- 04 - Als der Gottesdienst geschlossen war, gingen die Massen ohne wesentliche Bewegung davon, ...

Als der Gottesdienst geschlossen war, gingen die Massen ohne wesentliche Bewegung davon, die meisten schüttelten den Kopf, alle hatten es sich doch ganz anders gedacht. Dies war nichts, und wenn es nicht anders kam -
In aller Eile hatte der Bürgermeister vor dem Rathause eine Rednerbühne errichten lassen, das heißt, es war der Katheder aus der Schule auf dem Marktplatze aufgestelt; kaum waren die letzten Klänge der Orgel verhallt, da hub der Ausrufer kräftiges Trommeln an, der Stadtmusikus trompetete dazu, und so hielt man die Kirchgänger zusammen.
Koch betrat die Bühne und trug den Aufruf noch einmal kräftig vor, er gab den Worten Leben und Wärme. Und zum Schluß hub er an: „Wie lange ist es denn her, daß Napoleon seine Laufbahn damit begann, daß er aus Kanonen zwischen das Volk in Paris kartätschte, um ihm seine Art der Fürsorge zu beweisen. Damals ist er in Geschmack des Massenmordens gekommen, seitdem hat er Millionen sich selbst und seiner Herrschgier geopfert. Als ein kleiner Leutnant fing er an, niemals stand er sich hoch genug, immer wollte er noch steigen und mehr werden, genau wie Hans Dudeldee, bis er der Herrgott der Völker sein wollte, da war die Zeit da, daß er wieder zurückfallen mußte in seine Kleinheit. Hat es jemals einen schlimmeren Emporkömmling gegeben? Alle Länder hat er ausgepreßt, nur die Reste hat er uns nachgelassen wie Hunden, und hündisch sollten die Menschen vor ihm kriechen. Ein Heer von Auflaurern, Spionen, Hetzern war in ganz Europa von ihm aufgestellt, kein Ort, kein Haus, kein Brief, kein Wort war sicher vor Verrat. Wer noch mannhaft dastand, war sofort verdächtig als Jakobiner und Rebell, und der ärgste Schurke wurde als ehrenhafter Mann gepriesen. Auch hier bei uns war es so wie allerorts, anch hier hat man anfangs Napoleon als Erretter gefeiert, bis wir in Schmerzen gelernt haben, daß er als Zuchtrute und Geißel über uns geschickt war, die gottlosen zu strafen, die Schläfrigen zu wecken, die Uneinigkeit zu beseitigen. Weil ihm alle deutschen Gaue vereinzelt entgegengetreten, mußten sie unterliegen; denn einen Zwirnsfaden kann man leicht zerreißen, eine aus vielen Fäden gedrehte Schnur widersteht mehr, und ein Tau aus vielen Schnüren kann nicht brechen. In Jahrhunderten hat man in Deutschland das Tau aufgedreht, und Napoleon hat die Fäden einzeln vornehmen können, jetzt ist die Zeit da, das Tau wieder fest zusammenzudrehen. Lange ging nur ein Stöhnen durch die deutschen Lande, dann begannen die Herzen zornig zu beben, heute reckt und streckt sich das Volk allerorten. Nun wollen wir einig sein und alles Fremde abtun, damit die deutsche Kraft sich wieder frei entfalten kann. Wälsches Wort geht wie Gifthauch durch die Seele, wälsche Sitte muß den Sinn für das Rechte verwirren. Wir wissen, wie unter dem fremden Einfluß Zucht und Redlichkeit dahingeschwunden sind, wie der Saft der Pflanzen unter der dauernden Dürre austrocknet. Gott sei Dank, daß wir zur rechten Zeit geweckt wurden. Der neue Frühling ist für Deutschland angebrochen, nun regt sich das Leben an allen Orten mächtig. Männer wie Blücher, York und Scharnhorst wollen unsere Führer sein. Wer kräftig genug ist Waffen zu tragen, soll sich vertrauensvoll unter ihnen zu dem großen Kampfe für das Vaterland zusammenfinden. Wer aber nicht selbst ausziehen kann, soll nach Kraft und Vermögen dazu beitragen Krieger auszurüsten, die Sammelstelle ist auf dem Rathause eingerichtet.“
Ein schwerer Atem ging durch die Massen, es wogte auf und ab und wieder heran, wie wenn es gälte, einen lastenden Damm im Ansturm zu brechen, durch alle Herzen brauste und gärte der Strom, und es bedurfte nur noch eines Anstoßes, dann brach das letzte Hindernis.
Aber da war einer von denen, die in den schweren Jahren alles nur schwarz hatten sehen gelernt, der sagte ganz laut. „Blücher? York? Scharnhorst? was für Leute sind das?“
„Wer hat von denen jemals etwas Rechtes gehört?“ fiel ihm ein zweiter bei, der nicht sehr für das Geben war.
„Das kann mein Lebtage mit ihnen nichts Gutes werden.“
„Ja, ja, wer kennt die? Wir lassen uns nicht so von Unbekannten abfangen, wir haben genug schon erfahren, wie man betrogen wird.“
So murrte es und zweifelte es und schwankte und warnte es in der Masse, und alles schien von dem wackeren Bürgermeister vergeblich geredet zu sein.
Eine aber war da, die hatte seine Worte mit stammendem Herzen ausgenommen, noch leuchtete die Glut aus ihren Augen, und ihre helle Stimme drang plötzlich durch alles Gerede: „Ich kenne die Männer, ich habe sie gesehen.“
„Was? wer sprach da?“
„Eva Gellert.“
„Das Findelkind?“
„Pah, was die wohl wieder weiß!“
„Laß sie doch sagen.“
„Heraus mit dir, was weißt du? Woher kennst du sie?“
Eine Hand legte sich dem Mädchen auf die Schulter, und eine vertraute Stimme sagte. „Komm, Kind, sage es ihnen, was du weißt, es ist nötig, ich stehe dir zur Seite.“ Der Rektor Trautmann führte sie mit sanftem Nötigen auf den Katheder und stand neben ihr. „Nun sprich,“ sagte er und hob die Hand zum Stillen der Masse.
„Ja,“ rief Eva mit heller Stimme, „ich habe sie gesehen, alle drei; auf dem Galgenberge draußen vor dem Lübschen Tore hielten sie 1806, der General Blücher voran, neben ihm York mit seinem eisernen Gesicht, das aussah, als ob aus ihm jeden Augenblick ein Hagel von zerhacktem Eisen auf die Franzosen geschleudert werden sollte. Um Blücher fuhren die Kugeln, sprangen die Granaten, und er hielt auf seinem Pferde heitermutig, sein Antlitz frischrot, und dampste seine kurze Pfeife, als ob er auf einem Spazierritt wäre, nur aus seinen dunklen Augen sprühten Feuer und Flammen. Von ihm ging ein Zauber aus auf alle; so tapfer, so trotzig, so mächtig war er, daß ein kurzes Wort einzelne zu Helden machte. Ihr habt die Preußen hier gesehen, wie sie elend gingen, als könnten sie nicht mehr von der Stelle, und wie ihnen die Not aus den Augen starrte, aber Blücher sprach, und dann strömte seine Kraft in sie über, sie richteten sich aus und standen so trotzig da wie er. Jedes Wort zuckte wie ein Blitz. Als er den Kampf abbrechen wollte, war es York nicht recht. Da sagte er: „Alter Eisenbeißer, nicht brummen. Wenn wir ausgeruhte Leute hätten, dann könnten alle Satanasse der Welt auf uns losgelassen werden, aber so, einundzwanzig Tage ohne Verlöschung - es geht nicht.“ York wollte nicht nachgeben, und Blücher rief: „Tausend Sackerment! Sind wir denn Faultiere gewesen? In die Schlawerei gehen wir nicht. Die Waffen legen wir nicht aus der Hand, man müßte sie uns denn abschießen.“ Und dann wandte er sich zu denen, die zurückbleiben mußten, um den Abzug zu decken, und sagte: „Kinder, ihr haltet hier den Platz wie Preußen. Wir wollen uns des Vaterlandes würdig zeigen bis zur letzten Patrone und zum letzten Atemzuge.“ Er ritt weg, und sie blieben alle und schossen weiter, bis die Trompete sie abrief. Aber die Verwundeten lagen da, neben einem kniete ich, der war im Sterben. Da sagte er. „Noch ist meine Hand nicht abgeschossen, gib mir eine Patrone.“ Und ich gab sie ihm. Er lud sein Gewehr und schoß einen Franzosen tot und sagte: „Des Vaterlandes würdig bis zur letzten Patrone und zum letzten Atemzuge.“ Dann war er tot. Aber was Blücher sagte und der Sterbende sprach und wie der starb, das hat sich mir ins Herz gesenkt, und oft in schweren Stunden scholl mir das alles wieder und darin fand ich die Kraft mich aufzurichten.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!