- 02 - So kam Eva in den Unterricht des Rektors Trautmann, und wie sie sonst spielend durch das Leben geglitten war, ...

So kam Eva in den Unterricht des Rektors Trautmann, und wie sie sonst spielend durch das Leben geglitten war, so glitt sie nun auch zu des Lehrers höchstem Staunen spielend durch die Wissenschaften. Während er Matthies im Latein unterrichtete, sollte sie ihre Aufgaben auf demselben Zimmer machen, es dauerte aber gar nicht lange, daß der Rektor, als Matthies immer wieder mit dem Perfekt dividi und despeci zum Vorschein kam, einen raschen Blick Evas auffing und sie fragte. Da kam die richtige Antwort sicher heraus. Alsbald saß sie neben Matthies, und ihre Leichtigkeit riß seinen schwerfälligen Gang mit fort. War alles gut gegangen, dann gab es zum Schluß eine besondere Belohnung, die von beiden Kindern richtig gewürdigt wurde. Der Rektor nahm seine geliebte Geige und begann in seiner Herzensfreude zu spielen. Er war einst als Student seinem deutschen Wandertriebe gefolgt und auch als Hauslehrer mit vornehmen Zöglingen jahrelang in Deutschland herumgereist, immer hatte er die Lieder gesammelt, die das Volk mit Einfalt und Treuherzigkeit geschaffen und sich zurechtgemacht hatte, er hatte dadurch gelernt, auf die Sprache der Bäume und Pflanzen zu lauschen, sich von der Nachtigall in der Laube unterrichten zu lassen und unter der Linde Trost zu suchen. Wenn er so schlichtweg spielte, vergaß er oft seine Umgebung, er sah wieder vom Berge auf den tiefen Rhein, erblickte vom Tal aus das hohe Haus, hörte das Mühlrad rauschen, ging durch Veil und grünen Klee und trauerte, daß Vergißmeinnicht und Jelängerjelieber bei Sonnenschein erfrieren konnten. Beide Kinder saßen und lauschten stundenlang ohne sich zu rühren. Aber bei beiden hatten die Weisen eine andere Wirkung. Matthies sammelte sie sorgsam im Gedächtnis und spielte sie auf seiner Geige nach, wenn er ganz allein war, Eva dagegen sang und trällerte sie daheim, daß Vater Gellert ganz verklärten Angesichts zuhörte und die Mutter etliche Male den Reis anbrennen ließ, weil sie über ihrer Rührung das Rühren vergaß. Als der Rektor einst in seiner Weltvergessenheit den lieben Mai eingeladen hatte, die Bäume wieder grün zu machen, und dann hinübergeglitten war in Mozartsche Weisen und endlich bei dem Menuett aus Don Juan anlangte, da sah er mit stillem Staunen, wie sich eine leichte Gestalt aus dem Winkel löste und durch die Stube schwebte, ja, wahrhaftig, es sah gar nicht aus, als ob sie den Boden berührte, so leicht trat sie auf und tanzte mit so natürlicher Anmut, daß er immer wieder sein Menuett spielte, um nur zusehen zu können. Niemals hatte er erfahren, wie ein Menuett getanzt werden müßte, er hatte sich nur immer auf seiner Stube mit harmloser, fast kindlicher Phantasie in seinen geliebten Mozart versenken können; wie kam das Mädchen zu solcher Fähigkeit und so berückender Anmut? Der erfahrene Schulmann stand vor einem Rätsel, und es überkam ihn eine Ahnung, als ob aus dieser Gabe dem Mädchen eine große Gefahr erwachsen könnte. Sofort brach er ab, Eva zuckte zusammen, erwachte gleichsam und glitt in ihren Winkel zurück, von Matthies mit einem gehörigen Puff empfangen, denn der Junge verachtete solche Tanzkünste, hatte auch sofort gemerkt, daß seinem Pflegevater etwas Unangenehmes dabei durch den Sinn gefahren war. Der Rektor hatte allerdings nicht erraten können, daß noch jemand da war, der sich mit der Erziehung Evas mit einer gewissen Leidenschaft befaßte, oder vielmehr, wie der Rektor sagte, eine Jemandin; die schoß, als Eva etwas gedrückt die Treppe herunterkam, aus einer Tür des unteren Stockes und zog sie in ihr Zimmer: „Ma chère, ma petite, ast du getanzt?“ Eva nickte, noch immer etwas verwirrt. „At er gefragt? Non? Est-il possible? Er hist hein Bär, oui, tas hist er.“
Mademoiselle Clothilde Adelaide Duvendier de Saintpierre-Pézainie war dem Gemetzel der Revolution entronnen und hatte nur einen Teil des Vermögens und der Kleinodien beim Untergange der Eltern für sich retten können. Da sie aber nicht genügend Geld hatte, um von der Rente leben zu können, so war sie kurz entschlossen in den Dienst einer kurhessischen Familie als Gouvernante getreten und später ihrer Schülerin aus Anhänglichkeit, als diese sich mit dem Vietlübber Gutsherrn verheiratete, nach Mecklenburg hin gefolgt. Um ihre Selbständigkeit zu sichern, hatte der Vietlübber ihre Rente so ergänzt, daß sie sich in Gadebusch einmieten konnte. Schon längere Zeit hatte sie heimlich, wenn der Rektor mit den Stadtschülern beschäftigt war, das Mädchen nach ihrer Art unterrichtet, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit Trautmanns auf sich zu lenken. Denn wenn auch Frau Gellert und Trautmann über etwaige Ehepläne gelacht hatten, die Französin hatte sie ihrerseits sich schon lange heimlich zurechtgelegt und nun gehofft, ein gut Teil der Verwirklichung näher zu rücken. Da sie im Anfang der Fünfziger war, so hielt sie eine Verbindung mit dem Rektor eigentlich für selbstverständlich und richtete sich schon lange darauf ein, ohne freilich jemals die Aufmerksamkeit des völlig Unbefangenen zu erregen. Nur konnte er anfangs nicht lassen, die mangelhafte Aussprache der Französin zu korrigieren, dazu fühlte er sich schon als Lehrer verpflichtet; sie hatte sich ihm zu Gefallen so kräftig im Aussprechen des fatalen h geübt, daß sie es anwandte, wo es nicht hingehörte, dafür sparte sie es alter Gewohnheit gemäß beharrlich, wo es auszusprechen war. Das Fräulein hatte sich in Gadebusch kurzweg Clothilde Duvendier genannt, weil sie kein Verständnis für die Großartigkeit ihres Namens finden konnte; und der Stadtdiener Seiffert hatte aus der Steuerliste diesen schwierigen Namen verdeutscht und mundgerecht gemacht, allen Gadebuschern war sie die Madmamsell Dubendiert und zwar gerade deswegen, weil sie in allen Bewegungen so geschickt und flink war wie die Feldflüchter. Lebhaft war auch ihre Vorstellungskraft und Denkungsart. Nun riß sie sich und Eva bald aus der Verstimmung. Sie hatte die Liebe des Rektors zu Mozart längst erforscht, klimperte flink auf dem Klavier herum, fing das Menuett an, lachte, wiederholte. „Er hist hein Bär - nun, mong ange? Non? bah, hein handermal. Was sagst du denn ierzu?“
Sie schlug einige Takte an, sang dann zur Begleitung nicht ungeschickt „Ein Veilchen auf der Wiese stand,“ ließ an den Tönen ihre Hoffnung in das obere Stockwerk emporklettern und malte sich aus, wie sie dem Rektor seine blonden schlichten Haar, die er frei trug, doch noch in einen Haarbeutel binden würde und ihn aus seinem erbsengelben Rock, der in Falten um die magere, hohe Gestalt flog, und aus seiner schrecklich großgeblümten Weste herausschälen, um ihn mit langschößiger Weste und im Frack zum seinen, stattlichen Herrn zu machen. Da mußte ein entsetzliches Erlebnis sie aus ihren Heiratsträumen reißen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!