Zustand der Bauern

„Denn Du kannst im Lauf nicht stehen,
Du wählst Gefahr für Ruh’;
Wie der Mond muss rastlos gehen,
Edler Held, so tust auch Du.“

Tscherning.


Unter dem Geräusche der Waffen waren die Klagen eines durch Missbrauch der Macht der Großen und der Beamten gedrückten Volkes nicht zu dem Ohre des Monarchen gedrungen.

Es war gegen das Interesse der Großen, seiner Umgebung und der höheren Beamten, ihn davon in Kenntnis zu setzen. So trug sich Peter noch lange mit der Illusion, daß sein Volk glücklich und wohlhabend sei.

Nur das entging ihm jetzt — bei der Ruhe, die er in Petersburg genoss — nicht, daß die Finanzen des Reichs in Unordnung geraten waren, und die Einnahmen nicht mehr von den Ausgaben gedeckt wurden. Schon seit mehreren Jahren war seine Armee unregelmäßig bezahlt und verpflegt worden. Viele ausländische Offiziere hatten deshalb das Heer verlassen. Viele tausend Arbeiter, aus den entferntesten Gegenden des Reichs zusammengetrieben, waren im Elend umgekommen. Überhandnehmende Teuerung drückte das Land.

Mögen auch die langwierigen, viel Menschenleben kostenden Kriege die Hauptveranlassung zu dieser Landesnot gewesen sein, so ließ es sich doch nicht verkennen, daß der Übermut und die Erpressungen der Gutsherren und Staatsbeamten noch weit schwerer auf dem Volke lasteten, als die im Ganzen nicht sehr drückenden Staatsabgaben. Je mehr der Zar den Übermut der Knäsen und Bojaren zu beugen suchte, um so härter verfuhren Diese gegen die Bauern.

Über die unglückliche Lage dieser bedeutenden Volksklasse und deren Bedrückung empfing Peter erst das wahre Licht durch eine freimütige Denkschrift, die ein kühner Schriftsteller abgefasst und — in mehreren Exemplare auf seinen Weg gestreut hatte.

Der Zar ließ dieselben aufnehmen, und las die furchtbarste Anklage, welche die ins Große gehenden Missbräuche und Übelstände enthielten, in der Einsamkeit.

Von der Wahrheit des gegebenen Bildes eines nie geahnten Volkselendes auf das Tiefste erschüttert, wurde er tiefsinnig und nachdenkend. Niemand ahnte die Ursache davon, denn er sprach auch nicht gegen seine Vertrautesten davon. Doch erließ er unerwartet einen öffentlichen Aufruf, worin er, unter Zusicherung der Sicherheit und seines Schutzes, den Verfasser einer anonymen Schrift, welcher den Zustand der Bauern schilderte, aufforderte, sich bei ihm zu melden und Beweise für die Wahrheit zu bringen.

Der Verfasser meldete sich, und hatte bei ihm mehrere lange Audienzen; Peter setzte eine Kommission nieder, um diese Beschwerden zu untersuchen und Vorschläge zur Abstellung derselben zu machen.

Diese Verhältnisse der Bauern in Rußland sind aber so eigentümlich, daß sie verdienen näher gekannt zu sein.

In älteren Zeiten war der Bauer in Rußland ein freier Mann. Er war noch nicht so, wie heute, als Leibeigener an die Scholle gebunden; man kannte keinen Unterschied zwischen Kron- und Adelsbauern. Eigenes Land besaß der Bauer nie in Rußland. Nur allein der Adel, oder die vom Zaren Güter geschenkt erhalten hatten, waren zum Grundbesitze berechtigt. Von diesen Eigentümern erhielt der Bauer die von ihm zu kultivierenden Äcker auf bestimmte Jahre und unter gewissen Bedingungen in Pacht. Der Bauer nahm die fünfte oder zehnte Garbe für seine Arbeit; die ganze übrige Ernte war das Eigentum des Gutsherrn. Nach Ablauf der Pachtzeit hatte jeder Teil das Recht der Aufkündigung. Der Herr entließ den Bauer, der etwa den Landbau versäumt hatte, und der Bauer, der unzufrieden war mit seinem Gutsherrn, suchte bei einem andern sein Unterkommen.

In dieser Freizügigkeit lag der Schutz des Bauern gegen üble Behandlung und des Gutsherrn gegen üble Bewirtschaftung seines dem Bauern in Pacht gegebenen Lindes. Daß der Pacht in einem Naturalanteil am Gewinn bestand, hatte auch sein Gutes bei einem rohen Volke, welches bares Geld nicht haben konnte, ohne es für Branntwein zu verschwenden. So war es noch unter dem Zar Iwan Wasiljewitsch.

Aber immer mehr wurde es geltend gemacht, daß diese Freizügigkeit für das Steuerwesen des Staats eine Belästigung war. Und das war wohl der Hauptgrund, weshalb der Zar Feodor Iwanowitsch eine Änderung traf, die auch die Grundherren dafür sichern sollte, daß sie nicht durch Abziehen ihrer Bauern, wenn ihnen etwa Andere bessere Bedingungen boten, in Verlegenheit und Verluste gerieten. Und so verordnete denn dieser Nachfolger Iwans im Jahre 1395, „daß künftig kein Bauer ohne Genehmigung seines Herrn das Land, worauf er ansässig war, wieder verlassen dürft.“

Diese Verfügung, welche man zu mildern suchte, wurde 1626 von dem Zaren Michael Feodorowitsch in seiner ganzen Strenge wieder hergestellt. Dadurch wurde der Grund zu der Leibeigenschaft gelegt, die noch jetzt auf dem russischen Bauer lastet und Rußlands Kultur unterdrückt, dabei die Menschheit herabwürdigt.

Bald vergaßen die Edelleute, die nun des Besitzes ihrer Bauern unter allen Umständen sicher waren, jede Schonung. Sie legten willkürlich auf ihre leibeigen gewordenen Bauern die Abgaben, die der Staat von ihm forderte. Bald ging die Willkür noch weiter. Die leibeigenen Bauern, die jetzt Seelen genannt wurden, obgleich Alles geschah, um eben die Seele am Menschen bei ihnen ganz zu unterdrücken, wurden wider ihren Willen von dem Orte, wo sie geboren waren, von dem Lande, das sie kultiviert hatten, selbst von ihrer Familie fortgerissen, um, auf unwirtbaren Boden versetzt, diesen kulturfähig zu machen, oder sie wurden in Sümpfe geschickt und zum Kanalbau verwendet, wo sie zu Tausenden umkamen. Ja noch mehr, die Herren verkauften ihre Seelen als Sklaven zu rein persönlichen Diensten, oder man ließ sie Handwerke, Handlung erlernen oder auch in Kanzleien ihr Glück machen; aber Alles, was sie erwarben, gehörte dem Herrn. In den Städten gab es oft reiche und gebildete Kaufleute, Fabrikanten und Künstler, die Nichts für sich erwerben konnten, denn sie waren Leibeigene. Der Herr konnte sie verkaufen oder am grünen Tische verspielen, wie er wollte, auch beerben, mit Ausschluss der Kinder, denn sie waren und blieben: Leibeigene.

Das alte Horazische Klagelied:

„Non vos vobis aratis boves;
Non vos vobis mellificas apes!“

(Nicht für Euch pflügt Ihr Stiere; nicht für Euch bringt Ihr Bienenhonig.)

So auch das liefländische Volkslied:

„Bringt ihm die Kuh ein Kalb,
Gehört's dem Herren halb u.“

sind damals, wie noch jetzt, auf den russischen Bauer volle Anwendung.

Die Staatsabgaben für den Bauer, so weit sie wirklich in den Staatsschatz flossen, waren nicht bedeutend; um so drückender waren die Sporteln und Accidenzien, die fast willkürlich von den Großen und ihren Beamten und Schreibern erhoben wurden. Jeder, groß und klein, wollte am Bauer ziehen, und so behielt dieser Nichts als Arbeit und Not. Die Bauern wurden mehr den unreinlichsten Tieren ähnlich, als Menschen, und wenn der Gutsherr Soldaten zu stellen hatte, so ließ er die jüngeren Bauernburschen ausfangen und schickte sie für dreißig Jahre ihres Lebens ab, um die Muskete zu tragen, und die Knute hatte täglich viel Arbeit, ihnen Disziplin und Zivilisation beizubringen; dagegen war diesen slavischen Naturen hündische Unterwürfigkeit und blinder Gehorsam wie angeboren, und das sind noch heute die Eigenschaften der russischen Soldaten, die indes oft unter Umständen Wunder der Tapferkeit verrichten.

Über alle diese Missbräuche und Übelstände durch die erwähnte Denkschrift und die mündlichen Mitteilungen ihres Verfassers aufgeklärt, dachte Peter mit schwerem Herzen ernstlich an die Verbesserung der Lage der unteren Schichten seines Volks.

Man riet ihm, die Leibeigenschaft gänzlich aufzuheben. Peter erkannte, daß es das einzige Mittel war, Ackerbau und Gewerbsfleiß zu heben, und sein Geist war aufgeklärt genug, um das Entwürdigende solcher Sklaverei für die Menschheit zu erkennen. Hätte er diesem Rate und dem Drange seiner eigenen Neigung gefolgt und die Aufhebung der Leibeigenschaft mit der ihm beiwohnenden Energie durchgesetzt, die Gutshörigkeit der Bauern in freies Erbpacht-Verhältnis verwandelt, so würde die Gesittung Rußlands in den unteren Volksschichten ihren sichern Boden gefunden haben, und sich mehr, wie heute der Fall ist, über die ganze Nation verbreitet haben.

Aber Peter der Große wagte es nicht, diesem Rate zu folgen. Was bei vielen Monarchen dem Zulassen freier Verfassungen widerstrebt — der Gedanke: „die Völker sind noch nicht reif für die Freiheit!“ das war auch hier sein Bedenken. Er sah diese tierischen Naturen der von Branntwein dunstenden bepelzten Bauern, und hielt es für unmöglich, ihnen eine Freiheit zu geben, die sie, wie er meinte, nur benutzen würden, um noch tiefer zu versinken. Dazu wagte er nicht, die Großen des Reichs, die Gutsherren und Beamten, gleichsam vor den Kopf zu stoßen, die dann behaupten würden, weder Abgaben aufbringen, noch Soldaten stellen zu können. Und so dachte er denn: es sei schon viel gewonnen, wenn nur die gröbsten Missbräuche in dieser Hinsicht abgestellt würden; dann werde sich für die Zukunft die Emanzipation der Bauern vorbereiten lassen, ohne, wie jetzt zu besorgen sei, zu einer Revolution Veranlassung zu geben.

Und nun schritt er vor aus diesem Wege der Reform mit der vollen Energie und Rücksichtslosigkeit gegen Stand und Reichtum, die ihm eigen war.

Peter setzte eine Kommission nieder, die unter dem Vorsitze des Generals Wassilj Dolghoruckoi alle Bedrückungen, deren sich hohe und niedere Staatsbeamte schuldig gemacht hatten, untersuchen und die Beschuldigten richten mußte. Die Kommission tat ihre Schuldigkeit, und so wurden denn, außer einer unglaublichen Meng,, Diener des Zaren vom zweiten und dritten Range, viele der vornehmsten Staatsbeamten zur Untersuchung gezogen. Selbst der Fürst Mentschikoff, der General-Admiral Aprarin, der Vize-Gouverneur von Petersburg, Korrakow, der Ober-Admiralitätsrat Kikin und noch andere Generale und auch zwei Mitglieder des Senats mußten vor dieser Kommission sich stellen, um sich gegen Anschuldigungen von Erpressungen zu rechtfertigen, wenn sie konnten.

Mentschikoff fand Nachsicht beim Zaren wegen großer anderer Verdienste, eben so Aprarin und Bruen, die sich damit entschuldigten, daß solche Missbräuche nur während ihrer Abwesenheit in auswärtigen Feldzügen eingerissen sein konnten. Nicht so Fürst Wolkewsky, der Vize-Gouverneur Korrakow, das Senatsmitglied Aquiston. Sie mußten, wie die geringsten Verbrecher, entehrende Strafen leiden. Sibirien wurde damals durch eine Menge solcher Volksbedränger bevölkert. Die Kommission schloß ihr Werk mit einer Verordnung, welche den Zweck hatte, künftige Bedrückungen zu hindern. — Indes das Alles war nur Palliativ-Mittel; das Hauptübel blieb, und wucherte unter den Nachfolgern Peters, so daß sich nur dadurch die heutigen Zustände tiefer Erniedrigung der russischen Bauern und der unteren Volksschichten erklären lassen.

Wie gewaltsam übrigens der Zar selbst verfahren ließ, wenn es seine höheren Zwecke erforderten, ergab sich aus der Art und Weise, wie das durch den Bau von Petersburg völlig entvölkerte Jngermanland wieder bevölkert werden sollte. Für diesen Zweck ließ der Zar — Alles in bester Absicht — aus dem Innern von Rußland eine Menge von Bauernfamilien aufheben und mit Gewalt dorthin führen, mit dem Befehl, auf den ihnen angewiesenen Ländereien sich anzubauen. Andere Bauern aus noch entfernteren Gegenden wurden an die Stelle der Weggeführten in deren Besitzungen eingesetzt.

So wendete Peter selbst ein Prinzip der Gewaltherrschaft an, das er eben abzustellen bemüht war. Aber das bleibt immer die Inkonsequenz jeder despotischen Macht, daß sie sich selbst erlaubt, was sie Anderen verbietet.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peter der Große. Seine Zeit und sein Hof. III.