- 05 - Ihr wurde plötzlich seltsam zumute. Sonst hätte sie der laufenden Männer gespottet, jetzt war es ihr, ...

Ihr wurde plötzlich seltsam zumute. Sonst hätte sie der laufenden Männer gespottet, jetzt war es ihr, als würde ihr das Entrinnen immer schwerer, sie lief noch tapfer, aber die beiden kamen immer näher, die johlende, rasende Masse ein Ende hinterdrein. Der Atem wollte ihr in beklemmender Angst versagen, sie gab sich verloren.
Da rief von der Seite her eine bekannte Stimme: „Pascholl!“
„Pascholl!“ jubelte sie und sprang wieder neubelebt vorwärts, Matthies war da, nun fühlte sie sich gerettet.
Matthies hatte sie gesucht und von Ollhöft erfahren, daß sie nicht mit heimgekehrt war, da hatte ihn die Sorge hinausgetrieben. Als er die Jagd sah, wartete er hinter einer Scheune und warf nun flink dem ersten Verfolger eine Bohnenstange an die Füße, so daß der stolperte und fiel, der andere rannte gegen den Gestürzten und schlug über ihn hin zu Boden.
„Pascholl!“ Er war neben Eva, Kugeln sausten an ihnen vorbei, er zog, ja schleppte die Ermattete durch das Tor und hinter die ersten Häuser der Stadt. Als er von ihr gehört hatte, was sie getan, brachte er sie sofort in das sichere Versteck in dem Schuppen hinter Fromms Haus und legte ihr dringend ans Herz, sich nicht vom Platze zu rühren, bis er zurückkäme sie zu holen, die Franzosen würden ohne Frage sie suchen, um Rache an ihr zu nehmen. Dann lief er davon. Als sie so in der Stille lag, merkte sie erst, daß an ihrer Seite Blut niederrieselte, ein Streifschuß hatte sie getroffen, sie verband sich, so gut es ging, und lehnte sich dann in ihre Ecke und horchte.
Über die Stadt war das Unglück hereingefahren wie ein plötzlicher Deichbruch. Die Stille des Morgens war durch das Schießen am Galgenberg jäh durchbrochen. Das blieb freilich noch jenseits des Flusses, aber alsbald hörte man ein dumpfes Dröhnen aus der Ferne, das allmählich anschwoll und sich näher wälzte; ratlos über das nie gehörte Geräusch standen die Gadebuscher ängstlich vor den Türen.
Der Bürgermeister Koch kam trotz seines Alters durch die Straßen gelaufen, ihm war Ollhöft eingefallen, daß der in seinem verbissenen Grimm vielleicht durch irgend eine Unbesonnenheit unendliches Unheil über die Stadt bringen könnte. In der Tat fand er den alten Soldaten entschlossen, das Tor zu sperren und mit seinem geladenen Gewehre und seinem Hunde zu verteidigen bis zu seinem Fall. Das hätte dem Feinde den Vorwand zur Plünderung einer eroberten Stadt geben können. Kochs Zureden prallte an dem Eigensinn des Alten ab. Endlich mahnte er den Unteroffizier an die Schande der Insubordination angesichts des Feindes und erreichte, daß Ollhöft sich zurückzog mit dem Versprechen, alles gehen zu lassen, wie es wolle. Er konnte es halten, denn um seine kleine Bude kümmerte sich niemand.
Aber alsbald schwoll der Lärm schon an fast zu Sturm und Donner, und plötzlich flutete es zu allen drei Toren zugleich herein, Welle auf Welle, als wären die Massen unerschöpflich, über Hecken, durch Gärten und Zäune. Reiter jagten in geschlossenen Zügen durch die Straßen und wieder über die Brücke zum Tor hinaus, Kanonen rasselten und schwankten auf dem unebenen Damm, durch die tiefen Schlaglöcher, über die Misthaufen vor den Türen, hinein - hinaus; aber andere Massen warfen sich sofort in die Häuser:, die Habgier war bei Schwerin nur mühsam durch die Offiziere gebändigt, hier angesichts des Geflügels, das flatternd herumjagte, ließ sich die tolle Jagd nicht mehr halten; Hühner, die noch kürzlich harmlos auf der Dungstätte gescharrt hatten, Gänse, Enten, im hui war alles erspäht, bis auf die Höfe verfolgt, behende ergriffen; andere Franzosen brachen dann in die Häuser und Ställe ein, sie stachen in dem ersten Anlauf Kälber und Schafe und Schweine nieder. Aber die Offiziere, die den Befehl hatten, sie knapp zusammenzufassen, folgten ihnen, Scholten, donnerten, schlugen mit den flachen Klingen drein, die zappelnden Tiere blieben halbtot liegen, neue Scharen folgten, schnitten und rissen von den noch lebenden Körpern sich Stücke los und spießten sie blutig an die Bajonette, überall Geschrei, wildes Drohen, Fluchen, verzweifelte Rufe, die Fremdlinge wollten Geld und Geldwert im Nu erbeuten und prügelten ungeduldig darauf los, denn sie wurden ja wieder von den Offizieren geprügelt, sie stießen Schränke und Kasten auf brüllten nach Wein und Branntwein, rissen die Flaschen an sich und warfen sie halb geleert auf das Pflaster, zerrten den Leuten die Kleider vom Leibe, um verstecktes Geld zu finden. Alle Läden, die Nahrungsmittel hatten, waren alsbald geplündert und leer, und wieder kamen, kaum daß die Räuber von den Offizieren fortgetrieben waren, neue Massen mit neuen Forderungen, oder die Franzosen, die noch vor dem Tore durch eine Seitengasse entwischt waren, kehrten zurück und mischten sich mit den andern.
Matthies lief durch die Straßen, um Gellerts Nachricht von Evas Sicherheit zu bringen und nach seinem Vater zu sehen und stieß zuerst auf den Schneider Bock, der sich auf dem Damme wälzte. Er war seinen Freunden, den Franzosen, keck entgegengegangen, und wie er so preislich auf der Straße gestanden, war einem Soldaten, der ihn nur ängstigen wollte, das Gewehr losgegangen, hui flog ihm durch die einschlagende Kugel das Bein unter dem Leibe weg, er lag und schrie, er sei tot. Matthies tröstete ihn, daß nur sein hölzerner Fuß getroffen sei. Weiter sprang der Lehrling und sah, wie Fromm in sprudelnder Wut vor seiner Haustür zeterte. Der war behende in den Keller gestiegen, um sich bei den Ankömmlingen recht in Gunst zu setzen; in der Erwartung, daß die Franzosen Kenner wären, hatte er einige Flaschen guten Weins heraufholen wollen, aber er hatte sich in der Zeit der Ankunft verrechnet, sie waren da, ehe er schließen konnte, nun sah er händeringend seine Schätze verschwinden und versuchte vergebens, seinen Leib als Verschluß davorzulegen, ward verprügelt und dankte seinem Schöpfer, als ein höherer Offizier erschien, der die Plünderer davontrieb. Aber der Offizier erkundigte sich höflich nach der Zeit, er bezweifelte des Gerichtsrats Angaben und ließ sich zur Bestätigung dessen Uhr reichen, und da er noch eine zweite Kette an der stramm sitzenden Weste entdeckte, so bat er sich die zweite Uhr zum Vergleiche aus und steckte dann gelassen beide Uhren mit Ketten ein, grüßte höflich und machte sich davon. Das war mehr, als selbst das anpassungsfähige Gemüt des Gerichtsrats vertragen konnte, aber Matthies sah mit heimlicher Genugtuung, daß ein Franzose dem Zeternden seinen Kolben zwischen die Schultern setzte, und lief weiter.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!