- 09 - „Onkel, Onkel!“ rief sie, „das ist entsetzlich - o jetzt weiß ich es plötzlich - das ist so schrecklich - ich habe ihn ...

„Onkel, Onkel!“ rief sie, „das ist entsetzlich - o jetzt weiß ich es plötzlich - das ist so schrecklich - ich habe ihn gesehen, zweimal habe ich ihn gesehen, ich fühle noch heute das Grauen, das mich dabei befallen hat. - O Gott, der Mann ist da - und das ist - nein, nein, ich will nichts von ihm wissen, wir haben nichts miteinander zu schaffen, er wollte dich schlagen, er hat Matthies verraten, er hat mich verkauft, wo er mir begegnete, war er mir das leibhaftige Verderben - nein, ich kann ihn nicht sehen, mir ist so, als müßte ich wieder fori, wenn er kommt, als hefte sich an seinen Fuß ein Fluch. - O Gott, was habe ich zu tragen gehabt, weil ich ein Findelkind wurde. Und nun ist alles vergebens gewesen, er will mich auch in sein Verderben ziehen.“
„Wenn er nun gekommen wäre wie ein Vornehmer und Reicher? wie dann, und?“
„Nein, dann erst recht nicht. Ich habe nur meine beiden Eltern, und davon lockt mich nichts weg.“
„Jetzt kommt er wie ein Armer, so bettelarm, daß es vielleicht keinen ärmeren im Lande gibt.“
„Ja, das gehört ihm auch, es kann ihm gar nicht schlimm genug gehen. Onkel, da wird wieder klar, daß Gott solchen - solchen - zu treffen weiß, o das ist gut so.“
„Wenn er nun als ein Reuiger kommt?“
„Der, Onkel? Zweimal habe ich ihn gesehen - o ich vergesse es nie! und nun kommt er zum dritten Male, weil er glaubt, mich ausnützen zu können, deshalb kommt er.“
„Wer kann ihm ins Herz sehen?“ sagte der Rektor schlicht. „Ich weiß nur, daß er bereit ist, wieder von hier zu gehen, ohne dich gesehen zu haben, daß er sich wünscht, draußen irgendwo hinter einem Baum zu liegen und zu sterben, und daß er bekennt, alles mit Recht verdient zu haben. Weiter weiß ich nichts. Nun schwebt mir vor, daß es in der Schrift einmal heißt: „Das zerbrochene Rohr wirst du nicht zertreten und den glimmenden Docht nicht auslöschen.“
„Wie soll ich es meinen Eltern beibringen? Sie können ihm nicht helfen, sie haben selbst nichts.“
„Darnach, wie ihm zu helfen ist, fragen wir später; zunächst mußt du nur wissen, ob man versuchen soll, ihm zu helfen.“
„Was wird Matthies dazu sagen?“
„Er geht selbst durch eine harte Schule.“
„Soll ich ihn noch elender machen, wenn er wiederkommt, und ihm sagen ?Das ist mein -? nein - ich kann das Wort nicht sagen. O, wenn doch Matthies hier wäre, der würde mir beistehen.“
„Ja, freilich, aber glaubst du, daß er sagen würde ?Jage deinen Vater zum Tor hinaus und laß ihn draußen untergehen??“
„Nein,“ sagte Eva und trocknete ihre Tränen, „das würde er nicht sagen. Ich danke dir, Onkel, ich will ihn sehen. Aber erst müssen es meine Eltern wissen, und denen will ich es selbst sagen.“
„Das ist gut,“ schloß Trautmann, „ich habe mir gedacht, daß du so handeln würdest, du bist ein starkes Mädchen, so klein du bist. Nun laß uns zu Ollhöft gehen.“ und beide gingen.
Der Torwärter hatte die Zeit benutzt, den Fremden ein wenig zurechtzumachen, um den Landstreicher nicht zu grell heraustreten zu lassen, denn daß Eva kommen wurde, wußte er; aber es war ihm doch sein Werk nur kümmerlich gelungen. Thoms Ihlenpohl wollte aufstehen, als die beiden eintraten, aber er fiel auf seinen Stuhl zurück und senkte die Augen vor dem klaren Blick seines Kindes. Die beiden waren allein, denn die andern hatten die Stube verlassen. Lange schwiegen sie.
„Ich will nicht heucheln,“ begann Eva mit zitternder Stimme, „ich kann nicht sagen, ich habe Sie lieb wie einen Vater, ich will versuchen - o Gott, Gott, hilf mir, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Ihlenpohl schwieg.
„Erzählen Sie mir von meiner Mutter,“ begann Eva wieder, aber sie verstummte, denn Ihlenpohl war sichtlich zusammengefahren. „So hob sie die Hand,“ sagte er, als spräche er vor sich hin, „und sagte ,dafür wirst du –?“
„Was meinte sie damit?“
„Ich weiß es nicht, sie starb, ohne es zu sagen, und ich grüble seitdem immer darüber. Nein, ich mag hier nicht sein, ich will fort, ich halte das nicht aus. Diese Augen - diese kleine Hand, ich fürchte mich davor.“
Eva schauderte es, sie dachte daran, wie sie ihm einst gedroht hatte, und wie sie Matthies das Messer gegen ihn in die Hand gedrückt.
„Ich wußte nicht, was ich tat,“ sagte sie leise.
„Ich wußte es, obgleich ich betrunken war, hinter mir schrie mein Kind, und ich hielt beide Ohren zu und lief davon.“
„Es ist Ihnen nicht gut gegangen, seitdem -“ Sie konnte nicht sagen „Sie mich verkauften.“ Aber er verstand sie.
„Es ging mir immer nach und zog mich ganz nieder.“ Er sah Eva wie hilfesuchend an, und dann wankte er auf dem Stuhl und wäre gefallen, wenn sie nicht aufgesprungen wäre und ihn gestützt hätte. Als er die kleinen Hände fühlte, da schluchzte er auf, plötzlich begann er zu weinen, das freundliche Zureden Evas machte den Zustand nur schlimmer.
So fanden ihn die beiden, die draußen die Lage beraten hatten, bei ihrem Eintreten. Der Rektor teilte ihm mit, daß er die Kammer, die durch Gellerts geräumt war, beziehen sollte. Er würde mit dem Bürgermeister sprechen und alles ordnen, das Weitere würde sich finden. Ihlenpohl stand auf und suchte nach seinem Hut und Stock und wollte wieder auf die Wanderschaft gehen, er wimmerte, als ihn Ollhöft auf den Stuhl zurückdrückte, dabei blieb er.
Die drei sahen sich kopfschüttelnd und ziemlich ratlos an, bis Eva erklärte, daß sie nun gehen mußte, um ihre Ältern zu benachrichtigen, der Fremde wurde sichtlich ruhiger, als sie fort war.
„Wie siehst du aus?“ rief Frau Gellert, als Eva eintrat, „haben dir die alten Klatschmäuler wieder zugesetzt?“
„Ach nein, die reden wohl schon von andern Dingen, aber ich - ich - muß euch etwas sagen,“ antwortete Eva.
„Gellert, komm herein, das Kind will uns etwas Sagen.“
Der Schlachter kam frisch von der Arbeit, die Tätigkeit hatte ihn aufgerüttelt, er konnte schon lachen, und Frau Gellert hatte dabei ihre gute Laune wiedergefunden.
„Nun, was für Heimlichkeiten habt ihr beide? wollt ihr schon von Weihnachten reden? Einen Wunschzettel habe ich fertig, schenkt mir fidele Gesichter, dann bin ich zufrieden.“ - Eva seufzte. - „Na, da sag ich, schlag doch Gott den Teufel tot! was hat das Mädchen?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!