- 08 - Matthies hatte nicht gewagt zu schreiben, weil es allgemein bekannt war, daß die kaiserlichen Spione sogar bis ...

Matthies hatte nicht gewagt zu schreiben, weil es allgemein bekannt war, daß die kaiserlichen Spione sogar bis in die Post vorzudringen wußten, und daß Briefe sehr oft heimlich geöffnet und gelesen würden. Somit hatte er sich nur darauf beschränken können, durch Wandernde Botschaft zu senden, und die Nachrichten waren sehr unregelmäßig gekommen, man wußte nur, daß er mit Hinnick gesund war, auch nicht zu darben brauchte und sich trotz der bedrängten Zeiten oben halten konnte. Das Gesindel aber kannte die Verhältnisse draußen am besten, und Ollhöft hätte gar zu gern dem Mädchen, das auf Matthies so fest hoffte und dessen Plaudereien dem Alten immer das Herz erfrischten, Genaueres gemeldet. So kam es, daß er mit den Zuwandernden oder Durchziehenden meistens länger verhandelte, als sonst Brauch war, und mancher, dem er das Tor verbieten mußte, erhielt zu seinem Erstaunen nebenher noch eine Gabe, wenn auch nur eine Pfeife von dem Tabak, mit dem Scholte noch immer versorgen konnte.
Eines Morgens, als Ollhöft sein Tor, das von dickem Rauhfrost befallen war, geöffnet hatte, stand er ftill und sah nachdenklich über die Brücke fort. Drüben in der Pappel saßen mehrere Saatkrähen, andere flogen herbei, sie hatten es offenbar eilig und mußten irgend etwas Wichtiges sich mitzuteilen haben.
„Seid ihr noch da, ihr Franzosenvolk?“ sagte Ollhöft, „ihr haltet ja längst nach Rußland ziehen müssen, ist denn dort noch nicht genug für euch zu holen?“
Seltsam, wie aufgeregt sie waren. Sie schrien, flogen auf die untersten Zweige und schielten hinab, flogen auch wohl auf den Boden, aber kehrten immer rasch zurück. Iven witterte hinaus zur Pappel, bellte und wollte sich nicht beruhigen lassen. Das war so auffallend, daß Ollhöft nachsehen mußte.
Da lag ein Zerlumpter unten an dem Stamm und regte sich nicht. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht nicht zu klopfen gewagt und den Tag hier abwarten wollen, war eingeschlafen und vielleicht erfroren. Wüst und verkommen sah er aus, gehörte natürlich zu den Landstreichern von Profession, immerhin war es ein Mensch. Unmöglich konnte man ihn hier so liegen lassen, am Ende war er noch zu retten. Ollhöst übergab Iven die Torwache, holte sich Hilfe und schaffte mit dieser den steifen Körper in seine Stube, die noch nicht durchheizt war. Er wußte aus früheren Erfahrungen, wie man mit solchen Verunglückten umzugehen hatte, und so gelang es ihm denn auch nach längerer Mühe ihn ins Leben zurückzurufen. Das erste Wort, daß der Alte von ihm hörte, war: „Eva.“
Ollhöft sah ihn schärfer an, da die Röte in das bisher ganz weiße Gesicht zurückkehrte, schien der Landstreicher ihm bekannt, der war sicher schon wiederholt durch das Tor gekommen, Ollhöft vergaß selten ein Gesicht, das er scharf prüfend angesehen hatte. Er schürte die Kohlen und heizte ein.
„He, du da,“ sagte er, „was hast du mit Eva zu tun? was für eine Eva meinst du?“
„Das ist - das war -“ lautete die unsichere Antwort.
„Was ist sie? was war sie?“ Ollhöft schüttelte ihn kräftig, und der Fremde sagte wie gedankenabwesend: „Meine Tochter - dafür wirst du -“
Der Torwärter fuhr zurück und setzte sich in plötzlichem Schrecken. „Das will revidiert sein, da heißt es auf dem Posten sein,“ murmelte er. Er schob einen eisernen Topf mit Wasser in die frischentfachte Glut und wartete, indem er sich eine Pfeife anzündete, dann schüttete er Kaffee mit Zichorien gemischt in das sprudelnde Wasser und klärte das braune Getränk ab.
„Da, trink, das wird dir gut tun, aber verbrenn dich nicht, es ist heiß.“ Der Durchfrorene schlürfte gierig das Dargebotene ein und begann sichtlich aufzutauen.
„Achtung! wie heißt du?“ fragte Ollhöft.
„Thoms Ihlenpohl.“
„Stand?“
„Ballettmeister.“
Auf ein Haar wäre das Unerhörte geschehen, daß dem Fragenden die Pfeife aus dem Munde gefallen wäre, er fing sie nur noch durch geschickten Griff auf und legte sie auf den Tisch.
„Dummes Zeug,“ schalt er sich selbst. „Ein alter Soldat erschrickt doch nicht vor falscher Meldung. - He, du da, lüge mich nicht an, sonst setze ich dich sofort wieder vor das Tor, wo du den Krähen Ballett vortanzen kannst.“
„Bin ich’s nicht, so war ich’s doch einst, ja, ja, ich war es einst, ich habe vor Königen getanzt, und Könige haben Tomilo Pollini mit höchsteigenen Händen Beifall gespendet, aber seitdem sind Könige gestürzt, und Tomilo Pollini liegt auf der Landstraße.“
„Herr Gott, tu ein Wunder und schlag den Kerl hier auf der Stelle tot,“ sagte Ollhöft verblüfft.
„Herr Gott, erhöre ihn,“ setzte Thoms Ihlenpohl trübselig hinzu. „Mehr als ein Lump wird nicht aus mir.“
„Du Hund, du gottserbärmlicher, niederträchtiger Hund,“ schrie Ollhöft und packte ihn an und schüttelte ihn wieder, „bist du es, der sente Tochter verkauft hat?“
„Ja, für acht Groschen und zwei Schnäpse - ich habe sie zurückgekauft von Lewinsch, aber damit habe ich sie doch nicht, das bleibt aus mir, dagegen komme ich nicht auf.“
Ollhöft ließ ihn los, der Mann fiel einfach vom Stuhl und lag gegen die Wand gelehnt; der Alte ließ ihn liegen und stelzte in der Stube auf und ab. „Das wird nicht gut, das wird nicht gut,“ fugte er. „Er ist nicht wert, daß ein Hund ihn anknurrt, hätte ich ihn doch draußen liegen lassen.“
Das Jammerbild machte auf das gute Herz von Ollhöft schließlich doch Eindruck, er hob ihn wieder auf und setzte ihn auf den Stuhl. „Da, iß.“ Er schob ihm Brot zu. „Ich weiß nicht, was für eine Parole ich ausgeben soll, da muß ein anderer her.“
Die Straße war mittlerweile lebendig geworden, er rief einen Jungen heran und sandte ihn zu dem Rektor, um dessen Besuch zu erbitten. Als der kam, war rasch genug außer jedem Zweifel festgestellt, daß der Gefundene Evas Vater wäre; alles, was man über das Findelkind einst hatte erfahren können, war diesen beiden alten Männern fest ins Gedächtnis geschrieben. Nun saßen sie sich gegenüber und sahen sich ratlos an. Noch war es leicht, den Fremden, dessen Gegenwart über das ohnehin schon schwerbedrängte Mädchen neue Not, neuen Schimpf, neuen Bann bringen konnte, schlichtweg abzuschieben durch das Tor, er hatte nichts sich auszuweisen, er war nichts als ein Landstreicher, den man nach der Verordnung überhaupt nicht in die Stadt lassen durfte. Ging er, getrieben von ernster Verwarnung und Drohung, so war es wahr-scheinlich, daß er bald erliegen würde.
Aber Trautmann erklärte, daß die Angelegenheit gar nicht die ihre wäre, und daß Eva hier allein zu entscheiden hätte, übernahm es auch, das Mädchen vorzubereiten. Es war für den alten Rektor eine bitterschwere Ausgabe, als er Eva in seiner Stube gegenübersaß und nun reden sollte, aber er unterzog sich ihr als guter und starker Erzieher ohne Wanken.
Zuerst sprach er mit Eva von ihrer Jugend, ihrer Kindheit, ob sie sich entsänne, wie sie hier angekommen, dann weckte er vorsichtig alles, was durch die Liebe der Pflegeeltern allmählich der Vergessenheit anheimgefallen war, Eva erschrak selbst davor, daß ihr plötzlich das Zimmer mit der kranken Frau und dem wüsten harten Manne auftauchte. Die Frau hatte viel geweint und sie gestreichelt, der Mann hatte viel geschimpft und sie geschlagen, weil sie nicht tanzen konnte, wenn er sie anfuhr. Ihr wurde sehr bange unter dem behutsamen Forschen des Rektors, sie erwartete allmählich etwas Fürchterliches zu hören. Und das Fürchterliche kam, als er sagte: „Und dieser Mann, der dich an die Bettlerin verkaufte, dieser Mann, Kind, ist jetzt da. Und das ist dein Vater.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!