Gutachten der Geistlichkeit und Urteil der weltlichen Stände

Das gutachtliche Bedenken der Geistlichkeit erwog die in dieser Verteidigung Alexeis liegenden Gründe für Milde und Billigkeit des Unheils. Sie erwog menschlich fühlend, daß dadurch ein großer Teil der Schuld des Prinzen auf den Zaren selbst, oder vielmehr, wie sie entschuldigend sagte, aus den Drang der gebieterischen Umstände der Zeit zurückgeschoben wurde. Bevor noch das Urteil der weltlichen Stände gesprochen war, übergab die Geistlichkeit dem Zaren ihre Denkschrift, die den Titel führte: „Bedenken.“

Sieben Erzbischöfe, vier Archimandriten und mehrere andere Geistliche hatten sie unterschrieben.

Nachdem in dieser Denkschrift sorgfältig und mit der gelehrten Pedanterie jener Zeit alle Beispiele aus der Heiligen Schrift über kindlichen Ungehorsam und ihre strengen Vorschriften wegen dessen Bestrafung aufgeführt, auch mit dem heiligen Chrysostomus Gott gepriesen worden war, der zwar die Kinder zu lieben, aber der Liebe dennoch Grenzen zu setzen geboten habe, so schloß das Bedenken mit den Worten: „Will also unser Herr den Gefallenen strafen nach seinen Taten, so hat er die Exempel des alten Testaments für sich. Will er aber Barmherzigkeit üben, so hat er für sich das Beispiel-Jesu Christi selber, welcher den verlorenen Sohn, als er durch Buße wiederkehrt, aufnimmt, und die auf frischer Tat ergriffene Ehebrecherin, welche nach den Gesetzen sollte gesteinigt werden, frei entlässt, und mehr Gefallen hat an Barmherzigkeit denn am Opfer. Auch das Exempel Davids hat er für sich, der seinen Sohn Absalom, der ihn doch verfolgte, zu schonen gebot.“


Das Bedenken schloß mit den Worten: „Nun, das Herz des Zaren steht in Gottes Hand! Er wähle, wozu die Hand Gottes dasselbe lenken wird.“ Diesem schonen, würdigen Bedenken des geistlichen Standes, das der Menschlichkeit eben so sehr wie der Religion zur Milderung der Gerechtigkeit entsprach, stand um so schärfer entgegen das strenge Strafurteil, welches die Versammlung der weltlichen Stände über den unglücklichen Prinzen gefällt hatten.

Es war sechs Tage später, nachdem jenes geistliche Bedenken abgegeben war, also am 24. Juni (5. Juli) 1718, als das richterliche Urteil der weltlichen Stände erfolgte.

Dieses entsetzliche Urteil ging in seinen Entscheidungsgründen davon aus, daß Alexei, da er auf das Schreiben des Zaren vom 4. Oktober 1717 nicht sofort freiwillig zurückgekehrt sei, sich der ihm wegen seiner Flucht in diesem väterlichen Schreiben verheißenen Verzeihung verlustig gemacht habe, und wenn auch später, am 3. Februar 1718, im Kreml zu Moskau der Zar seinem Sohne aufs Neue Verzeihung aller seiner Übertretungen versprochen habe, so hätte doch der Prinz die ausdrückliche und wiederholte Bedingung jener Verzeihung, daß er alle begangenen und vorgehaltenen Verbrechen und deren Teilnehmer wie im Beichtstuhle entdecken solle, nicht erfüllt, vielmehr mehrere Personen, mit denen er im Verständnis gestanden und mehrere Hauptpunkte, insonderheit sein Vorhaben einer Empörung gegen seinen Vater und Herrn, und seine lange ausgesponnenen und unterhaltenen schlimmen Praktiken, um den Thron seines Vaters sogar bei dessen Lebzeiten an sich zu reißen, bis ans Ende verschwiegen, so daß die Wahrheit erst durch den peinlichen Prozess von ihm habe herausgebracht werden müssen. Da nun aus dieser Verschweigung erhelle, daß seine Absicht gewesen sei, sich für die Zukunft Mittel vorzubehalten, um bei günstiger Gelegenheit sein Vorhaben wieder zur Hand zu nehmen und sein schreckliches Unternehmen gegen seinen Vater und Herrn und gegen das ganze Kaisertum zu vollenden, so habe er sich der ihm versprochenen Gnade unwürdig gemacht.

Nach dieser Einleitung fährt das Urteil mit folgenden Worten fort:

„Ihn trifft das Gesetz, so Gott den Juden gegeben. „„Wenn Jemand,“„ so heißt es im 5. B. Mose XXI., 18—21. — „„einen eigenwilligen und ungehorsamen Sohn hat, der seines Vaters und seiner Mutter Stimme nicht gehorchen will, so soll ihn sein Vater und seine Mutter greifen und zu den Ältesten der Stadt führen, und zu dem Thore desselben Ortes, und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist eigenwillig und ungehorsam, und gehorchet unserer Stimme nicht, und ist ein Schlemmer und Trunkenbold; so sollen ihn steinigen alle Leute derselbigen Stadt, daß er sterbe, und sollst also den Bösen von Dir tun, daß es ganz Israel höre und sich fürchte.““

„Ihn treffen weiter und besonders die russischen Reichssatzungen und das zarische Kriegsrecht. Schon das alte russische Gesetz bestraft (Kap. I, Statut 2 der Uloschenin) nicht nur Diejenigen, die ein gefährliches Vorhaben gegen den Zaren und dessen Regierung begannen, sondern auch Diejenigen, die überwiesen worden sind, daß sie ein solches Vorhaben ausrichten wollten, mit dem Tode.

„Noch deutlicher bestimmt solches das zarische Kriegsrecht von 1717, Kap. 3, Art. 19, und dessen Erklärung, auch Kap. 16, Art. 27: „„Mit gleicher (Todes-) Strafe““ — heißt es hier — „„ sollen auch Diejenigen belegt werden, die zwar ihr lasterhaftes Vornehmen (die Verräterei gegen den Zaren) nicht zu bewerkstelligen vermocht, aber überführt worden sind, daß sie den Willen und die Begierde dazu gehabt haben.““

„Dieses Willens, dieser Absicht, eine Rebellion gegen seinen Souverain anzustiften, ist der Prinz überführt; schuldig ist er des Verbrechens eines doppelten Vatermordes, denn der Souverain, gegen den er sich hat auflehnen wollen, war ihm nicht nur als Vater des Vaterlandes, sondern auch als ein leiblicher Vater heilig, der ihn von der Wiege an, bei aller Gelegenheit, mit Väterlicher Sorgfalt, mit Zärtlichkeit und Güte erzogen, der ihn zur Regierung zu bilden, besonders mit unglaublicher Mühe und unermüdlichem Fleiß in der Kriegkunst zu unterrichten gestrebt, und zur Thronfolge in dem großen Kaiserreiche geschickt zu machen getrachtet hat. Und so trifft denn auch ihn die Strafe des Gesetzes.

„Mit bekümmertem Herzen und tränenvollen Augen fällen wir ein Urteil, denn wir sind Knechte und Untertanen, denen es nicht gebührt, in so wichtiger Sache über den Sohn unseres Oberherrn zu richten. Weil es aber des Zaren Wille ist, daß wir richten sollen, so erklären wir den Zarewitsch Alexei Petrowitsch des Todes schuldig. Das Urteil bleibt unseres Monarchen souveräner Macht und gütiger Revision anheimgestellt. Aber wir sprechen diese Verdammung zum Tode mit einem so reinen, christlichen Gewissen aus, daß wir sie vor dem gerechten Gerichte des großen Gottes uns zu verantworten getrauen.“

Hundertsechsundzwanzig richtende Minister, Senatoren, Generale und Offiziere unterschrieben dieses Urteil, und die nicht schreiben konnten, machten das Zeichen des heiligen Kreuzes darunter, und ließen daneben ihre Namen unterschreiben. Der Erste, der unterzeichnete, war Mentschikoff. Aber der Leiter des ganzen Kriminalverfahrens war Tolstoi gewesen. Auch er hatte unterzeichnet.*)

*) Alle mitgeteilten Umstände aus dieser merkwürdigen und beklagenswerten Kriminalgeschichte sind entnommen aus der in Hamburg 1718 gedruckten Schrift: „Acta des Inquisitions-Processes gegen den Zarewitsch.“ — S. auch Weber I, S. 258 f.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peter der Große. Seine Zeit und sein Hof. III.