- 10 - „Alle sollen Brüder sein, aber deswegen sollen doch nicht alle einerlei sein. Gott selbst ist es doch auch, der ...

„Alle sollen Brüder sein, aber deswegen sollen doch nicht alle einerlei sein. Gott selbst ist es doch auch, der jedem seine Eigenart gegeben hat,“ versetzte der Vietlübber.
„Und wenn er sagt ?Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst?, so soll doch jeder auch sich selbst lieben und behaupten und nicht von dem Platze drängen lassen, den Gott ihm gegeben hat,“ fiel die Hausfrau ein.
„Weltverbrüderung macht die Menschen flach und charakterlos,“ fuhr der Vietlübber heraus, „man kann diese Weltverbrüderung nicht fassen, überall zerfließt sie in grauem Nebel, nur über der Nation, über dem Vaterland strahlt es hell.“
„Wieder das Vaterland,“ sagte der Kammerherr, „wo ist denn das? ich habe es nicht gefunden. Ist es Gadebusch? ist es Mecklenburg? oder habdelt sich’s da um groß und klein, um nahe oder ferne Grenzen? In Preußen redete man bisher auch immer vom Vaterlande, ist es dadurch gerettet? Nein, geradezu darüber gestürzt, es riß uns mit. Nun sehen wir auf Rußland, ob uns das wohl helfen kann, fall das unser Vaterland sein? Nein, wir dürfen es nicht nach Grenzpfählen bestimmen wollen. Im Wahren, Guten und Schönen ist unsere Heimat, und das soll in allen Ländern zu Hause sein, ganz gleich, ob es aus Frankreich, England oder Italien kommt, denn es ist sich überall gleich, wenn es echt ist.“
„Das ist wieder so Zerfließendes, das man nicht fassen kann. Wir müssen etwas Festes unter den Füßen haben, um darauf zu stehen, eine Form für das Edle, die man hören oder sehen kann, and da haben große Nationen sich ihre eigne feste Form geschaffen, ihre Kunst und vor allem ihre Sprache.“
„Wenn Schiller redet, so horcht ganz Deutschland auf, dem Franzosen bleibt er fremd, wir Deutsche aber empfinden sofort, daß hier ein Einheitliches für uns liegt. Eva, wie lautete die Stelle, die du gestern zweimal lesen mußtest?“

  ,,Ob uns der See, ob uns die Berge scheiden
  Und jedes Volk sich für sich selbst regiert,
  So sind wir eines Stammes doch und Bluts,“


zitierte Eva.
„Und gerade das zeigt uns unser Vaterland. Als ich aus Süddeutschland hierherkam, war es mir anfangs so, als wanderte ich wie verloren unter Fremden, aber ich habe bald gemerkt, daß die Menschen mir hier ganz still an das Herz wachsen und im tiefsten Grunde empfanden und dachten wie ich, darum setze ich auch hinzu: „O lerne fühlen, welchen Stammes du bist!“
„Sie haben sich auf einen Boden locken lassen,“ sagte der Vietlübber, „auf dem Sie nicht heimisch sind, die beiden hocken jeden freien Augenblick über ihrem Schiller.“ Er hatte mit heimlicher Freude beobachtet, mit wie flammender Teilnahme Eva dem Gespräche gefolgt war, sah nun aber, wie sie bald rot bald blaß wurde, darum brach er ab. „Ich versuche schon lange nicht dagegen zu streiten, sonst heißt es flugs: ?Nein, eine Grenze hat Thrannenmacht.?“
Man lachte, und die gemütliche Stimmung war wiederhergestellt.
Vor Evas Blicken war der sterbende Soldat aufgetaucht. Das war ein schlichter Mann und kannte doch Vaterland und Nation und hatte sich bis zum letzten Atemzuge dafür eingesetzt. Während des Gespräches war sie über das Höchste eines Volkes, das sie bisher immer mehr gefühlt als bedacht hatte, zur größten Klarheit durchgedrungen und empfand nun, wie das Einssein mit Schiller sie mit starker Freude durchdrang. So reifte sie während ihres Aufenthaltes in Vietlübbe geistig wie körperlich und wurde in sich gefestigt und klar. -
Über Gadebusch, das als Rastort für größere Abteilungen äußerst bequem an den verschiedenen Straßen lag, war inzwischen noch weit größere Last gekommen als über die Umgegend. Während des Novembers 1806 bis tief in 1807 hinein war es selten von starker Einquartierung frei, und noch lange kehrten kleinere Abteilungen ein, oft waren die Häuser bis unter das Dach voll Soldaten gestopft, die alle das Beste begehrten und zu Gewalttat neigten, wenngleich bei der wiederhergestellten Zucht Plünderungen scharf unterdrückt wurden. Die Vorräte, mit denen man sich auf des Vietlübbers Rat versehen hatte, wurden schnell aufgezehrt.
„Herr Bürgermeister, was nun?“ fragte eines Tages der Schweinehirte. „Vor acht Tagen habe ich noch fünf ausgetrieben und heute keines mehr. Kein Mensch will mir den Hütelohn geben, weil es nichts mehr zu hüten gibt, ich hab schon drei Tage mit meiner Frau Bucheckern essen müssen, aber das geht nun auch nicht mehr.“
„Herr Bürgermeister, was zu viel ist, ist zu viel, und was zu wenig ist, ist zu wenig. Aber weniger als gar nichts gibt es nicht,“ jammerte der Stadimusikus. „Überall auf dem Lande liegen die Franzosen, und kein Mensch will Austmusik haben, und darauf bin ich doch angewiesen.“
Inmitten der Verwirrung und des Gedränges stand Frau Gellert unentwegt und unerschüttert und setzte stets Trotz gegen Trotz, ihr Mann wußte den Ärger sich im rechten Augenblick noch durch eine drollige Wendung wegzulachen. Da kam eine fremde Weibsperson, mächtig aufgeputzt und, wie Frau Gellert beim ersten Anblick feststellte, in Kleidern, die in Lübeck zusammengeraubt waren, und fragte nach dem Quartier des Zahlmeisters; da das im Gellertschen Hause angesagt war, so erklärte sie es sofort für ihr Logis und begann sich einzurichten. Anfänglich sah Fran Gellert ihr verdutzt zu, dann kam ihr die rechte Erkenntnis des Verhältnisses, sie warf ihre Haube auf den Kopf, als wäre die das Barett eines Richters, und forderte also ausstaffiert von der Fremden den Quartierzettel. Die lachte ihr unverschämt in das Gesicht und wandte ihr den Rücken, aber sie konnte sich erst wieder besinnen, als sie sich jenseits des Rinnsteins auf der Straße wiederfand, alle ihre Habe flog alsbald ihr nach. Da schrie und schimpfte sie entsetzlich und drohte furchtbare Rache, aber heimlich durch den Seiteneingang kam der Zahlmeister über den Hof ins Haus und dankte Frau Gellert, daß sie ihn von der Person befreit habe, und beschwor sie, sie um Gottes willen nicht einzulassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!