Die Heilung vom Spleen. 1892.

Im Vorzimmer des berühmten Arztes standen zwei buntlivrierte Mohren regungslos und wie aus Holz geschnitzt. Dem jungen Mann, der eben eingetreten war, half ein außerordentlich korrekter Kammerdiener, der wie ein Marquis aussah, beim Ablegen des Überrockes. Dieser Kammerdiener war auch wirklich Marquis, ein ehemaliger Löwe von Paris, der nach erfolgter Ausballotirung aus dem Cercle Impérial sich vorsichtsweise nicht erschossen hatte, sondern ausgewandert und in New-York nach dem gesunden Grundsatz vom lebendigen Hund Kammerdiener geworden war. Der Marquis gab Rock und Hut des jungen Mannes dem einen Mohren, worauf der andere wie ein gut geschmierter Automat den Arm erhob und eine Wartenummer hinhielt.

Der Besucher machte eine verächtlich ablehnende Bewegung und sagte kurz:


„Ich wünsche nicht zu warten.“

Der Marquis zuckte bedauernd die Achseln:

„Sir, ich könnte auch dem Präsidenten der Vereinigten Staaten nur die Nummer 48 geben.“

Der Ankömmling griff wortlos in die Tasche, reichte ihm eine Handvoll Dollars.

„Ach so!“ hauchte der Marquis und schnappte ergebenst zusammen, wie er es einst von seinem eigenen Kammerdiener gesehen hatte. (Das sind die unverlierbaren Vortheile einer schönen Abstammung.)

Im nächsten Augenblicke stand der Ungeduldige im Bibliothekssaale des berühmten Doktor Boaster. Ah, noch nicht im allerheiligsten Ordinations-Zimmer. So schnell ging das denn doch nicht. Ein Patient, der nicht warten muss, kann kein Vertrauen zu seinem Arzte haben. Boaster, der alles wusste, hätte dies nicht wissen sollen? Freilich wurde der ernsthafte Client, der vom Kammerdiener als solcher erkannt worden war, nicht in den großen Empfangssalon geleitet, wo die klafterlangen und hohen „Meissoniers“ hingen. Das bilderlose, tiefernste Bibliothekszimmer, das ordentlich nach durchwachten Forschungsnächten roch, war dazu bestimmt, diesen Wartenden das für höhere Honorarsätze unerlässliche Gruseln beizubringen. Große lateinische, nie gelesene Bücher überall. Bücher, Bücher, Bücher in dunklen Einbänden, nur stellenweise von dem freundlicheren Glanz eines Menschen- oder Tierskelettes unterbrochen. Auch scharf geschliffene, stählerne Instrumente blitzten da und dort. Denn keine Feinheit der Charlatanerie war Boaster fremd. Und doch war er ein großer Arzt. Er kannte den Menschen.

Der jetzige Besucher kümmerte sich blutwenig um all’ diese ausgeklügelten Herrichtungen, gleichgültig schritt er auf und nieder. Dann öffnete sich endlich die Tapetentür vom Ordinations-Zimmer aus.

„Wenn’s beliebt, Herr!“ sagte Doktor Boaster.

Nun saßen sie einander gegenüber. Boaster mit dem Rücken zum Fenster, während das volle Licht auf das rothwangige, gesunde, von dichtem Bart umgebene Gesicht des Hülfesuchenden fiel. Dieser begann:

„Doktor, wenn Sie mich herstellen, zahlen ich Ihnen ein Honorar von zehntausend Dollars.“

Boaster erhob die Hand leicht, wie zur Abwehr. Diese unendlich vornehme Gebärde konnte ebensowohl: „Ich helfe jedem Leidenden, ob er nun reich oder wohlhabend sei,“ bedeuten, als auch: „Ich habe schon größere Honorare bekommen.“ Dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen halb und fragte:

„Was fehlt Ihnen?“

„Nichts!“

„Oho!“ Boaster sah den Fremden scharf an. Ein Narr oder ein Spaßvogel? Nein. Der hielt den Blick ruhig aus. Da sagte der gefeierte Heilkünstler wohlwollend:

„Erklären Sie sich näher. Aber kurz!“

„Ganz kurz, Doktor! Ich werde Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen.“

„Sind Sie bei Trost? … Im Salon warten siebenundvierzig Menschen.“

„Bewilligen Sie mir fünf Minuten – die Minute stellt sich Ihnen also auf 2000 Dollars. Zeit war, glaub’ ich, noch nie so viel Geld.“

Der Doktor zog seine Uhr hervor:

„Sprechen Sie!“

„Als ich geboren wurde, hatte mein Vater eben seine erste Million voll. Er hatte sie in Hosenträgern verdient.“

„In Hosentr…?“

„Ja, Eine Erfindung. Sie kennen vielleicht die Windall Braces?“

„Ich trage selber welche.“

„Ich bin John Habakuk Windall – der Sohn des Erfinders.“

Der Doktor steckte die Uhr ein.

„Mit dieser Million,“ fuhr Windall der Jüngere fort, „ging mein Vater nach Chicago und fing an, Schweine bis zur Bewusstlosigkeit zu mästen. Mein Vater wurde dabei dreißig Millionen Dollars schwer. Als er dieses Gewicht erreicht hatte, starb er. Ich war einziger Erbe.“

„Wohlgethan! … Wenn es Ihnen aber gleichgültig ist, wollen wir jetzt von Ihrem Leiden sprechen, Mister Windall.“

„Wir sind mitten drin. Ich bin dreißig Jahre alt, frei, reich, kerngesund – wenigstens körperlich. Dennoch ist mir das Leben zur schrecklichen Last geworden. Mühsam schleppe ich mich aus einem Tag in den andern. Alles ist mir ekel und verhaßt. Ich langweile mich, wie zweiundzwanzig britische Lords zusammen genommen … Kurzum: Spleen! … Wissen Sie ein Mittel dagegen, so sagen Sie es mir. Wissen Sie keines, so geben Sie mir die schmerzloseste Todesart an, in der ein Mann weggehen kann. In beiden Fällen erhalten Sie die Zehntausend.“

„Ja, mein lieber Windall, da muss ich zunächst hören, was Sie schon Alles versucht haben. Ich nehme an, daß Sie schon Mehreres versuchten, ehe Sie zu mir kamen.“

„Sie nehmen richtig an. Ich habe Alles versucht. Reisen, Gefahren, Jagden, Spiel, Wein, Weiber.“

„Was für Weiber?“

„Alle Arten, alle Farben, alle Größen, alle Nationalitäten.“

„Sie sagten, Sie waren frei. Waren Sie es immer?“

„Es gab eine Zeit, in der ich verlobt war. Mit einem herrlichen Geschöpf: Miss Lillian Sleed, Tochter des Pferdedecken-Barons Sleed. Sie liebte mich um meiner selbst willen, denn sie ist ja noch um sechs bis acht Millionen schwerer als ich. Sie hat die Werbung eines der jungen Vanderbilt ausgeschlagen. Mich aber betete sie an. Ich verließ sie.“

„Weshalb?“

„Eines Sommerabends – wir saßen in ihrem Parke, der mit dem Fundus instructus drei Millionen unter Brüdern wert ist… Wir saßen auf der Steinterrasse vor dem Schlosse… Sagte ich schon: es war Sommerabend? Die Nachtigall schlug im Gebüsche – es duftete die Luft – der Mond schien – da entdeckte ich plötzlich, daß Miss Lillian Sleed mich mitsamt ihrer Liebe und ihrem Reichtume fürchterlich langweile. Ich erhob mich und teilte ihr mit, daß ich am nächsten Tage, in Folge einer Wette, nach Irkutsk in Sibirien reisen müsse. Das leuchtete ihr vollkommen ein. Sie reichte mir in lieblicher Wehmut ihre weiße Hand, die ich zum Abschiede küsste. Und ich ging nach Irkutsk. Als ich wiederkam, war sie noch unvermählt. Sie ist es noch heute, obwohl sie weiß, daß sie auf mich nicht zu hoffen hat. Sie ist mir zu schön, zu gut, zu reich – mit Einem Wort: zu vollkommen. Vollkommenheit ist unerträglich.“

„Das haben Sie gut herausgefunden, Mister Windall … Aber es gibt auch fehlerhafte Frauen.“

„Weiß ich. Und die mag ich erst recht nicht.“

„Ein schwerer Fall, Mister Windall! … Ich nehme an, daß Sie es auch schon mit verschiedenen Arten der körperlichen Ermüdung versucht haben.“

„Hab’ ich.“

„Kann’s mir denken. Die alte Schule der Heilung vom Spleen.“

„Alles nichts für meinen Fall, Doktor! Habe monatelang meine eigenen Schweine gehütet. Ich arbeitete längere Zeit in einem englischen Bergwerke. Fing dabei an zu husten, aber gelangweilt habe ich mich doch. Was Männer sonst erfreut, lässt mich kalt. Ich focht zum Beispiel in dem Cricket Match zwischen Amerika und Australien für die Ehre des Sternenbanners. Dabei hatte ich das Unglück, mein Vaterland um vier Points zu schädigen. Das kam so. Ich gähnte eben aus ganzer Seele, als der Ball geschlagen wurde, und er flog mir in den weit offenen Mund. Bis ich den Ball, der zwischen meinen Kiefern eingeklemmt war, herauskriegte, waren die vier Points weg… Wenn ich Ihnen sage, Doktor, daß ich die schwärzeste Form von Spleen führe, die je ein Mann englischer Zunge führte…“

„Seh’ ich ein, Windall, seh’ ich ein.“

„Nur der Vollständigkeit wegen will ich erwähnen, daß ich auch die Verarmung durchkostete.“

„Ah? … Das ist allerälteste Schule! Natürlich auch erfolglos?“

„Natürlich! Als ich in Irkutsk war, erhielt ich die Nachricht, daß ich durch verschiedene Unterschleife, Bankerotte und Betrügereien um mein ganzes Vermögen gebracht sei. Auch das besserte meine Laune nicht. Ich langweilte mich weiter. Nach Monaten, als ich heimkehrte, erfuhr ich, daß es eine fromme Lüge gewesen. Im Gegenteile, eine riesige Schweine-Conjunctur war eingetreten. Ich war reicher als je. Ich zuckte die Achseln.“

„Und wer hatte diesen naiven Plan ausgebrütet?“

„Miss Lillian Sleed. So glaubte sie mich von meiner Schwermut heilen zu können. Sie wollte mir recht wehe thun.“

„Das ist echt weiblich.“

„Und nun, Doktor, wende ich mich an Sie! Wenn auch Sie nichts für mich wissen, so wollen wir nach einem komfortablen Abgang für einen Gentleman suchen.“

„Gemach, Mister Windall! Ich weiß etwas.“

„Sie können mir helfen?“

„Ich kann.“

„Wenn es wahr wird, sollen Sie außer dem Honorar auch ein herrliches Geschenk bekommen.“

Boaster machte wieder jene unendlich vornehme Geste der Abwehr. Dann sprach er.

„Kommen Sie morgen Mittags in mein Sanatorium, Third Avenue 12. Bringen Sie mir ein von zwei Zeugen unterfertigtes Dokument mit, worin Sie feierlich erklären, daß Alles, was ich morgen mit Ihnen vornehme, auf Ihren Wunsch und nach Ihrem festen Willen geschieht.“

Windall lächelte freundlich.

„Ich sehe, Sie halten meinen Fall auch für hoffnungslos und wollen mich angenehm töten.“

„Ich will Sie heilen,“ sagte Boaster gelassen. „Es kann aber nicht schaden, wenn Sie für alle Fälle Ihr Testament besorgen. Ich nehme an, daß Sie nicht erschrecken.“

„Sie nehmen richtig an.“

„Also auf morgen!“

„Auf morgen!“

Boaster stand auf: „Hm, ja – und noch Eins, Windall. Sie können auch gleich den ausgefüllten Check über die Zehntausend mitbringen.“

„Ganz recht! …“ An der Tapetentür blieb John H. Windall unschlüssig stehen:

„Hm, ja – aber wenn Ihre Kur fehlschlägt, verfallen die Zehntausend auch dann?“

„Auch dann, Herr!“

„Und wer bürgt mir dafür, daß es kein wertloses Experiment sein wird?“

Boaster richtete sich hoch auf und sagte kühl und großartig:

„Mein Name! …“ Hierauf wendete er sich geringschätzig ab, öffnete die Tür des Wartesalons, rief hinaus:

„Nummer zwei!“

Windall hauchte nur noch niedergeschmettert:

„Ich komme morgen.“ Dann verschwand er…

Pünktlich um die Mittagsstunde des nächsten Tages fand John Habakuk Windall sich im Sanatorium, Third Avenue ein. Er wurde sofort in das Operationszimmer geleitet. Boaster, umgeben von zwei Assistenzärzten und zwei Pflegerinnen erwartete ihn.

„Alles in Ordnung, Windall?“

„Alles in Ordnung, Doktor! Hier die von zwei Zeugen unterfertigte Urkunde, hier der Check.“

„Wohl… Mister John H. Windall – Mister Ham und Mister Egg, meine Assistenten. Erklären Sie vor diesen Gentlemen, daß es Ihr freier Wunsch und Wille ist, sich meiner Behandlung anzuvertrauen. Erklären Sie, daß Sie als volljähriger Amerikaner und bei gesunder Vernunft Alles vorher billigen, was ich mit Ihnen vornehmen werde.“

„Ich erkläre es!“ sagte Windall fest.

„Wohl! Entkleiden Sie sich!“

In der nächsten Minute hatte John Habakuk seinen von junger Kraft und Gesundheit strotzenden Körper entblößt.

„Legen Sie sich auch diesen Tisch!“ kommandierte Boaster.

Es geschah ohne Zögern.

„Den Schwamm!“ befahl der Doktor, drückte ihn an des Patienten Mund und Nase. Gleich darauf schlief John H. Windall den Ätherschlaf.

Nun rief der große Arzt seinen Gehilfen zu:

„Nehmt ihn den rechten Fuß ab!“

Ham nickte.

Egg fragte einfach:

„Wo, Meister?“

„Am Knie, mein Junge! … Ich muss fort, Besuche machen. Verlasse mich auf euch. Sauber arbeiten, Jungens! Der Stummel wird in Spiritus aufbewahrt. Guten Tag!“

„Guten Tag!“

– – – Das Erste, was John wieder fühlte, war ein jäher, grimmiger Schmerz im rechten Knie. Er stöhnte mit noch geschlossenen Augen. Anfangs meinte er, zu träumen. Aber der wilde Schmerz ließ nicht nach. Da blinzelte er nach seinen Füßen hin. Ha! Er sah nur noch Einen. Blitzschnell war ihm Alles klar. Boaster hatte ihm einen Fuß geraubt!

Das Glück des in schlechten finanziellen Verhältnissen lebenden Mister Ham wollte es, daß er sich just in diesem Augenblicke über den Leidenden beugte, um nachzusehen, ob er schon erwacht sei. Denn Windall verabreichte ihm eine fürchterliche Ohrfeige.

Mister Egg bemerkte hierzu kollegial und philosophisch:

„Entkräftigung ist bei dem Patienten nicht eingetreten.“

Mister Ham zog sich schweigend zurück. Er hatte sofort die vermögensrechtliche Tragweite dieses Backenstreiches erfasst. In der Tat wurde ihm später der Schmerz und der an seiner Ehre entstandene Schaden mit 2000 Dollars abgelöst. Windall wollte die Sache nicht vor die Gerichte kommen lassen. Wesentlich billiger war der Fußtritt, den er einem der Wärter versetzte. And diesen hatte er nämlich eine Stunde nach dem Zwischenfall mit Mister Ham die sanfte Frage gerichtet:

„Ihr dreifach gesalzenen Schurken, wo habt ihr meinen Fuß hingetan?“

Der Wärter antwortete höflich:

„Herr, Sie können ganz unbesorgt sein. Bei uns geht nichts verloren. Hier ist Ihr werter Fuß.“ Und zeigte auf eine mächtige Spiritusflasche. Wohl hielt sich der Mann in weiser Entfernung von Windall’s Händen, aber er hatte mit dem noch vorhandenen linken Fuß nicht gerechnet. Von dieser jetzt vereinsamten Extremität empfing er denn auch einen nicht unbedeutenden Fußtritt. Weil jedoch kein edler Theil berührt wurde, gelang es Windall nachträglich, den Wärter mit 300 Dollars zu besänftigen.

Und wo war Boaster?

In den ersten Tagen, so lange John Habakuk schäumte und tobte und gebunden werden musste, ließ der große Arzt sich überhaupt nicht blicken. Als man ihm mitteilte, der Patient sei ruhiger geworden, besuchte er ihn.

John Habakuk rief ihm die von Jägerphantasie zeugenden Worte entgegen:

„Du Schakal von einem triefäugigen Aasgeier, ich werde Dir beide Ohren abschneiden und mir Deine Nase braten lassen.“ Nur hatte er zufällig die Zwangsjacke an, so daß der Doktor sich mit diesen sympathischen Absichten begnügen musste.

„Sobald Sie den Ton der guten Gesellschaft wiedergefunden haben, mein junger Freund, lassen Sie es mich wissen. Wir wollen dann weiter plaudern.“ Und mit fürstlichem Anstande zog sich der Mann der Wissenschaft zurück, während sein Opfer ihm noch eine Unzahl Namen aus den verrufensten Gebieten der Zoologie nachschrie.

Es dauerte volle drei Wochen, bis J. H. Windall den Ton der guten Gesellschaft wiedergefunden hatte. Denn er war eine kräftige Natur, die allem lange widerstand. Aber die Langeweile machte ihn gefügig. Ah, nicht jene alte Langeweile, die ihn vordem geplagt. Eine genusssüchtige, lebenslüsterne war es – etwas wie die Sträflingsgier nach freien Himmeln, weiten Spaziergängen. Er ließ sich die Zeitungen bringen und las mit wachsender Leidenschaft die Sportberichte vom männlichen Football bis hinunter zum harmlosen Lawn Tennis. Die Mitteilungen aus dem Skating Rink und Anzeigen von Tanzunterhaltungen versetzten ihn in hitzige Aufregung. Er wäre überall gern dabei gewesen, wo man zwei gesunde Füße braucht. Diese Seelenstimmung führte er endlich in einem elegischen, aber höflichen Schreiben an Dr. Boaster aus, den er um seinen Besuch bat.

Der berühmte Arzt erschien.

Und bitter, wenn auch sanft sprach John Habakuk:

„Wollten Sie mir so das Leben angenehm gestalten, indem Sie mich zum Krüppel machten?“

„Mein junger Freund,“ erwiderte Jener, „das Leben ist schön – nur muss einem etwas dazu fehlen. So ging meiner Weisheit Schluss.“

„Und Sie verhinderten mich für immer daran, was ich am meisten liebe: Tanzen, Reiten, Laufen!“

„Mister John, man liebt nur das, was man nicht haben kann! … Übrigens habe ich mich mit einem ausgezeichneten Mechaniker in Verbindung gesetzt. Schon arbeitet er an einem künstlichen Fuß für Sie, der es Ihnen möglich machen wird, ohne Krücke zu gehen. Es soll ein Meisterwerk werden. Kein Mensch wird ahnen, daß nicht auch Ihr rechter Fuß von Fleisch und Bein ist. Kostet 8700 Dollars.“

„Nicht billig!“ meinte Windall. Und nach einer Pause: „Weiß Lillian Sleed, daß ich um einen Fuß ärmer geworden bin?“

„Keine Seele in New-York weiß es – mit Ausnahme meiner verschwiegenen Angestellten. Man vermutet Sie bei Ihren Schweinen in Chicago. … Mein Mechaniker hofft, daß Sie nach ein paar Monaten der Übung auch mit Ihrem neuen Fuße werden tanzen, reiten und Schlittschuh laufen können.“

Da lächelte John Habakuk gerührt:

„Habe die Meinung, Doktor, daß es doch noch schlechtere Menschen gibt als Sie.“

Innerlich ergänzte er diesen Ausspruch dahin: „Man muss sie freilich suchen…“

Ein halbes Jahr später führte er Miss Lillian Sleed als seine Gattin heim. Mit der Anziehungskraft eines Abgrundes hatte ihn der Gedanke verlockt, daß sie im Brautgemache seine Verkrüppelung entdecken würde. Und wie er nun einmal von diesem Höhenschwindel erfasst war, da stürzte er auch richtig ab – in die Ehe.

„Lillian!“ sagte er ihr, als sie „endlich allein“ waren – „Lillian, ich muss Dir ein beschämendes Geständnis machen – beschämend für mich, weil Du so vollkommen bist! … Ich verfüge nur über einen Fuß.“ Er schnallte ihn ab.

Die junge Mistreß Lillian Windall überglänzte John mit ihren blonden Augen. In lieblicher Bewegung hob und senkte sich ihr anmutreicher Busen. Dann lispelte sie:

„Ach, John, wie selig macht mich dieses Bekenntnis! Auch ich hatte Dir eine Kleinigkeit zu verbergen.“

Und rasch nestelte sie ihren anmutreichen Busen von den Schultern und legte ihn auf das Nachtkästchen. Er war vom selben Mechaniker – der für die besten Familien New-Yorks arbeitet. …

Einige Monate nachher. Auf einem Ball der guten – hm, sagen wir: der reichen Gesellschaft. Mistress Windall flirtet bereits unter den Palmen jener Fensternische mit irgend einem sehr blonden und rotbefrackten Jüngling. John Habakuk durchrast derweilen im Walzertakt den Saal. Drei seiner Tänzerinnen, kräftige Mädchen, mussten sich schon lendenlahm und keuchend in den Buffetraum zurückziehen. Der bekannte irische Witzbold Oberst Mac Row, der für seine beißenden Bemerkungen wiederholt durchgeprügelt worden, meinte:

„Dieser Windall tanzt so leidenschaftlich, wie wenn er ein Greis wäre.“

Endlich ist aber auch John, der Unermüdliche, müde. Er drückt sich das Taschentuch vor die heiße Stirn und tritt zurück. Da flüstert hinter ihm Jemand:

„Geben Sie nur Acht, daß Sie Ihren Fuß nicht verlieren! Die jungen Damen könnten erschrecken.“

Blass vor Zorn und Scham wendet John sich nach dem Sprecher um.

„Ah, Sie mein teuerster Doktor!“

Boaster ist leichtsinnig genug, ihm die Hand zu geben. Als er sie nach vier Sekunden zurückzieht, sind die Finger blau und rot geschwollen. John Windall will offenbar durch diese Misshandlung andeuten, wie sehr er sich über das Wiedersehen freue.

Der Doktor lächelt mühsam:

„Na, und Sie haben ja auch geheiratet, wie ich höre? Ihre schöne Miss Lillian!

John Habakuk neigt sich dicht an sein Ohr und seufzt:

„Leider!“

„He?“

„Leider, sage ich, Doktor! Leider…: Ihnen kann ich ja alles gestehen. Sie ist der abscheulichste Drache der Vereinigten Staaten.“

„Danken Sie dem Himmel, Windall! Jetzt erst sind Sie vollkommen geheilt.“

„Noch Spott?“

„Junger Mann – uns Menschen muss etwas drücken. Nun haben Sie eine Frau. Die wird schon weiter dafür sorgen, daß Ihnen das Leben nicht zu leicht werde. Wie Ihnen jetzt Tanz und junge Mädchen gefallen, heh? Habe die Ansicht, daß es nur eine Radicalkur gegen den Spleen gibt: die Ehe. Dieses Mittel wagte ich freilich damals nicht, Ihnen vorzuschlagen.“

„Sie wagten etwas nicht? Sie! Und warum?“

„Das Mittel schien mir zu grausam.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Philosophische Erzählungen