Abschnitt 1

Die Ankunft der Kinder im Schloß der Nachtfee.


Alle Gäste der Nachtfee waren nun eingetroffen, und nur das Sandmännchen fehlte noch in dem großen Kreise. Es war sonst immer sehr pünktlich, und daher wunderte sich die Nachtfee und wollte eben ein Sternchen damit beauftragen, einmal durch das große Wolkenfenster die Milchstraße entlang zu gucken, ob denn der Sandmännchenschlitten noch nicht zu sehen sei, da kam plötzlich der Milchstraßenmann wieder herbeigelaufen und lachte so fürchterlich, daß er kaum noch Luft bekam; ganz krumm stand er da und trat immer von einem Bein aufs andere. Die Nachtfee wollte wissen, was denn nun schon wieder los sei, und alle anderen natürlich auch; aber der Milchstraßenmann bekam vor Lachen kaum ein Wort heraus; man verstand nur den einen Satz:


„Frau Nachtfee, das Sandmännchen ist verrückt!
Ich glaube, es hat den Mondstich gekriegt!“

Dazu wies er mit der Hand immerfort nach dem Eingang hinter sich, und richtig, da kam das Sandmännchen schon herein, allerdings in einer Begleitung, die höchst erstaunlich war: „Zwei Kinder im Nachthemd und ein Maikäfer!“

Einen Augenblick war alles stumm vor Erstaunen, dann aber ging ein ungeheures Getöse los. Der Sturmriese heulte vor Lachen, der Donnermann trommelte sich den Bauch und hätte sich beinah bei einem Dönnerchen verschluckt, der Wassermann quakte wie ein betrunkener Frosch, der Regenfritz jaulte vor Freude wie ein verstimmter Leierkasten, die Blitzhexe schrie und stank, die Windliese pfiff und summte, der Eismax meckerte wie ein Ziegenbock vor Vergnügen - kurz, es war ein Höllenlärm. In dem allem stand das Sandmännchen ganz ruhig, hatte die beiden Kinder, jedes an einer Hand, den Maikäfer hinten an seinem Schlafrockzipfel, und sah sehr klug aus. Es dachte: „Das Getöse wird sich schon legen!“

So war es denn auch. Die Nachtfee stand auf und reckte die Hand aus; da waren alle still. Und nun fragte sie, was das zu bedeuten habe: zwei Kinder im Nachthemd, und ein Maikäfer, hier in ihrem Schloß beim Fest der Naturgeister?

Jetzt trat das Sandmännchen vor, verneigte sich und erzählte klar und einfach, wer dieser Maikäfer sei, und was die Kinder hier wollten.

Natürlich war nun das Erstaunen noch größer; aber es lachte keiner mehr, sondern alle waren von dem Mut der Kinder entzückt, besonders der Eismax, der sich so nahe herandrängte, um Peterchen zu betrachten, daß ihm beinahe der Schnurrbart von der Sonne abgeschmolzen worden wäre. Die Nachtfee sah den Käfer an: „Da hast du also wirklich zwei artige Kinderchen gefunden, die so viel Mut haben und so viel Liebe zu den kleinen Tieren, daß sie so große Gefahren bestehen wollen für dich, Maikäferlein?“ fragte sie. „Zu dienen, zu dienen, Frau Nachtfee!“ stotterte der Sumsemann, zitternd vor Aufregung, und machte mindestens sechs Kratzfüßchen hinter dem Rücken des Sandmännchens. „Donnerwetter, hat der Kerl ein Glück!“ bullerte der Donnermann. „Kolossal!“ schnarrte der Eismax, und alle anderen waren derselben Ansicht. Die Nachtfee aber kam herunter von ihrem Thron, nahm die Kinder in die Arme und küßte sie auf die Stirn. „Fürchtet ihr euch denn gar nicht, ihr kleinen Wesen?“ fragte sie. Anneliese sagte nichts; sie faßte Peterchen nur bei der Hand und machte ganz große Augen; Peterchen aber schüttelte energisch den Kopf und zog sein Holzschwert. „Angst haben sie nicht!“ meinte der Sandmann schmunzelnd; er hatte es ja schon verschiedene Male festgestellt. Man konnte ihm auch wirklich glauben, denn Peterchen stand wie ein kleiner Soldat so stramm mit seinem Schwert vor der wilden Gesellschaft im Saal. Das machte natürlich dem Eismax viel Vergnügen, und auch der Morgenstern und der Abendstern, die Söhne der Sonne, blitzten sich an. Der Junge gefiel ihnen wirklich. „Gut!“ sagte die Nachtfee und strich Peterchen über den Kopf; denn nun sollten sie ihr Abenteuer mit dem Mondmann mit Hilfe der großen Naturkräfte bestehen, weil es wirklich ein sehr gefährliches Abenteuer war.

Sturmriese, Donnermann und Wassermann wurden also von der Nachtfee gefragt, ob sie den Kindern helfen wollten. Natürlich wollten sie es, und der Donnermann, dem das viel Spaß machte, trat ganz dicht an Peterchen und Anneliese heran, um zu prüfen, ob es mit der Furchtlosigkeit auch wirklich stimmte. „Potz Knatter, Knäblein, Er will es wagen? Kann Er denn einen kräftigen Donner vertragen?“ bullerte er. „Herr Donnermann, ich hab' keine Angst!“ meinte Peterchen unerschrocken und nahm Anneliese dicht in seine Arme. Bums! - gab es plötzlich einen fürchterlichen Donnerschlag, daß der Boden der Halle bebte und die Säulen der Kuppel zu klingen anfingen. Aber Peterchen stand mutig vor dem wilden, rothaarigen Donnerriesen und sagte: „Das war noch gar nichts, Herr Donnermann! Mach's ruhig noch mal!“

Auch Anneliese hatte keine Miene verzogen. Sie hielt dem Donnermann nur einen rotbäckigen Apfel zur Besänftigung unter die dicke Nase. Daß jetzt der Donnerriese sich freute, war selbstverständlich. Er fraß den Apfel schmunzelnd auf, meinte, daß Peterchen Artilleriegeneral werden würde, und schwor, ihm gegen den Mondmann zu helfen. Ebenso tat der Sturmriese, nachdem er einen plötzlichen, fürchterlichen Wirbelwind mit vollkommener Finsternis gemacht hatte, ohne die Kinder umzublasen oder auch nur zu erschrecken. Auch der Wassermann versprach ihnen seine Hilfe, weil er von den Wassernixen wußte, daß die Kinder nicht wasserscheu wären und daß sie Schwamm, Badewanne, Seife und Zahnbürste tüchtig gebrauchten. Als Peterchen ihm gar sagte, daß er schon schwimmen könne wie ein kleiner Frosch, war der dicke Wassermann vollkommen zufrieden und rutschte quaksend wieder in seine Wanne zurück. So war auch diese Probe glücklich überstanden; nur der Maikäfer war schon anfangs bei dem großen Donner umgefallen und hatte die ganze Zeit auf dem Rücken gelegen. Das war aber gleichgültig; es hatte zum Gelingen der Fahrt nichts zu bedeuten, da es nur auf den Mut der Kinder ankam. Die halfen nun dem umgefallenen, zitternden Sumsemann freundlich wieder auf die Beine. Von dieser Hilfsbereitschaft war die Nachtfee und besonders die Sonne sehr erfreut.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peterchens Mondfahrt