Alexeis Tod

Und so erschien denn der für Alexei so verhängnisvolle Tag der Eröffnung des Urteils. Es war der 25. Juni (6. Juli) 1718, einen Tag nach dem Spruche desselben, als Alexei früh Morgens durch eine starke Wache aus der Festung in den Gerichtssaal des Senats geführt wurde.

Dort waren wieder alle seine zahlreichen Richter und die ganze höhere Geistlichkeit versammelt. Noch einmal mußte er hier das beschämende Bekenntnis wiederholen, dann die Vorlesung seines Unheils anhören. Der Ausspruch, daß er des Todes schuldig sei, machte auf ihn einen furchtbar erschütternden Eindruck. Er verfiel in Krämpfe, und mußte, mehr getragen als geführt, in sein Gefängnis zurückgebracht werden.


Das Übel, welches ihn ergriffen hatte, artete bald in konvulsivische Zufälle aus, welche ihn des Bewusstseins beraubten.

Doch am folgenden Morgen hatte er sich in so weit erholt, daß er die Sakramente empfangen und den Wunsch äußern konnte, noch ein Mal seinen Vater zu sehen — ein Beweis, daß sein Herz noch nicht so gänzlich verhärtet war, wie es nach der Untersuchung den Anschein gewinnen konnte.

Der Zar hatte indes die Nachricht erhalten, daß der Prinz in Folge der Gemütsbewegung vom Schlage getroffen sei und sich in Lebensgefahr befinde. Er ließ sogleich alle Senatoren und Geheimräte um sich versammeln.

Noch während der Versammlung wurde dem Zaren gemeldet, die Gefahr habe so zugenommen, daß zu besorgen sei, der Prinz würde den Tag nicht überleben.

Der Zar verfügte sich sogleich, gefolgt von allen Versammelten, zu dem unglücklichen Sohne. Es war eine rührende, erschütternde Szene. Der Zar war davon eben so ergriffen, als sein Sohn; der Unterschied war nur der, daß Jener, ein starker Charakter, sich zu fassen wußte, Dieser dagegen, ohne alle Seelenstärke und leiblich hinfällig, als ein Sterbender und völlig Zerknirschter ihn mit Tränen im brechenden Auge und mit gefalteten Händen empfing.

So bekannte der Kranke wiederholt, daß er sich schwer an Gott und seinem Vater versündigt habe; er sei unwert des Lebens, und hoffe von dieser Krankheit nicht zu genesen. Nur flehe er den Zaren an, vor seinem Ende den Vaterfluch, welchen er auf ihn gelegt, von ihm zu nehmen und ihm seine Verbrechen zu verzeihen. Er fügte hierzu die wehmütige Bitte, daß ihm der Zar den Vatersegen gewähren und für seine Seele beten lassen möge.

Von allen Anwesenden blieb keiner ungerührt bei dieser herzergreifenden Szene. Auch der Zar war davon mächtig ergriffen. Doch bald sammelte er sich und redete mit Würde und tiefer Empfindung. Er verzieh seinem unglücklichen Sohn alle Schuld der Vergangenheit, gab ihm seinen väterlichen Segen, und zog sich mit seinem Gefolge zurück.

Die Beängstigung des Kranken nahm in bedenklicher Weise von Minute zu Minute mehr zu. Noch am Abend desselben Tages äußerte er das herzlichste Verlangen, noch einmal und zum letzten Male seinen Vater zu sehen. Mit dieser letzten Bitte des unglücklichen Prinzen wurde der Major Otschakow zu dem Zaren gesandt. Dieser trug Anfangs Bedenken, sich selbst und seinen sterbenden Sohn noch einmal der Aufregung einer solchen Zusammenkunft auszusetzen. Aber auf die Bitten der Anwesenden und namentlich Katharinas überwand er das schmerzliche Gefühl, das ihm diese Abschiedsszene von einem, durch seine furchtbare väterliche Strenge an den Rand des Grabes gebrachten Sohne einflößen mußte, und er bestieg ein Boot, um sich noch einmal zu ihm in das Staatsgefängnis zu begeben.

Doch kaum war er vom Lande abgestoßen, als ihm vom jenseitigen Ufer her die Nachricht gebracht wurde, daß der Zarewitsch Alexei bereits verschieden sei.*)

Nun blieb Nichts übrig, als dem Unglücklichen noch die letzte Ehre zu erweisen.

Es lag eine traurige Ironie darin. Der im Leben Verfolgte und Entehrte sollte im Tode noch geehrt werden. Zugleich aber war es der Gedanke „der Tod versöhnt Alles!“ welcher auch hier am Ende dieser großen historischen Tragödie das versöhnende Element brachte.

Die Leiche des Unglücklichen wurde zwei Tage lang auf dem Paradebett in der schwarz behangenen Dreifaltigkeitskirche öffentlich ausgestellt. Tausende von geweihten Kerzen, Messen lesende Priester in kostbaren Gewändern, Ehrenwachen in Paradeuniformen mit Trauerzeichen umgaben den Katafalk. Unzählige Menschen näherten sich und küssten dem Verblichenen die Hand. Dann wurde die hohe Leiche in die neue Gruft, welche dazu in der Kathedralekirche der Festung erbaut war, gesenkt. In derselben Gruft lag schon die verstorbene Gemahlin des Zarewitsch. Die das Leben feindlich getrennt hatte, waren hier im Tode friedlich vereinigt.

Der Zar, die Zarin, die ganze hohe Familie und alle Großen des Reichs schlossen sich dem glänzenden Leichenzuge an, mit brennenden, geweihten Kerzen in der Hand.

„Ach Absalom! Mein Sohn Absalom!“ Diese Worte der Heiligen Schrift dienten dem Priester zum Text der Leichenrede.

Der Zar Peter, der im Leben gegen seinen Sohn Alexei so stark und hart gewesen, war jetzt erweicht und zerfloss in Tränen.

*) Wie es bei großen historischen Ereignissen, wobei Parteileidenschaften ins Spiel treten, nicht an Verfälschung der Geschichte, sowohl durch Gerüchte, als durch Parteischriften, zu fehlen pflegt, so auch hier. — In Büschings Magazin III. 224. IX, Vorr. S. 5. steht die gewagte Behauptung: „Der Czarewitsch ist ganz gewiß geköpft worden. Der General Adam Adamitsch Weide, der 1721 starb, hat ihm auf des Zaren Befehl den Kopf abgeschlagen.“ In von Haven's Reise durch Rußland S. 2l. steht eine Äußerung, welche diese Nachrede zu bestätigen scheint. Es heißt darin: „Ich erinnere mich nicht eigentlich, ob es der Herr von Huysen, oder ein Anderer war, der mir sagte, daß alle die gedruckten Nachrichten von des Kronprinzen Fall unzuverlässig wären. Man schreibe gemeiniglich, als ob er vor Alteration über sein Todesurteil im Gefängnis gestorben sei. So viel ist aber gewiß, daß dieser Prinz des Morgens noch frisch gewesen, des Abends aber fand man ihn schon auf einem prächtigen Paradebette mit einem dicken Tuche um den Hals.“ — Dagegen nimmt Bassewitz, einer der aufrichtigen Verehrer des Zaren, in Büschings Magazin unter dem Titel eines Aufsatzes: „Éclaircissement de Bassewitz“ (Büschings Magazin IX. pag. 318.) das Wort für die Widerlegung solcher Gerüchte und für die Verteidigung des Zaren. Wir teilen aus dessen französisch geschriebenem Aufsatz das Wesentlichste mit: „Einige,“ sagt er, „hegen den Verdacht, daß der Zar den Tod des Prinzen durch Gift habe beschleunigen lassen (also wieder eine andere Anschuldigung als die der Enthauptung, was beide Todesarten unwahrscheinlich macht), Andere, daß man seinen Tod durch zu starke Aderlässe, unter dem Schein, ihm helfen zu wollen, absichtlich herbeigeführt habe. Aber wenn es sich um Nichts gehandelt hätte, als sich seiner im Stillen zu entledigen, wozu denn einen so regelmäßigen Prozess einleiten und durchführen? — Diese so aufregende und gefährliche Zurüstung, konnte sie einen heimlichen Mord verhüllen? — Es ist gewiß, daß der Zar ihm das Leben schenken wollte und nur die Absicht hatte, ihn zu brandmarken, um ihn moralisch unfähig zur Thronfolge zu machen, die er schon seinem jüngsten Sohne, dem Prinzen Peter, zugesichert hatte.“
„Ein anonymer Schriftsteller“ — heißt es daselbst weiter — „brachte vor nicht langer Zeit ins Publikum, ganz Rußland sei überzeugt, daß Alexei heimlich durch ein Gift ermordet worden sei, welches eine Marattin zubereitet habe. Indes Personen, die mehrere Jahre hindurch ganz Rußland durchreist haben, versichern, Nichts davon gehört zu haben. Man hat Peter den Großen bei dem Verdacht einer Vergiftung nicht geschont; auch gegen Katharina ist man hierbei schonungslos verfahren; was aber diesen Verdacht eines Meuchelmordes durch Gift unhaltbar machte, war die Überzeugung, daß Beide einer solchen Grausamkeit unfähig waren. Katharina hatte nicht nöthig, zu solchen Mitteln zu greifen, um ihren Sohn und später sich selbst die Thronfolge zu sichern.“ Jener Autor fügte noch hinzu: „nie habe man gehört, daß ein Verurteilter aus Schrecken über seine Verbannung gestorben sei. Das mag wahr sein; aber es wäre nicht unglaublicher gewesen, wenn Alexei, obgleich ein Russe, von solchen Konvulsionen am Tage seiner Verurteilung ergriffen und daran gestorben sei, als an jedem andern Tage.“ — Jedenfalls ruhet noch auf dem tragischen Ende Alexeis ein tiefes, undurchdringliches Dunkel. Peter selbst war eine zu edle und offene Natur, um ihm einen solchen Meuchelmord zutrauen zu können — eben so Katharina; ob aber nicht feile Diener den Mord verübt haben, m der Hoffnung, die geheimen Wünsche des Zaren zu erfüllen — das steht in Frage.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peter der Große. Seine Zeit und sein Hof. III.