Abschnitt 2

Die Sternenwiese.


Als der Apfel aufgegessen war, faltete der Sandmann die Hände auf dem Rücken und sah die Kinder an. Er wollte böse aussehen, aber der Apfel hatte so gut geschmeckt, daß es ihm nicht mehr richtig gelang, ein grimmiges Gesicht zu schneiden. „Ihr Hemdenmätze, was wollt ihr denn hier? Ihr sollt doch schlafen!“ schmunzelte er. Jetzt trat Peterchen mit einer Verbeugung vor und erklärte den Grund der Reise. Ja, von der Geschichte hatte der Sandmann schon gehört. Sie war einmal auf einem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee erzählt worden, vor etwa tausend Jahren; und damals waren alle Gäste sehr gerührt gewesen von dem Schicksal der Sumsemänner. „Hm, hm“, meinte das Männchen jetzt und rollte mit den Augen, so stark dachte es nach. Aber da kam ihm schon wieder der Geruch von den Äpfeln in die Nase, die Peterchen in seinem Korbe hatte. „Gib mir noch einen Apfel!“ sagte es plötzlich mitten im Denken und hielt die Hand hin. Das tat Peterchen natürlich gern. Als der Sandmann nun auch den zweiten Apfel verspeist hatte, war all sein Grimm verflogen, und er nickte wohlwollend mit dem Kopfe. „Jaja, die Geschichte der Sumsemänner, die war überall am Himmel bekannt.“


Aber sollte der Maikäfer nun wirklich zwei artige Kinder gefunden haben, um das Beinchen zurückzuerobern? Das wäre doch ein ganz gewaltiges Glück für die Sumsemänner!

Es mußte also festgestellt werden, ob die Kinder artig waren; sonst ging die Geschichte nicht. Mit großen, feierlichen Schritten begab sich das Sandmännchen zu seinem Sprachrohr und rief nach dem Himmel hinauf: „Die Sternchen von Anneliese und Peterchen sollen mal schnell herunterkommen!

Und was geschah?

Zwei winzige Sternpünktchen lösten sich hoch oben vom Himmelsgrund und fielen leuchtend herab auf die Wiese. Im gleichen Augenblick standen dort zwei wunderschöne kleine Mädchen mit blonden Locken und lachenden Augen. Silberne Hemdchen hatten sie an und silberne Schuhe; funkelhelle Strahlenkronen aber blinkten auf ihren Köpfen. „Peterchen, mein Peterchen!“ rief das eine Sternchen. „Meine kleine Anneliese!“ rief das andere. Und dann gab's eine fröhliche Begrüßung. Die Kinder liefen zu ihren Sternchen, und sie umarmten und küßten sich. Dem dicken Maikäfer kamen ordentlich die Tränen in die Glotzaugen vom Zusehen, so hübsch war es. Rührung durfte aber nicht einreißen, denn die Geschichte war ernst. Also tat das Sandmännchen wieder sehr grimmig, verbat sich die Küsserei und fragte die Sternchen, ob die beiden Kinder, Peterchen und Anneliese, kein Fleckchen auf die Kronen ihrer Sternchen gemacht hätten. Da lächelten beide Sternchen und schüttelten ihre silbernen Locken. Blitzblank waren die Kronen. Jetzt schmunzelte das gute Sandmännchen, denn es freute sich sehr darüber, und die Kinder durften den Sternchen noch einen Kuß geben. „Ach, war das schön!“

So ein Sternchenkuß schmeckt so lieb, daß man es wirklich gar nicht beschreiben kann; man muß es erleben; und man erlebt es, wenn man gut ist.

Husch! waren die Sternchen wieder fort und standen als Lichtpünktchen am Himmel. Die Kinder guckten ihnen ganz traurig nach, aber plötzlich mußten sie laut lachen. Der Maikäfer tanzte nämlich wie ein Verdrehter auf der Sternenwiese herum und warf dabei mit den Beinchen mindestens ein Dutzend Sternenstühlchen um, die dort standen. Er freute sich, daß die Kinder artig waren, denn in seiner Familiengeschichte stand, artige Kinder müßten es sein, sonst sei alle Mühe umsonst. Nun war es sicher, daß er sein Beinchen wiederbekam. Schrecklich freute er sich!

Der Sandmann verstand zwar, daß das Sumsemännchen sich freute; aber, daß es die Sternenstühlchen umwarf, war gegen die Ordnung, und er verbat sich dieses maikäferhafte Benehmen sehr energisch. „Ein Freudentanz sollte das sein? Ein ganz dummes Rumgebrumsel sei es! Auf der Sternenwiese mache man so was nicht; überhaupt, wenn man so dick wäre und so unsicher auf den Beinen!“

Da hatte der Sumsemann seine Strafpredigt weg. ‘Das Sandmännchen ist sehr ungebildet', dachte er, denn die Maikäfertänze sind die schönsten Tänze der Welt, das weiß jeder. ‘Und er, der Sumsemann, sei unsicher auf den Beinen? So was Lächerliches! Alle wüßten, wie elegant er auf den Kastanienblättern im Garten tanzen konnte; und nun sollte man ihn erst mal sehen, wenn er das sechste Beinchen wieder hätte!' - Beinahe hätte er laut gelacht; aber er verkniff sich das Lachen, denn er war vorsichtig und wollte sich nicht unbeliebt machen. „Entschuldigen Sie, Herr Sandmann!“ sagte er, machte einen Kratzfuß und sah bescheiden aus. Nur ganz heimlich warf er den Kindern ein paar Kußhändchen zu. Sandmännchen hatte den Finger an seine Nase gelegt und dachte tief nach. Es war nämlich eine recht gefährliche Geschichte, die von den beiden Kindern unternommen werden sollte; und weil er sie schon sehr lieb hatte, wollte er ihnen nun auch mit allen Kräften beistehen auf der weiteren Fahrt. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Gerade heute, um 12 Uhr mitternachts, gab die Nachtfee einen Kaffeeklatsch für die Naturgeister in ihrem Schloß. Er war auch eingeladen. Die Nachtfee war sehr mächtig; viel mächtiger als er. Sie war es ja auch gewesen, die vor vielen hundert Jahren den bösen Holzdieb auf den Mondberg verbannt und den Sumsemännern erlaubt hatte, mit artigen Kindern das Beinchen von dort wieder herunterzuholen. Wenn er die Kinder also mitnähme auf das Schloß der Nachtfee zu dem Kaffeeklatsch? Sie war eine gütige Fee und würde ihnen sicher ihren Schutz leihen. Peterchen und Anneliese konnten bei dieser Gelegenheit sogar die Naturgeister kennenlernen, die ihnen vielleicht später beistehen würden. Ja, das war ein prächtiger Gedanke!

Das Männchen machte einen Sprung in die Luft vor Vergnügen über diesen Einfall, daß sein spitzes Bäuchlein nur so wackelte; dazu schrie es: „Ich hab's! ich hab's! ich habe einen himmelsraketenmäßig prächtigen Gedanken, Kinderchen!

Und er erklärte ihnen alles, was er vorhatte. Das war allerdings ein wunderbar schöner Plan!

Peterchen freute sich gewaltig auf die Naturgeister, und Anneliese auf die schöne Nachtfee. Der Sumsemann hatte zwar wieder Angst, denn die Bekanntschaft mit den Naturgeistern schien ihm gefährlich; doch er unterdrückte es, tat mutig und fand den Einfall des Sandmännchens sehr schön. Der Sandmann aber zog jetzt eine riesengroße Taschenuhr aus dem Schlafrock, tippte mit dem Finger auf das Zifferblatt und sagte: „Gleich muß er da sein!“

Er meinte nämlich seinen Mondschlitten, mit dem er zum Schloß der Nachtfee fahren wollte. Und richtig, da kam auch schon etwas durch die Luft!

Ein schneeweißer Schlitten war es, der von acht Nachtfaltern an silbernen Bändern gezogen wurde. Lautlos, wie ein Wölkchen glitt er heran und hielt vor den Kindern. Die Nachtfalter hatten große, leuchtend grüne Augen und schlugen geheimnisvoll mit ihren schönen, schimmernden Flügeln. Dazu bewegten sie ihre goldenen Fühlhörner, an denen gläserne Glöckchen klangen. Staunend sahen die Kinder dies. Aber es gab keine Zeit mehr mit Verwundern zu verlieren. Der Weg, den sie zu fahren hatten, war weit. So nahmen sie alle schnell im Schlitten Platz. Man saß wie auf seidenen Wolken darin. Sandmännchen ergriff die Zügel, die Nachtfalter hoben die Schwingen, leise klangen die Glasglöckchen und - fort ging die Fahrt über die Sternenwiese hin, auf die Milchstraße zu, an deren fernem Ende das Schloß der Nachtfee lag.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peterchens Mondfahrt