II. In der Zucht der Kleinstädter.

er Bürgermeister Koch hatte in seiner Menschenkenntnis richtig gesagt: „Je weniger man davon macht, um so besser für das Kind.“ Aber es zeigte sich bald, daß die Gadebuscher sich den ganz besonderen Fall für eine Unterhaltung nach ihrer Art nicht nehmen ließen. Einer hatte dabei das Wort vom Findelkind aufgebracht, und nun blieb der Name im Volksmunde an dem Kinde haften. Was nützte es, daß der Bürgermeister aus Ribnitz die Nachricht einzog, daß das Kind ehelicher Geburt sei, die Mutter tot, der Vater gewissenlos und pflichtvergessen davongegangen. Das Kind hatte zu viel Absonderliches, war viel zu zierlich und hübsch, hatte eine zu fremdartige Aussprache, als daß man ihm nicht seinen besonderen Namen hätte bewahren sollen. Eva wehrte sich in jener Art, die sie auf der Landstraße und in den Herbergen gelernt hatte, dagegen; kleine Kinder kratzte sie, große schimpfte sie mit den häßlichsten Worten, und Erwachsenen streckte sie die Zunge aus, aber gerade das ließ den Namen fester an ihr kleben. Zuweilen kam sie von der Straße mit allen Zeichen sichtlicher Angst in das Haus geschossen, verbarg sich im dunkelsten Winkel und war erst nach längerer Zeit zu bewegen, ihn zu verlassen. Frau Gellert, die anfangs vor einem Rätsel stand, brachte durch ihr Nachforschen heraus, daß ein Bettler, den Eva früher in einer Herberge gesehen hatte, über die Straße gegangen war. Der Mensch hatte sie in ihrer Verwandlung nicht beachtet, aber Eva zitterte noch lange hinterher in Angst, daß Lewinsch ihn abgesandt hätte sie zurückzuholen. Ganz allmählich nur verlor sie die Erinnerung an das alte Weib und an die frühere Lage, die Lebensfrische des Vaters weckte sie gleichsam auf, und die treue Fürsorge der Mutter gab ihr Sicherheit und ließ dadurch alles Gute in ihr mehr und mehr siegreich hervorbrechen.
Es war aber noch ein dritter da, der den wesentlichsten Einfluß auf ihre Ausbildung hatte, der fing seinen ersten Unterricht auf dem Hofzaun an und setzte ihn im Birnbaum des Gerichtsrates Fromm fort und führte ihn über Pferderücken und Eisbahn, durch Jahrmarktsbuden und Dachrinnen, nicht gerade immer im Tageslicht, sondern oft noch lieber in Dämmerung und bei Mondschein fort. Das war Matthies Strübing oder, wie er gewöhnlich genannt wurde, Matthies Trautmann, denn er war als Vollwaise vom Rektor Trautmann angenommen worden und wohnte bei dem im oberen Stockwerk des Nachbarhauses. Bevor Eva am Morgen nach ihrer ersten Begegnung auf den Hof getreten war, hatte er schon eine halbe Stunde lang seine Reitkünste auf dem Zaune versucht. Dann gab es eine Ecke, wo der Zaun, mürbe geworden, sehr bequem angelegte Lücken zeigte, und keine fünf Minuten, nachdem die Bekanntschaft erneuert war, saß Eva droben und zeigte, daß sie reichlich so gewandt zu reiten und Gleichgewicht zu halten verstände. „Nun paß aber auf, das kannst du nicht.“ Er gab sich einen Schwung und sprang von oben herab, Eva flog wie selbstverständlich hinterdrein, und als er erschrocken sie aufrichten wollte, weil sie zusammengeknickt war, und er glaubte, sie würde halb zerschmettert sein, schnellte sie, den Schmerz verbeißend, auf und lachte ihn vergnügt an. „Du bist ja gar kein Schmachtlappen,“ rief er erstaunt und nahm sie fort, um ihr sein größtes Geheimnis zu zeigen, einen wundervollen Schlupfwinkel im Schuppen, der den Garten des Gerichtsrates Fromm begrenzte gegen dessen Hof. Außen war ein Brett los, das sich verschieben ließ. Kroch man durch die Lücke, so befand man sich in einem schmalen Raum zwischen Dach und Bretterverschlag, und wieder konnte man von hier aus in eine Kammer gelangen, die ganz leer stand. Der Schuppen wurde gar nicht benutzt, weil Fromm Junggeselle war, und bot einen herrlichen Spielplatz bei Regenwetter. Das Brett wurde nach jedem Besuch wieder sorgsam befestigt. Und dadurch, daß Eva das Geheimnis, das nur noch Hinnick kannte, unbedingt wahrte, erstieg sie den Gipfel der Hochachtung der beiden Knaben und ward ihr Kamerad.
Matthies hatte große Leidenschaft für Pferde und wäre, als er heranwuchs, gar zu gerne Hirtenjunge geworden, um die Pferde der Städter mit andern zusammen zu hüten, das litt aber sein Pflegevater nicht. Der wußte, daß diese Jungen draußen den Sommer über rasch verwilderten und in der Winterschule kaum noch zurecht zu rücken waren. Aber Matthies gesellte sich, um seiner Leidenschaft nachleben zu können, oft heimlich zu ihnen, und Eva trottete unbefangen mit Hinnick hinter ihm drein. Alle drei krochen durch die Hecken und streiften durch den Stadtwald, sie suchten Igel und Psisferlinge, fütterten die Hechte im Burgsee mit Fröschen und machten dem abergläubischen Stadtschäfer Grauen, indem sie in der Dämmerung auf einer alten Gießkanne im Sandloch versteckt bliesen, Matthies dabei als Führer, Eva als Antreibende, Hinnick als Gefolgmann, der bundlings mit ihnen durch dick und dünn ging.
Eines Tages erschien Frau Harder oder Hardersch, wie man sie kurz nannte, im Schlachterladen, herbe, verbittert und gehässig im Wesen, mit scharf gebogener Nase, zusammengekniffenen Lippen und harter Sprache.
„Für’n Schilling Knochen mit tüchtig Fleisch dran,“ forderte sie kurz.
„So’n bißchen vom Mürbebraten oder vom Blumenstück oder aus der Binnenkluft, nicht wahr?“ sagte Gellert gemütlich und begann zuzuhauen. „und dann noch’n Stück Abfallfleisch als Zugabe? Hier, das wird genügen.“
„Können Sie allein behalten!“ fuhr Hardersch ihn an. „Und das will ich Ihnen nur sagen, Sie sollten sich schämen mit Ihren Narrenspossen, damit machen Sie es bei Ihrem Findelkind nur noch schlimmer; aus dem guckt so wie so immer die wilde Betteldirn heraus, die sich am liebsten mit den Hirtenjungen herumtreibt.“
Sie ging mit stoßendem Schritt davon, und als Frau Gellert, die sofort bei dem Angriff auf Eva aufgezuckt war, ihr nachsah, bemerkte sie, daß das Weib sich höhnisch lachend zu zwei anderen, nicht minder boshaften gesellte, und daß die drei es sehr eifrig miteinander hatten. Sie hielt mit ihrem Manne ein ernstes Gespräch, dessen Ergebnis war, daß Eva endlich unter festere Zucht gestellt werden müßte.
„Eva, Eva!“ rief sie am nächsten Vormittage durch das Haus und über den Hof, anfangs nur entschlossen, dann ungeduldig und endlich recht ärgerlich.
„Guten Morgen, Frau Nachbarin,“ sagte eine bekannte Stimme jenseits des Zaunes, „wenn Sie sich zu mir herumbemühen wollen, kann ich sie Ihnen zeigen.“
Sie sah unschlüssig vor sich nieder, schüttelte dann den Kopf, strich ihr Kleid mit raschen Griffen glatt, ging ins Zimmer, setzte sich ihre Haube auf den Kopf und begab sich durch die Haustür auf das Nachbargrundstück. Unterwegs schob sie die Haube durch einen kräftigen Ruck des Kopfes zurecht; das war für den, der sie kannte, ein Zeichen, daß sie in bedenklicher Stimmung war.
„Guten Morgen, Herr Rektor, entschuldigen Sie, daß ich noch in Eschlarpängs bin und mit nachlässiger Angseloppe. Aber mit dem Mädchen geht es partutemang nicht so weiter. Wo kann ich es finden?“
„Warum regen Sie sich so auf, Frau Nachbarin?“
„Jeden dummen Streich des Mädchens tragen die Leute stankepehde herum, die Gadebuscher legen sich ein ordentliches Magezänk davon an, da kann ich nicht mehr appartisch dasitzen und zusehen.“
Der Rektor Trautmann lächelte: „Ich habe Eva den Robinson gegeben, nun liest sie Matthies und Hinnick vor.“
Frau Gellert strich sich nurr etliche Male rasch den Rock, als wollte sie ihre Erregung damit wegstreichen, und warf ihre Haube zurecht. „Darf ich Sie auf einen Augenblick infetieren, daß Sie mich beehren, Herr Rektor?“ sagte sie.
„Auf zwei Augenblicke sogar und noch mehr, denn ich habe gerade gute Zeit,“ antwortete er und lud sie zum Vorangehen ein.
Abermals ein Ruck, Frau Gellert übernahm die Führung und nötigte den Rektor in ihr Wohnzimmer. „Ich kann nicht lange laxieren, ich muß gerade auf das Ziel losgehen, Herr Rektor, das Herumtreiben mit den Jungen muß aufhören.“ - Zwei Rucke der Haube. – „Da kommen die Leute zu einem und reden von Eva so oderös, sitzt das fest, hernach löscht man das nicht so leicht aus, wie Kreide von Ihrer Schultafel. Was sagte uns gestern jemand gerade ins Gesicht? Aus dem Findelkind guckt doch immer wieder die wilde Betteldirne heraus.“
„Ich nehme an, es war eine Jemandin,“ sagte der Rektor gelassen.
Frau Gellert lachte erbittert: „Ja, und als sie sich erst Bahlsch und Dugesch als Sukkurz gehab hatte, da haben die gewiß ganz höllische Trajekte ausgeheckt.“
„Das sind die drei Parzen von Gadebusch,“ sagte der Rektor, „die eine knüpft den Faden an, die zweite spinnt fort, die dritte schneidet ab, ganz erbarmungslos.“
„Schneidet ab oder schneidet auf, dagegen kommt man mit aller Parforz nicht an, und wenn auch Sie die Kinder in Schutz nehmen, Herr Rektor, ich reffüsier ein für allemal, Eva noch weiter so gehen zu lassen.“
Der Rektor Trautmann hatte viel zu gute Stadtkenntnis, als daß er der besorgten Mutter nicht recht geben sollte. Er dachte einen Augenblick nach und sagte: „Ich will Eva täglich eine Stunde und auch wohl mehr, wie es sich macht, besonders unterrichten, kosten soll es nichts, denn das Mädchen hat es mir mit seiner Lieblichkeit so angetan, daß ich glücklich wäre, ihm ein wenig Gutes für jene Zeit mitzugeben, wo es allein stehen muß und wir nicht mehr sind, Frau Nachbarin.“
Da saß plötzlich die Haube fest, und Frau Gellert stand vor ihrem Nachbar und bot ihm die Hand.
„Sie sind ein nobler Mensch, Herr Rektor, ich wagte gar nicht, darauf zu reflexieren. Nein, wahrhaftig, Sie sind - Sie haben - so etwas in Ihrem Wesen - so etwas Schenneröses - so oft ich Ihnen in Ihre guten, tiefen, blauen Augen sehe, dann wird mir immer ganz friedlich zumute. Wenn ich nur wüßte, warum Sie nicht geheiratet haben, ich habe schon manchmal darüber still nachgedacht, es gab doch Mädchen genug in der Welt.“
„Ja, wie das so kommt,“ sagte der Rektor einfach und wahr, „ein Mädchen wartet und wartet die Jahre hindurch geduldig und treu, es wartete am Ende heute noch, wenn ich ihm nicht geschrieben hätte, daß ich niemals eine rechte Brotstelle für uns finden würde. Nun, es zögerte dieses brave Mädchen doch noch lange, dann endlich nahm es einen andern. Und ich hatte gleich darauf, ich möchte sagen das Unglück, daß ich hier Rektor wurde. Sie war wirtschaftlich, und wir wären zusammen mit den spärlichen Einnahmen gut ausgekommen. So geht’s, Frau Nachbarin, wir greifen unserm Herrgott nur zu oft täppischerweise in seine Pläne, und hernach sehen wir ein, daß er es sich mit uns ganz anders gedacht hatte.“
„Sollte er nicht noch eine für Sie resserfiert haben?“ wagte Frau Gellert zu fragen. „Sie sind doch noch ein Mann in den besten Jahren.“
„Damit hapert es schon, die Sechziger sind da, und wer wird sich mit einem so eingewachsenen alten Junggesellen noch befassen wollen?“
„Ei, da brauchen Sie ja nicht weit zu rescherschieren, ich weiß eine, die nimmt sie, ganz gleich, ob auf französisch oder auf deutsch.“
Da lachten sie herzlich, und der Rektor stand auf: „Das sehen wir beide ganz klar, daß unser Herrgott uns die Kinder zugeführt hat, um uns einen Ersatz für manches, was wir sonst entbehrt haben, zu geben. Den Matthies werde ich noch mehr anspannen als bisher, der kann übrigens schon recht gut seine Geige spielen, und dem Mädchen wird etwas Musik auch gut tun.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!