Pathanische Blutrache. - Sittenbild aus Afghanistan

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 27. 1893
Autor: Friedrich Berner, Erscheinungsjahr: 1893

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Afghanistan, Engländer, Pathanen, Blutrache, Blutfehde, Sitten, Bräuche,
Obschon die Bewohner des nordöstlichen Afghanistan, die Pathanen, zu den halbzivilisierten -Völkern gerechnet werden müssen, so übertrifft dennoch kein anderes Volk der Erde dieselben an Wildheit und Rauheit der Sitten. Sie sind die strenggläubigsten Moslims, von den Vorschriften des Propheten befolgen sie jedoch nur solche, die ihren Anschauungen entsprechen. Die Ausrottung der Ungläubigen ist ihnen eine mit Enthusiasmus begrüßte Pflicht, dagegen wird der Befehl, sich täglich zu reinigen und zu waschen, hartnäckig ignoriert. Möglich, dass der unabhängige Pathane diese Zumutung als einen unberechtigten Eingriff in sein Privatleben betrachtet.

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Das Auge des Pathanen ist groß, dunkel, aber unstät; auf seinen harten, tief markierten Zügen hat der Ausdruck menschlicher Empfindung keinen Platz. Das Kind schon blickt finster und schlägt um sich; der Mann denkt an nichts, als an Raub und Blutvergießen. Wohl hört man oft genug sein rohes, abstoßendes Gelächter, noch Keiner aber hat den afghanischen Landbewohner lächeln sehen.

Pathanen nennen sich diejenigen Bewohner Afghanistans, die in den nach Indien abfallenden Tälern hausen. Man darf nach dem oben Gesagten nicht etwa annehmen, dass der Pathane für alle Zeit der Zivilisation unzugänglich sein werde; was er heute ist, ist er durch den Zwang der Umstände geworden. Seit Menschengedenken kennt er nur Kampf und Streit. Kampf und Empörung gegen die Landesregierung, blutige Fehden zwischen den Stämmen, den Dörfern oder den einzelnen Familien, Bruderzwist und Brudermord — das ist das Leben des Pathanen, unter solchen Umständen gewöhnlich nur ein kurzes.

Sobald er im Stande ist, ein Gewehr zu erheben, wird er Anderen gefährlich und gerät selber in Gefahr. Die Dörfer einer Gegend stehen miteinander sozusagen in immerwährender Abrechnung wegen gegenseitiger Blutschuld, und ganz ähnlich ist zumeist auch das Verhältnis; zwischen Nachbar und Nachbar. Sind in einer Familie mehrere Brüder, so ist eine Blutfehde auch unter diesen nichts Seltenes; in Ermangelung von Brüdern gibt's vielleicht Vettern oder einen Onkel oder gar den Vater selber, mit dem der Pathane in Zwist geraten kann, und Zwist bedeutet stets Blutvergießen.

Nirgends auf dem weiten Erdenrund herrschen in dieser Beziehung solche Zustände, wie in Afghanistan. Auch andere Völkerschaften sind blutdürstig und verräterisch, aber der Brudermord gilt bei ihnen doch nicht als etwas Alltägliches. Die gewöhnlichen Tagesneuigkeiten in afghanischen Ortschaften sind Mord und immer wieder Mord. Kaum lernt ein Knabe denken, so lehrt die Mutter ihn schon, welche Familien er zu hassen habe; kaum ist er halbwegs herangewachsen, so unterweist der Vater ihn in den Handgriffen des Tötens. Generationen auf Generationen sind unter solchen Einflüssen herangewachsen; ist's da ein Wunder, dass die heutigen Pathanen das roheste Volk der Erde sind? Von allen Tugenden, die von der Menschheit hochgehalten werden, ist ihnen nur eine einzige geblieben —die Gastfreundschaft, aber auch diese nur in enger Begrenzung.

Die unter den Korsen geübte Blutrache ist bekannt und berüchtigt; die Geschichte jener Insel weiß viel Schlimmes davon zu erzählen. Aber die korsische Vendetta überstürzt sich nicht, sie weiß ihre Zeit abzuwarten, jahrelang, jahrzehntelang. Die pathanische Blutrache jedoch überlegt nicht erst, sie fordert ihr Opfer sogleich, bei erster Gelegenheit. Klima und Lebensart in Afghanistan leisten ihr dabei Vorschub. Man hält sich dort zumeist im Freien auf, die Häuser und Hütten haben mehrere Türen und viele Fenster, die selten verschlossen werden, auch nicht während der Schlafenszeit.

In einer nicht weit von Peschawar gelegenen pathanischen Ortschaft wohnte vor etwa fünfzehn Jahren ein wohlhabender Mann mit Namen Sadok; derselbe war der angesehenste Grundbesitzer auf Meilen in der Runde. Er hatte mehrere Söhne und eine Tochter, die Letztere ein hübsches Kind von vierzehn Jahren, also gerade in dem Alter, in dem nach pathanischer Ansicht die Mädchen heiratsfähig werden.

Der alte Sadok hegte allerlei ehrgeizige Pläne in Bezug auf den Zukünftigen seines Töchterchens, aber auch er musste die Erfahrung machen, dass die Hauptbeteiligten mit solchen väterlichen Plänen zuweilen nicht einverstanden sind.

Fasilla, Sadoks Tochter, hatte bereits ihr Herz verloren an Abdal, einen jungen Mann von zwanzig Jahren, einen armen Teufel, der nichts sein eigen nannte, als seine gesunden Arme und die Hacke, mit der er die Felder der Wohlhabenderen bestellte; denn Abdal war nichts als ein gewöhnlicher Landarbeiter.

Sie waren einander zuerst begegnet, als Fasilla, dem alten Brauch entsprechend, in der Morgenfrühe nach dem Dorfbrunnen gegangen war, um das für den Tag im Haushalt nötige Wasser herbeizuholen. Der Wind hatte ihren Schleier zur Seite geweht, und der Anblick ihres liebreizenden, in der vollen Frische der Jugend prangenden Gesichtes war hinreichend gewesen, des jungen Mannes Herz mit heißer Liebesglut zu erfüllen.

Die Bewunderung, die aus seinen Augen blitzte, sein männlich schönes Antlitz und seine athletische Gestalt verfehlten nicht, auch auf Sadoks Tochter einen sehr günstigen Eindruck zu machen. Worte wurden nicht gewechselt; das wäre ein Verstoß gegen das Herkommen gewesen, der nur durch Blut gesühnt werden konnte. Wo jedoch andere Mittel des Gedankenaustausches fehlen, da wissen die Augen eine gar beredte Sprache zu führen, besonders, wenn die Liebe sich zu erkennen geben will. Jeden Morgen um dieselbe Stunde stellte sich der Jüngling auf demselben Platze ein, am Wege, der zum Dorfbrunnen führte, wo sie einander zuerst gesehen hatten; ebenso regelmäßig erschien das junge Mädchen, und es fügte sich, dass der Wind jedesmal den Schleier ein wenig lüftete, wenn Abdals sehnende Augen den ihrigen zu begegnen suchten. Nur auf Sekunden senkten sich ihre Blicke in einander, dann setzten sie ihren Weg fort in dem seligen Bewusstsein, lieben zu dürfen und wiedergeliebt zu werden.

Nach kurzem, in der Natur der Sache liegendem Zögern suchte Abdal keck und kühn den alten Sadok auf und forderte von demselben die Hand seiner Tochter.

Armut ist in jenen östlichen Ländern keineswegs so verächtlich, wie in unseren zivilisierten und christlichen Ländern, allein besonders wünschenswert erscheint sie auch dort nicht.

Der pathanische Dorfkrösus hatte kaum das Ansinnen des jungen Landarbeiters begriffen, als er auch schon in den heftigsten Zorn geriet. Es erging Abdal, wie es ihm unter ähnlichen Umstünden bei uns auch ergangen wäre; er wurde zum Hause hinausgeworfen.

Fasilla aber durfte fortan nicht mehr zum Brunnen wandern, und jede ihrer Bewegungen wurde argwöhnisch überwacht.

Noch nie aber hat sich die Liebe durch Schloss und Riegel einkerkern oder ausschließen lassen. Abdal und Fasilla wussten miteinander in Verkehr zu bleiben und sich Botschaften zukommen zu lassen, obgleich Keines von ihnen zu schreiben oder zu lesen verstand, denn bei den Pathanen kennt man noch keine Schule.

Eines Morgens, als man sich in Sadoks Haus vom Schlafe erhob, war Fasilla nirgends zu finden. Bald stellte sich heraus, dass auch Abdal während der Nacht aus dem Dorfe verschwunden war und mit ihm das beste Ross aus Sadoks Stall. Es war zweifellos, alle Drei hatten zusammen das Weite gesucht; der Liebhaber hatte seine Erwählte auf ihres Vaters Pferd entführt. Bereits vor Tagesanbruch mussten sie die nahe Grenze erreicht haben.

Jede Familie von Bedeutung verfügt über einige erfahrene und erprobte Fährtensucher; in einem Lande, wo die Blutrache mit Fanatismus betrieben wird, sind solche Fährtensucher notwendig. Es wurde festgestellt, dass die Ausreißer sich auf englisch-indisches Gebiet geflüchtet hatten.

Nicht lange nachher traf auch die Kunde von der Verheiratung der Liebesleute ein. Sie hatten einen Mullah gefunden, der gegen einen bescheidenen Entgelt die einfache Zeremonie einer mohammedanischen Eheschließung mit ihnen vollzog. Sie waren daher jetzt unwiderruflich und in allen Ehren verbunden und weder vom moralischen noch vom religiösen Standpunkte länger zu tadeln.

Allein durch die Entführung des Mädchens und den Diebstahl eines Pferdes war der Familie des alten Sadok eine tödliche Beleidigung widerfahren, die nur durch Blut gesühnt werden konnte, das stand nicht nur der Sitte gemäß von vornherein fest, das war sogar nach landläufiger Auffassung ein gebieterisches Gebot der Pflicht.

Unter den Habseligkeiten eines jeden Pathanen befindet sich ein langes, scharfes und spitzes Messer, Tschara genannt, ebenso ein Schwert; die Meisten verfügen außerdem noch über eine Flinte. Schon als Kind lernt Jeder mt diesen Waffen wirksam umzugehen.

Die beiden feindlichen Familien zählten zusammen einige zwanzig männliche, waffenfähige Mitglieder. Jeder einzelne Mann war selbstverständlich an der Blutfehde beteiligt, obgleich nicht Einer mit der Ursache etwas zu tun gehabt hatte; den Wenigsten war überhaupt etwas davon bekannt geworden. Das aber ändert nicht das Geringste an der Sache. Jeder wusste und war damit einverstanden, dass demnächst ein systematisch durchgeführtes Abschlachten aus der Tat Abdals entstehen musste.

Auch die jungen Leute hatten dies, gewusst und vorausgesehen, und jedenfalls alles Für und Wider reiflich erwogen, ehe sie miteinander davongingen.

Wie bereits erwähnt, pflegt man in jenen Gegenden die Häuser nur selten zu verschließen; die Fenster bieten einem Eindringling kein Hindernis, und auch die aus Lehm aufgeführten Wände sind mit Leichtigkeit zu durchbrechen. Während des Tages sind fast alle Erwachsenen dieser landbebauenden Bevölkerung weit über die Felder zerstreut; das pathanische Blut ist heiß, die Rache brennt und wühlt in den Gedanken, und an Gelegenheit fehlt es nicht.

Niemand wunderte sich daher, als wenige Tage nach der Entführung Abdals Vater, ein Mann von fünfzig Jahren, tot auf seinem Lager aufgefunden wurde; ein Stich ins Herz hatte seinem Leben ein rasches Ende bereitet.

Das pathanische Messer, der Tschara, ist überall von gleicher Größe und Gestalt; wenn der Mörder nicht auf frischer Tat ergriffen wird, dann ist es unmöglich, aus der Beschaffenheit der Wunde auf den Täter zu schließen.

Man ließ sich auch gar nicht erst auf eine lange Untersuchung ein, wusste doch Jeder, aus welcher Veranlassung der Mord geschehen war. Der Leichnam wurde am Abend zur Ruhe bestattet, aber am nächsten Morgen lag einer der Brüder Fasillas steif und kalt, von einem Tschara ins Herz getroffen, auf der Bahre.

Es verstrichen nun einige Tage, ohne dass sich etwas Weiteres ereignet hatte; Jedermann wusste natürlich, dass auch dieser zweite Mord gerächt werden müsste, und dass die ursprüngliche Beleidigung noch immer ungesühnt war. Nach Verlauf einer Woche wurde ein Verwandter des jungen Ehemannes bei seiner Feldarbeit aus einem Hinterhalt niedergeschossen; dieser Tod fand sehr bald Sühne durch die Ermordung eines Angehörigen der Familie Sadoks.

Jetzt versuchten die Behörden, der Schlächterei Einhalt zu tun, indem sie eine starke Polizeimacht auf den Schauplatz entsendeten. Man stellte Verhöre an, aber Niemand wusste angeblich etwas, weder von den Morden, noch von der Ursache derselben. Man gab zu, dass einige Unglücksfülle vorgekommen seien, aber wie und durch wessen Schuld, das könnte nur Allah wissen. Beide Familien wiesen alle feindseligen und rachsüchtigen Gedanken weit von sich und verhielten sich so friedfertig, dass die Polizei bald wieder abzog. Kaum aber hatte dieselbe den Rücken gekehrt, da brach die unterdrückte Glut aufs Neue in helle Flammen aus, Mord folgte auf Mord, und endlich waren Abdal und Sadok nur allein noch am Leben — von jeder Familie nur ein einziger Mann.

In einer dunklen Nacht erhob der junge Ehemann sich in aller Stille von seinem Lager, sorglich bedacht, sein schlummerndes Weib nicht zu wecken; er sattelte das gestohlene Pferd und ritt in vollem Jagen seinem Geburtsdorfe zu, dem jetzt so verödeten Heim seiner Kindheit.

Eine Strecke vor dem Orte stieg er ab und band das Pferd an einen Baum; dann schlüpfte er durch die nächtlichen Felder nach dem Hause Sadoks. Mit dem Schwerte erschlug er den alten, ganz vereinsamten Mann. Darauf schwang er sich wieder auf sein Ross und ritt im rosigen Licht des jungen Morgens über die Grenze zurück.

Fasilla war bereits aufgestanden. Er schloss sie in die noch mit dem Blut ihres ermordeten Vaters besudelten Arme.

„Wir müssen einander nun noch inniger lieben, als zuvor, Du Licht meiner Augen,“ sagte er zärtlich. „Unsere Väter und Brüder ruhen Alle in Frieden.“

Sie verstand ihn und war auch weiter gar nicht erstaunt, denn sie hatte den Zweck seines nächtlichen Rittes bereits geahnt. Waren sie sich doch Beide von Anfang an der Folgen ihres Schrittes voll bewusst gewesen.

Im Verlaufe von vier Monaten waren zwanzig Männer der Kugel, dem Schwert oder dem Messer der meuchlerischen Bluträcher zum Opfer gefallen. Die Fehde, die so jäh entstanden war und wie ein entfesselter Lavastrom gewütet hatte, war endlich erloschen, weil Niemand mehr da war, der das Recht und die Pflicht hatte, den letzten Mord zu sühnen. —

Die pathanische Bevölkerung Afghanistans zählt nach Hunderttausenden; sie spricht ihren eigenen Dialekt und hält mit Zähigkeit an ihren Sitten und Gebräuchen fest. Trotz ihrer unzuverlässigen und verräterischen Sinnesart, ihrer angeborenen Neigung zum Diebstahl, Raub und Mord, werden die jungen Pathanen von den Engländern mit Vorliebe unter die Soldaten gesteckt; so hat jedes Pandschab-Regiment zwei nur aus Pathanen bestehende Kompagnien. Die eiserne Disziplin wirkt nicht ungünstig auf diese wilden Gesellen, deren Jeder gegen sechs Fuß misst und auch eine entsprechende Schulterbreite aufweist.

Es ist sehr möglich, dass der Soldatendienst die Handhabe bietet, vermittelst welcher die Zivilisation sich nach und nach der ganzen Völkerschaft zu bemächtigen, sie zu milderen Sitten zu bringen im Stande sein wird.

Abdurrahman-Khan Emir von Afghanistan

Abdurrahman-Khan Emir von Afghanistan