- 03 - Eva ging hinaus, sie ging jetzt fast immer nur, wenn sie geschickt wurde. Oben begann sie gedankenlos ...

Eva ging hinaus, sie ging jetzt fast immer nur, wenn sie geschickt wurde. Oben begann sie gedankenlos ihr Werk; als sie aber an das Fenster kam, das auf die Hofseite hinausging, setzte sie sich still auf einen Stuhl. Da war ja der alte Zaun, auf dem sie mit Matthies geturnt hatte, da war die Leiter, mit der sie den Knaben einst zum Ausbrechen aus der Nachsitzestunde verholfen, da lag die Bank, auf der sie mit Matthies gesessen und mit ihm Pläne über die Zukunft so sicher, so glücklich in seiner Nähe, gemacht, dort drüben der Holzstall, wo sie Robinson gemeinsam gelesen, der Schuppen, überragt von dem Birnbaum im Garten - alles, alles war da, aber der, durch den das alles erst Leben und Bedeutung gewonnen hatte, fehlte, der war nun in der Ferne, ein heimatloser Flüchtling, rastlos umgetrieben von Ort zu Ort; nur diesen einen Platz würde er meiden, weil sie da war, sie, die er verachtete und verstoßen hatte - und sie hatte ihn so lieb, doppelt lieb, weil aus seinem unseligen Zürnen gerade seine Gegenliebe am hellsten herausleuchtete.
Seufzend stand sie auf, begann wieder hier und dort etwas zurechtzurücken und stieß mit der Hand in einem dunklen Winkel an einen Gegenstand, der einen besonderen Klang gab, sie schrie auf, als hätte er zu ihr gesprochen, und ergriff den graugrünen Leinenbeutel, in dem die Geige steckte, die Matthies so manches liebe Mal vor ihr gespielt hatte. Mit zitternder Hand zog sie sie heraus und legte sie auf ihren Schoß, und ihre Tränen fielen still darauf nieder.
Der Rektor, der unbemerkt eingetreten war, betrachtete lange prüfend das blasse Gesicht und schüttelte ernst den Kopf; endlich trat er heran, nahm dem zusammenfahrenden Mädchen die Geige aus der Hand und sagte: „Überlaß sie mir, wir müssen sie ihm aufheben, bis er wiederkommt.“
„Onkel Rektor, er kommt nicht wieder, er glaubt mir nicht,“ schluchzte Eva.
„Ich glaube dir,“ antwortete Trautmann, „und Matthies wird dir glauben, wenn er wiederkommt, Kind, wir kennen ihn ja beide. Aber -“ er legte besondern Nachdruck auf seine Worte - „da sind noch andere, die glauben’s nicht, werden’s nicht glauben, was man auch sagt, das mußt du wissen, damit es dich nicht unvorbereitet trifft. Gehst du über die Straße, so wird mancher -“
„Nein, nein, nein,“ rief Eva auffahrend, „das kann nicht sein, das kann ganz gewiß nicht sein.“
„Einen müssen sie haben, auf den sie alles wälzen können, sobald die Angst, wie jetzt, allgemein wird, und das sollst du sein. Ich sah kürzlich drei Weiber - du kennst sie ja - auf der Straße zusammen eifrig klatschen, und als ich vorbeiging, schwiegen sie und sahen mich so gemein und höhnisch an, jetzt weiß ich, wem das Unheil galt, das sie ausheckten.“
„Ja, ich kenne sie,“ sagte Eva sich fest aufrichtend, „ich habe ihre Gemeinheit schon einmal erfahren, aber das sollen sie nicht denken, daß sie mich demütigen können. Wissen’s meine Eltern schon?“
„Ja,“ sagte Trautmann, „aber sie schließen es vor dir still in sich.“
„Das ist unglaublich bitter, Onkel, aber um so stärker muß ich sein.“ Trautmann nickte ihr zufrieden nach, als sie ging, er wußte, daß gerade die Bosheit ihren kräftigen Widerstand am ersten wachrufen würde.
In allem, was er Eva gesagt hatte er recht, sein Ohr war im Laufe der Jahre so fein auf die Rede der Kleinstädter eingestellt, daß er sie verstand, auch wenn sie nicht wagten, zu dem geraden Manne mit den blitzenden Augen selbst zu sprechen. Bald rannte und zischelte und lästerte es in den Winkeln, und aus den Winkeln drang es in die Küchen und aus den Küchen in die Stuben. Eva war durch die Weltkenntnis des Rektors vorbereitet und ließ sich nicht beugen und ging ihren flinken Schritt in aufrechter Haltung durch die Straßen. Aber an der Pumpe standen die Dienstmädchen, setzten ihre Eimer nieder, stemmten die Arme in die Seite und lachten höhnisch, ein halbwüchsiger Junge hielt die Hände in den Hosentaschen und schielte zu ihr herüber, ein Maurerhandlanger setzte seine Karre ihr in den Weg, zwang sie auszuweichen, spuckte aus und drohte mit geballter Faust hinter ihr her. Und als sie einstmals in der Tüsche einem kleinen pausdäckigen Jungen begegnete, den sie immer besondere gern gehabt hatte, und ihn in plötzlich überquellendem Gefühl aufhob und an die Brust drückte und küßte, da fuhr die Mutter herbei und riß ihr den Knaben fort und keifte und schleuderte das Wort heraus: „Nein, für so eine ist mein Junge denn doch noch viel zu gut.“
Tapfer drängte sie ihre Tränen zurück, daheim sollte niemand merken, wie sehr sie litt. Eva wollte ihre Gedanken ablenken, wollte Arbeit suchen, um ihren Eltern die Sorge um das Dasein zu erleichtern; sie war zu allem bereit und geschickt, sie erbot sich zum Fegen und Scheuern, zum Waschen und Plätten, zum Kochen und Brauen, zum Nähen und Sticken, irgend etwas mußte sich doch finden, aber so viel sie suchte und fragte, sie fand nur Abweisung. In ihrer Ratlosigkeit wußte sie keinen andern Weg als zu dem Bürgermeister; irgend etwas, so fühlte sie, mußte geschehen, um wenigstens nicht ihre Eltern mit in ihrer Not versinken zu lassen. Das Haus war verwüstet, von der Gnade anderer mußten sie leben, und die Herzlosigkeit der Menschen arbeitete daran, auch das letzte, was sie hatten, die Freude an der Tochter, ihnen täglich zu vergällen. Gellert saß meistens in einer Ecke und brütete vor sich hin, seine Frau hatte sich lange gewehrt, aber schließlich war sie der hartnäckigen Roheit gegenüber verstummt und verzehrte sich so in ihrem dreifachen Leid.
Der Bürgermeister empfing Eva in seiner gütigen Weise, und mit vornehmer Gesinnung fühlte er sofort, daß dieses suchende Menschenherz nicht ungetröstet von dannen gehen dürfte, aber er fand auch, daß Manneswort hier nicht angebracht war. Darum bat er Eva, eine kurze Weile zu warten, ging, um mit seiner Frau zu beraten, führte Eva zu ihr und machte sich dann still wieder davon.
Die alte Frau saß in einem hochgepolfterten Lehrstuhl, schneeweiß fielen ihre Locken unter der schwarzen Haube an den Seiten des Kopfes nieder, ihre Brille, durch die sie eben in ihrem Lieblingsbuch, Arnds Paradiesgärtlein, gelesen, lag noch in den Fingern, die sie auf den Tisch gelegt hatte.
„Komm hierher, Kind,“ sagte sie mit ihrer guten Stimme, „da ist ein Schemel, den rücke dir ganz nahe zu mir heran, so, das ist recht, nun lege deinen Kopf hier an. Auf den Schoß nehmen kann ich dich nicht mehr, kleine Eva, so wie einst, ich bin ja an einem Fuße ganz gelähmt von damals her, von dem schlimmen Jahr. Seit der Zeit ist manches Schwere über uns ergangen, und über dich, kleine Eva, vielleicht am meisten.“
Während sie so sprach, rührten ihre seinen Finger liebkosend Evas Haar an und glitten auch wohl über deren Wangen.
Eva antwortete nicht, ihr war nur unbeschreiblich wohl in der Nähe dieser stillen, edlen Frau, die ihr großes Leiden stets mit Geduld getragen hatte und dabei sanft und gut geblieben war.
„Der Oberst Ladoucette, der harte, rohe Mensch, hat dir sehr weh getan?“
Eva konnte nur ein wenig nicken.
„Und, wie mein Mann mir eben sagte, nun kommen unsere Kleinstädter nicht darüber weg und lassen dir und deinen Eltern gegenüber ihren Zungen freien Lauf?“
Ein leises Schluchzen war die Antwort.
„Meine arme Eva!“ sagte die alte Frau, und dann schwieg auch sie eine Weile. Endlich begann sie wieder. „Du darfst mit den beschränkten Leuten nicht zu hart ins Gericht gehen, denn, liebes Kind, die können sich nicht auf einen höheren Gesichtspunkt stellen, ganz besonders nicht aus sittlichem Gebiete, die denken und empfinden sehr kleinlich, und nach solcher Kleinlichkeit messen sie auch die Handlungen anderer Menschen.“
Sie machte eine Pause und sah, gleichsam vorsichtige und milde Gedanken suchend, auf das Buch, das auf dem Tische lag. Dann begann sie wieder. „Es gibt Lebenslagen, in denen eine furchtbare Aufgabe auf einen einzelnen Menschen ganz allein gelegt wird, und er muß sie lösen, ohne daß er einen andern um Rat fragen kann, ja, ohne daß ein anderer auch nur zu raten vermag.“
„Ja,“ sagte Eva, „das ist so furchtbar, daß ich glaubte, ich müßte darüber wahnsinnig werden.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!