- 06 - Inzwischen hielten die Älterleute und Offiziere der Schützenzunft im Schützenhause, ...

Inzwischen hielten die Älterleute und Offiziere der Schützenzunft im Schützenhause, aus dem alle neugierig fortgelaufen waren, heimlich und eifrig eine Beratung ab und schickten dann einen Vertrauensmann zu dem Scheibenzeiger. Als sie zurückkamen, ließen sie den dritten Gang austrommeln. Da das den Vietlübber Herrn nichts anging, so erfreute er sich daran, von Oldenburg einige Stuten aushöhlen und mit Sirup füllen zu lassen, diese hielt er dann den Jungen hin, daß sie, Hände auf dem Rücken, mit dem Munde schnappend darnach springen sollten; wer zu faßte und einen Bissen des Stuten losriß, dem troff der Sirup über das Gesicht. Das Spiel ging so lange, bis der ganze Platz voll vereinzelter Gruppen stand, immer einen Sirupssieger in der Mitte, die andern Jungen um die Erlaubnis bittend, ihn abzulecken.
Selbst der Rektor Trautmann, der jetzt erst den Festplatz betrat, verlor für einen Angenblick seine ernste Miene, die ihn sonst in den letzten Wochen nicht verlassen hatte, und lachte laut bei dem Anblick. Ganz hatte er sich dem Feste nicht entziehen wollen, aber er kam so spät, weil er gerade an diesem Tage seines Pflegesohnes lebhafter gedacht, der allen Knaben voran früher des Königschusses harmlose Freuden in vollen Zügen genossen hatte, und der nun sojämmerlich und verlassen in der Ferne liegen musste.
Aber Matthies war ihm schon weit näher, als er ahnte. Sobald der hörte, daß die letzten mecklenburgischen Krieger Frankreich verlassen hatten, um der Heimat zuzuziehen, da wollte er sich nicht länger in Neu-Ruppin halten lassen, war, von freundlicher Hand mit dem Notwendigsten versehen, aufgebrochen seiner Heimat zu und hatte die letzte Nacht in Schwerin verbracht. Auf die Nachricht, daß bei Einzug der Truppen bevorstehe, hatte er sich am nächsten Tage früh aufgemacht, um dem Treiben zu entfliehen. Es tat ihm weh daran zu denken, wie kümmerlich er sich auf dem Feste ausnehmen müßte. Ein Wagen, der ihn einholte, beförderte den Krieger bereitwillig eine gute Strecke, hätte ihn auch gern bis auf den Markt von Gadebusch gebracht, doch setzte er ihn auf Matthies Bitte eine Strecke vor der Stadt ab und fuhr davon
So stand Matthies wieder allein auf der Landstraße. Er trug die alte Feldmütze und seinen langen Soldatenmantel trotz des warmen Tages, denn noch immer hatte er sich nicht daran gewöhnen können, den Jammer seinem Stelzfußes ganz und gleichgültig zu zeigen. Über den Rücken geschnallt trug er eine Krücke und in der Rechten einen Krückstock, auf den er sich bei jedem Schritt fest stützen mußte. Sein Gesicht war von starkem Bart umgeben, die Augen lagen tief in dem hageren Gesicht und sahen trübe, fast finster drein. So wanderte er die letzte Strecke auf der Schweriner Landstraße entlang und wollte sich in festem Auftreten üben, aber immer wieder mußte er merken, daß fast bei jedem Schritt ein schmerzliches Zucken durch seine Glieder ging, schwerer und schwerer wurde ihm das Gehen, und als er die letzte Höhe erreicht hatte, von der aus man die Stadt übersehen konnte, da ließ er sich leise ächzend unter einer alten Eiche am Wege nieder, lehnte sich auf den Ellbogen und sah hinaus in die Weite.
Da war alles wieder vor ihm, wie er es so oft im Wachen und im Träumen, im wildesten Fieber und im stillsten Sehnen gesehen hatte. Hoch auf ragte das Amtsgebäude, und darunter dehnte sich, freundlich heraufwinkend, der Burgsee; da lagen Kirche und Rathaus treu beieinander auf dem Marktplatze, er konnte dem Zuge der Straßen folgen und bemerkte, daß der Eingang des Mühlentores einladend offen stand. Durch den breiten Wiesengrund schlängelte sich das Flüßchen, an dessen üppig bewachsenen Ufern er mit Eva allen Wiesenbesitzern zum Trotz so gern entlang gestreift war; drüben winkte der alte Baum, von dem sie immer zusammen im Herbste die glänzend braunen Kastanien herabgeworfen, aus denen er für Eva Körbe und Schalen geschnitzt und Ketten gemacht hatte. An den Ufern des Sees hatte er das erste Blut vergossen, Eva hatte ihn damals so treu gewarnt und so aufopfernd gerettet; drüben die Buchen, darüber die Hügel, der Güstower Werder - alles am alten Platz, nur er allein war so jämmerlich verwandelt; als ob Jahrzehnte über ihn dahingegangen wären, so alt kam er sich vor. Ihn fröstelte, und es war ihm, als ob es gerade vom Grunde seiner Heimat besonders kalt heraufzöge.
Wenn er nun durch die Straßen daherkam, dann würden ihm mitleidige Blicke folgen, bedauernde Worte gegönnt werden, hinter ihm her Achselzucken und bedeutsame Mienen. Ja, wahrlich, die Leute hatten Ursache dazu, was wollte er hier? er hatte nichts als seinen Stelzfuß und brachte nichts als seine Krücke, sein linker Arm lag noch in der Binde, und es war die Frage, ob er jemals den vollen Gebrauch wiedererlangte. Seinem Pflegevater konnte und wollte er nicht dauernd zur Last fallen. Sollte er denn wirklich wie ein Bettler durchs Land ziehen müssen oder der Armenpflege überliefert sein? Nein, tausendmal nein! So lange er den Kopf oben halten konnte, wollte er sich gegen sein Schicksal wehren; vielleicht daß Ollhöft ihm raten könnte, wie er es anzustellen habe, irgendwo Torwärter zu werden - ja, zu Ollhöft wollte er sich hinter dem Wehr schleichen, damit ihn möglichst wenig sähen, dahin sollte sein Vater kommen, und dann ging er bald wieder zum Tor hinaus. Im Notfalle wollte er die Pascher an der See aufsuchen, die mochten sich seiner wohl erinnern, und die Leute, die so viel herumgekommen waren, konnten ihm am Ende eine Stelle als Kuhhirte nachweisen.
Matthies lachte bitter und stand auf, da fiel ihm etwas aus der Tasche - seine Pfeife! Daß er die hatte vergessen können, die hatte ihn immer noch beruhigt; er machte sie zurecht und brannte sie an, richtete sich auf und stampfte an seiner Krücke und dem Stelzfuß - am Stock zu gehen war ihm zu schwer - zwischen den Scheunen, die der Stadt vorgelagert waren, entschlossen dem Tore zu.
„Heda! du, halt - halt sag ich allemal!“
Der Stadtdiener, der sich seinen Ärger irgendwo in einem Winkel hatte verschlafen wollen, kam herangelaufen. „Warum stehst du nicht, wenn ich rufe? he? hast du ein böses Gewissen? Her mit der Pfeife allemal!“
Da war er ja wieder, der alte Seiffert, und sein „allemal“ hatte er auch nicht vergessen. Matthies sah ihn fest an, aber der Mann, der ihn hatte heranwachsen sehen und unzählige Male hinter ihm drein gewesen war, wenn er einen Streich verübt hatte, erkannte ihn nicht und hielt ihn offenbar für einen Wildfremden. Das fuhr ihm durch das Herz, aber er ließ es sich nicht merken.
„Her mit der Pfeife allemal, sag ich!“
„Aber das ist doch meine Pfeife.“
„Dein gewesen allemal, hier zwischen den Scheunen darf nicht geraucht werden. Stell dich nur nicht so verwundert an, mich täuscht man nicht, ich kenn euch schon allemal. So mal versuchen wollen, was die dummen Gadebuscher sich bieten lassen, ja, ‘s hat sich was allemal. Wir sind hier pfiffige Leute, her also mit der Pfeife!“
„Du bist in deinem Rechte, und ich habe vergessen, daß der Krieg zu Ende ist; aber die Pfeife ist mir lieb, kann ich sie nicht auslösen?“
„Du? du? weißt du, wer ich bin? he? ich bin der Polizeidiener allemal, wie kannst du mich duzen?“
„Du duzt mich ja auch. Hier ist die Pfeife, aber ich muß sie unter allen Umständen wiederhaben.“
„Hahaha, dann hol sie dir wieder. Der Herr Bürgermeister soll sie sehen, der Herr Bürgermeister ist auf dem Schützenplatze allemal. Komme dem erst unter die Augen dann wird er dir sagen, was du wissen sollst. Wozu trägst du überhaupt diese Mütze allemal? he? und diesen Mantel? Soll man am Ende glanben, du kommst aus dem Kriege allemal? Das mach mir nur nicht weis, sonst steck ich dich gleich ein allemal; da laufen heute überall die Schnurrer herum, die sich in alte Uniformen gesteckt haben allemal“
„Der Herr Bürgermeister Koch mag mich vielleicht besser kennen als der Stadtdiener Seiffert. Was für ein Schießen ist das da?“
Verblüfft musterte ihn der Wächter von der Seite und brummte. „Schützenfest allemal,“ und machte sich davon.
„Er kennt mich nicht,“ sagte Matthies vor sich hin, „dann kann ich es ja wagen durch die Stadt zu gehen, die ohnehin beim Königschuß fast leer ist, die Pfeife muß ich wiederhaben, und sollte es meine erste Bettelei sein. Pah, man gewöhnt sich an alles.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!