Die Reise nach einem Lächeln. 1889.

Die vier Herren saßen nach dem Souper auf der breiten Terrasse des Landhauses. Aus dem Garten herauf strich ein sommerlicher Duft. Jeder hatte sein Maiweinglas vor sich. Ab und zu kam lautlos der wohlerzogene Diener und füllte die grünen Kelche. Viel hatte er aber damit nicht zu thun, denn drei von den Vieren waren gewitzigte Lebemänner, die den Genuss durch Maßhalten zu erhöhen verstanden. Nur der Vierte, ein lebhafter junger Mensch, übernahm sich ein wenig im Trinken und Reden.

Und wie immer, wenn Herren unter sich sind, kam das Gespräch auf die Frauen oder – wie man nach dem Souper aufgeknöpfter zu sagen pflegt – auf die Weiber. Der lebhafte junge Mensch tat sich besonders hervor durch die Erzählung sehr brauner Anekdoten. Anfangs lachten die Anderen dazu. Allmählich wurden ihnen aber diese Scherze zu bunt und zu derb.


„Schweig doch!“ rief der Hausherr endlich dem jungen Manne zu, der sein Vetter war und den er mit verwandtschaftlicher Grobheit zu behandeln pflegte. „Schweig, Fritz, Du verdirbst uns mit solchen Reden die gottvolle Nacht!“

Der Doktor nickte zustimmend und rief: „Ja wohl! Rauchen, trinken, schweigen! Wir können nichts Besseres thun. Es wäre denn, daß Einer von Euch eine Geschichte wüsste, die so rein und schwermütig, so sehnsuchtsvoll und köstlich ist, wie diese Sommernacht.“

„Ich weiß eine solche!“ sagte da langsam Herr Paul, der bisher stumm dagesessen, im tiefen Schatten hinter der Tür. „Die Frage ist nur, ob ich nicht allen Schmelz von diesem Abenteuer streife, indem ich es erzähle. Jedenfalls hab’ ich nie ein besseres erlebt.“

„Ein eigenes Erlebnis?“ stöhnte Fritz in komischem Entsetzen; „das pflegt lange zu dauern!“

„Willst Du wohl, Du Schlingel!“ … schrie der Hausherr. „Bitte, lieber Freund, beginnen Sie! Wir werden gläubig lauschen.“

„Ich beginne.“

„Wahrheit und Dichtung!“ schaltete Fritz zum letzten Male ein.

„Nur Wahrheit, lieber Fritz! Sie werden gleich sehen. … Vor zehn Jahren war es. Am Pfingstsonntag kam ich von Baden-Baden nach Straßburg, spät in der Nacht. Am nächsten Morgen wollte ich weiter, nach Paris. Schwer ermüdet kroch ich ins Bett und verschlief richtig den Pariser Eilzug. Ich kam auf den Bahnhof, als eben der letzte Waggon zur Halle hinausrollte. Der ganze Tag war verloren. Nach Frankreich ging an diesem Tage nur noch ein Bummelzug, und der nicht weiter als bis Nancy. Erbittert kehrte ich in die Stadt zurück, die ich schon von früher kannte, in der ich nichts zu suchen hatte. Als ich aber die feiertäglich langweiligen Straßen im heißen Sonnenschein auf und ab schritt, kam eine solche Verzweiflung über mich, daß ich nicht bleiben konnte. So bestieg ich denn gefaßt den Bummelzug und erreichte noch vor Sonnenuntergang Nancy.

Diese Stadt überraschte mich in der liebenswürdigsten Weise. Nancy ist eine helle, luftige, lustige Stadt, durchschwirrt von Gesang und Kurzweil, die Häuser sind trikolor beflaggt, auf den Balkonen stehen lachende Frauen, junge Leute gehen unten vorüber und werfen einen Kuss, eine Blume oder ein Scherzwort hinauf. So hab’ ich’s gesehen, und so haftet es freundlich in meiner Erinnerung. Und draußen, vor der Stadt, ist Jahrmarkt: die foire de pentecôte. Wir Fremden, die aus ernsthafteren Ländern kommen, sind von solch einer französischen Jahrmarktsfröhlichkeit immer geblendet und entzückt. Wie unbegreiflich und hinreißend ist diese gute Laune, wie groß der Lärm, wie grell und wirr die Farben und Gerüche! Aber der Staub, der langsam aufwallende, und eine goldige Abendstimmung legen sich darüber hin, und mitten in der lärmenden Lustigkeit ist man sanft bewegt.

So war es mir zu Mute, als ich damals unter den Bäumen hin, an den Sesselreihen vorbeischlenderte. Da, in vorsichtiger Entfernung von den minderen Leuten, saßen die Damen und Herren der Stadt, und sie lauschten den blechernen Klängen einer Militärmusik … Und da: wie ich vorüberging, sah ich jenes schöne Weib zum ersten Male. Schön? War sie eigentlich so besonders schön? Ich weiß, daß mir damals nicht ihre Schönheit auffiel, sondern bloß das sonderbare Lächeln, mit dem sie mich ansah …“

Fritz hielt es in diesem Augenblick für angemessen, sich ein wenig zu räuspern.

„Sie vermuten ganz falsch, lieber Fritz!“ unterbrach sich der Erzähler. „Es war eine tadellos aussehende Dame, und ebenso korrekt war der alte Herr an ihrer Seite, mit dem sie plauderte. Als ich sie lächeln sah, blickte ich unwillkürlich hinter mich, um den zu suchen, dem es galt. Erst gab es mir einen jähen Ruch, dann ging ich ruhig meines Weges. Als ich wieder an ihrem Platz vorüberkam, waren sie und ihr Begleiter verschwunden. Gleich darauf hatte ich sie vergessen.

Am anderen Tag verließ ich Nancy. Im letzten Augenblick vor der Abfahrt wurde die Coupétür aufgerissen, und herein schoben sich der alte Herr und die Schöne von gestern. Sie lächelte kaum merklich, fast nur mit den Augen, als sie meiner gewahr wurde, aber ich sah es … Wir waren unser Vier in dem Coupé. Mir gerade gegenüber in der Ecke saß ein rotbehoseter Offizier, schrägüber am jenseitigen Fenster meine Unbekannte, und ihr vis-à-vis der alte Herr. Er hatte die Ehrenlegion im Knopfloch und las legitimistische Zeitungen. Ihr Mann oder ihr Vater? Wenn er ihr Vater war, so hatte er spät geheiratet … So gut es ging, ohne zudringlich zu sein, betrachtete ich sie aufmerksam. Eine Schlanke, Hohe, mit ganz kleinen Händen und Füßen. Das Haar brünett, die Gesichtsfarbe aber sehr licht und die Augen blau. Und in dem blassen, edlen Gesicht, um den rosenroten Mund spielte jenes Lächeln, das ich nicht verstand. Denn ich war niemals der Geck gewesen, der sich gleich zu einer Eroberung gratuliert, wenn ihn eine Frau ansieht. Ich hatte auch nie Glück auf dem Trottoir, nie zärtliche Erfolge gehabt. Ich meinte also, daß jenes Lächeln sich auf irgend eine mir unbekannte Absonderlichkeit meines Äußeren beziehe – vielleicht auf den fremdländischen Schnitt meines Bartes, was weiß ich? …

Wir fuhren. Wäre ich nicht so tief davon durchdrungen gewesen, daß mir ein Liebesblick, ein verheißungsvolles Lächeln nicht gelten könne, so würde ich ihr vielleicht ein Zeichen gegeben, ein Gespräch begonnen haben. Ich tat nichts dergleichen. Ich starrte sie bloß verstohlen an. Dann kam Commercy, und bei Commercy endete mein Glück. Sie stieg mit ihrem Begleiter aus. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Ich stand am Fenster und sah hinaus auf den Perron. Da war sie noch einmal, blickte mich noch einmal an. Jetzt lächelte sie nicht mehr, die feinen Mundwinkel waren herabgezogen, verachtungsvoll. Galt auch das mir oder wieder einem Anderen? … Zwei Stunden später hatte ich sie vergessen.

Der Offizier, mit dem ich vor Paris in ein Gespräch gerathen war, brachte sie mir wieder ins Gedächtnis. Ehe wir uns trennten, sagte er mir scherzend: „Wissen Sie nicht? Die Dame von Commercy, sie hat Ihnen Augen gemacht! … Viel Glück noch weiter!“

Mir? War’s möglich?

Das Pariser Leben nahm mich auf. Ich brauche Ihnen das nicht zu schildern. Aus einem Taumel in den anderen. Ich machte lustige Bekanntschaften, auch in der besseren Gesellschaft. Es währte nicht lange, und ich verstand mich selbst auf die Frauen – so weit wir sie überhaupt jemals verstehen können. In einem Wirbelwind stoben die Monate davon. dann wurde ich in Geschäften heimberufen. Ohne sonderliches Bedauern reiste ich ab. In dem unaufhörlichen Genießen war ich ein wenig stumpf geworden. Ich kehrte also gelassen heim.

Während der ganzen Pariser Zeit hatte ich nicht eine Sekunde lang an jene flüchtige Begegnung gedacht. Erst auf der französischen Grenzstation fiel sie mir wieder ein. Da stand nämlich ein struppiger Junge und hielt Düten mit Naschwerk feil. Dazu gröhlte er: „Madeleines de Commercy!“ So heißen diese Süßigkeiten. Welch ein reizender Name und wie gut paßte er für die Unbekannte mit dem süßen Lächeln …

Hinüber in deutsches Land! Aber während unser Zug donnernd und klappernd die spätherbstliche Landschaft durchbrauste, flogen meine Gedanken rückwärts, nach dem sonnigen Anfang dieser Reise. Und alle Räusche und Tollheiten der letzten Monate waren spurlos vergangen, die guten Gesellen, mit denen ich getafelt, waren versunken; vergessen die Schönen, die ich umarmt, die Spröden wie die Gefügigen. Nur eine Einzige stand vor mir, begehrenswert und unerreichbar: die, deren Namen ich nicht einmal wusste, von der ich nichts besessen hatte, als ein Lächeln … Wenn ich die Augen zudrückte, sah ich sie – blässer als in der Wirklichkeit und noch bezaubernder und süßer, Madeleine de Commercy! …

Glauben Sie nicht, daß dieses törichte Gefühl gleich wieder verschwand. O nein. Es wuchs, je mehr ich mich von ihrer Heimath entfernte, je größer die Wahrscheinlichkeit wurde, daß ich sie nie wieder sehen könne. Zu Hause angelangt, trat ich in den gewohnten Kreis meiner Geschäfte und Zerstreuungen. Es geschah ziemlich mechanisch und freudlos. Mir war zu Mute, wie einem armen Teufel, der das große Loos besessen und vor der Ziehung fortgegeben hatte. Jenes Lächeln war eine Verheißung – ich hatte sie nicht begriffen …“

„Und Sie haben die Dame von Commercy nicht wiedergesehen?“ fragte der Hausherr.

„Geduld!“ sagte Herr Paul sanft. „Ich werde gleich zu Ende kommen. … Ein, zwei Jahre wandelten vorüber. Ich dachte in unveränderter Zärtlichkeit an die Liebliche. Das feine Gesicht, in dem das fragende, geheimnisvolle Lächeln blühte, kam mir nie aus dem Sinn. Und allmählich setzte sich in mir der Entschluss fest, sie aufzusuchen um jeden Preis. Dann wollte ich nicht mehr so albern sein, wie das erste Mal, sondern sie gewinnen mit Muth und Schlauheit …

Von langer Hand bereitete ich Alles vor. Die größte Chance, sie zu finden, hatte ich offenbar, wenn ich genau zur selben Zeit am selben Ort eintraf. In der Provinz ist man konservativ. Ob meine Unbekannte in Nancy selbst oder an einem anderen Orte der Umgebung wohnte – wahrscheinlich kam sie alljährlich zum weitberühmten Pfingstmarkt … Und als es sich zum dritten Male jährte, fuhr ich wieder den bekannten Weg nach Frankreich. Zögernd, im selben Zickzack, das mir ehemals die Reiselaune gezeichnet, näherte ich mich dem Ziele. Nie ward eine törichtere Reise unternommen, als diese Pilgerschaft nach einem Lächeln. Ich sagte mir es selbst. Welche Veränderungen konnten, mussten in der Zwischenzeit vorgegangen sein!

Mit einem schwermütigen Behagen kostete ich den Anfang jenes blassen Abenteuers noch einmal durch. Ich fuhr spät Abends am Pfingstsonntag von Baden-Baden nach Straßburg. Dann versäumte ich am Montag Morgens absichtlich den Pariser Eilzug. Dann ging ich noch einmal zurück in die feiertäglich öde Stadt. Dann stieg ich in den Bummelzug nach Nancy. Ich tat, wie wenn ich einen Roman, der mich einst bezauberte, zum zweiten Male läse. Abergläubisch meinte ich, daß dann notwendig auch dieselbe Stelle kommen müsse, an der mich jene holde Stimmung ergriffen hatte … Und sie kam.

Nancy! Helle, luftige, lustige Stadt. Gesang und junge Weiber und wehende Tricoloren. Alles wie damals. Und draußen der Jahrmarkt. Hastig und doch stockenden Fußes bin ich hinausgeschritten. Dieselben Lustbarkeiten, in Staub und Glanz gehüllt, am gleichen Ort. Da, unter den Bäumen, neben der Militärmusik, die Sesselreihen … Und da – da saß auch sie wieder! Sie, wirklich sie! Madeleine de Commercy!

Sie trug diesmal ein lichtes Kleid. Ich erkannte sie sofort, schon aus der Ferne. Wie hoch mein Herz nach so jahrelanger Sehnsucht schlug, wie’s mir in den Schläfen pochte, wie ich nach Atem rang … Aber längst war ich mit meinem Feldzugsplane im Reinen. Behutsam schlich ich hinter sie und stellte meinen Sessel so, daß ich Alles sehen konnte und dabei unauffällig blieb … Neben ihr befand sich der alte Herr – ihr Gatte oder Vater? Er sah vortrefflich aus und las Zeitungen – wahrscheinlich die gleichen Artikel wie damals in den legitimistischen Blättern vom Tage. Alles war so unberührt und unverändert, als wäre die Zeit stille gestanden, als schliefe Dornröschen noch. Nur sie war ein wenig voller geworden, frauenhafter, und runder, träger die Bewegungen, wie nach einem vorzüglichen Schlummer, der voll von rosigen Träumen gewesen … Sie saß ganz still und ernst da. Nur ihre Blicke wanderten immer in derselben Richtung, als erwarte sie Jemanden, Mich? Glaubte, hoffte auch sie, daß der Vorübergehende von damals erscheinen würde? Ich bebte vor Seligkeit.

O, ich erzähle Ihnen meine ganze Torheit, meine ganze Enttäuschung. Denn bald kam er, der Erwartete: ein Geck der Provinz. Da leuchteten ihre schönen Augen, und um den küssigen Mund tändelte jenes unvergessbare Lächeln, das verheißungsvolle, süße, liebeswarme …

Ich will Ihnen kurz das Ende sagen. Nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, versuchte ich in sehr törichter Weise noch einmal mein Glück. Ich suchte mich ihr bemerkbar zu machen. Ich ging dicht an ihr vorbei, starrte sie vielsagend an: Da bin ich – erkennst Du mich! Ach nein, sie erkannte mich nicht. Fremd und abweisend strich ihr Blick über mich hinweg. Als ich meine komischen Bemühungen beharrlich fortsetzte, machte sie endlich ihren Liebhaber aufmerksam. Und beide kicherten dann über mich. Es war für beide ein Hauptspaß. Ich hatte genug, schlich zerknirscht und beschämt von dannen. Ich habe sie nie mehr gesehen.“

„Und das ist Alles?“ rief spöttelnd Herr Fritz.

Der Doktor aber sagte ernsthaft: „Junger Fritz, Sie sind unendlich jung. Wenn ich das Schulbeispiel der wahren Liebe zu geben hätte, ich wüsste kaum ein deutlicheres. Denn hier ist Alles Illusion, Traum, Einbildung. Ein Hauch, ein Blick, ein Lächeln genügt.“

Und Herr Paul schloss mit einem leichten Seufzer: „Ja wohl. Doch zürne ich der Madeleine von Commercy nicht, habe ihr nie gezürnt. Denn ich verdankte ihr köstliche Jahre einer schönen Sehnsucht. Und wenn ich’s recht bedenke – was ist das Leben aller sensitiven Menschen Anderes als die Reise nach einem Lächeln?“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Philosophische Erzählungen