihm Recht. Ein Gutsbesitzer dieser Gegend überrumpelte mit seinem Jäger vier Wilddiebe, die unter seinem Wild ein Blutbad angerichtet hatten und bei seinem Hinzukommen im Begriffe standen, die Beute auf den Wagen zu laden. Sie entschlüpften, aber es gelang ihm, sich eines Mantels zu bemächtigen, den er als Beweismittel vorlegte. Die Diebe wurden freigesprochen, da gegen ihr Leugnen nicht bewiesen werden konnte, dass das Wild, womit sie den Wagen beladen hatten, Eigentum des Klägers war. Er wurde hingegen zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wegen „Raub eines Mantels“.

So wacht die Gerechtigkeit allerwärts und man hat nur den Trost, dass wie toll es auch zugeht, es immerhin noch schlimmer gehen könnte. Und man freut sich, dass das Schlimmere noch nicht eingetreten ist. Man findet in Polen, wie anderwärts, immer Grund zur Dankbarkeit. Ein Mann sah in die Höhe, als eine Schwalbe über seinen Kopf flog und etwas auf seine Nase fallen ließ. — „Welches Glück“, sagte er, „dass die Kuh keine Flügel hat!“

Man ist hier in Polen inmitten seiner Pein sorglos. Man lebt, wie ein Amputierter lebt, der beweist, dass man einen Arm, ein Bein, ein Auge entbehren und doch Mensch sein kann. Man ist wie jener Josias Bantzau, der obgleich er nur noch einige Körperteile besaß, sich gleichwohl seinen Mut und seinen Humor bewahrte. Man lebt, beraubt alles politischen Lebens, aller sozialen Aufgaben, jedes direkten Strebens für nationale Zwecke und man lebt um so intensiver das Leben, das einem gelassen ist. Man denkt und empfindet so voll wie anderswo, und man begnügt sich damit, mündlich das auszudrücken, was nicht geschrieben oder gedruckt werden kann.

In diesem Augenblick ist der Himmel so klar, wie an einem Sonnentag im Süden, und der Blick, der sich dem Auge hinter dem Fensternetz bietet, ist voll friedlicher Schönheit. Vor mir liegt ein großer Basenplatz mit zahlreichen Beeten voll von hochstämmigen Rosenbäumen und leuchtenden roten Pelargoniumblumen. Schön wirkt darunter ein Busch mit funkelnden weißen Blättern. Ringsum gruppieren sich die hohen alten Bäume des Parks. Ein Wagen mit vier Pferden bespannt, hält vor der Pforte und fuhrt uns zum Besuch nach dem nächsten Hof.

Kurz, das Leben ist schön, so lange es wahrt.

Mérimée pflegte seine Lebensauffassung so auszudrücken: Harlekin fiel aus dem Fenster der fünften Etage. Als er an der dritten vorüberkam, frug ihn einer, wie er sich befinde: „Ganz gut“, antwortete er, „vorausgesetzt, dass es weiter so bleibt.“

Wir wissen allesamt, wie der Fall endet; aber so lange man in der Luft schwebt, geht es einigermaßen gut.

Brandes, Georg (1842-1927) dänischer Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller

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Warschau 020 Barockportal eines Hauses am Altmarkt

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Warschau 037 Kirche in Czerniaków, Inneres

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Warschau 070 Visitinerinnen-Kirche

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Warschau 094 Lustschloss Lazienki, der Salomonsaal

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Warschau 112 Park Natolin, Grabmal

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Warschau 133 Schloss Belvedere, Gartenfront

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Warschau 135 Palais Primas

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Warschau 144 Christusfigur an der Freitreppe der Kreuzkirche

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Warschau 139 Die Hauptpost

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Warschau 121 Die Polnische Bank

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