- 04 - Der Bürgermeister hatte gewiß schon viel Elend gesehen, aber dieser Bericht, der sehr klar herauskam, ...

Der Bürgermeister hatte gewiß schon viel Elend gesehen, aber dieser Bericht, der sehr klar herauskam, brachte um ganz aus der Fassung, er sprang auf und durchmaß das Zimmer mit hastigen Schritten und rief: „Großer Gott, großer Gott!“ stand vor Ollhöft still und schüttelte ihn an der Schulter. „Ist das nun möglich?“ Als er sah, daß es in dem verwitterten Soldatengesicht zuckte und die Augen feucht schimmerten, wandte er sich hastig ab und rang nach Fassung. Unteroffizier Ollhöft kämpfte heftig mit sich und schämte sich vor sich selber, nun platzte er heraus: „Das ist dach gegen alle Räson. An den Galgen mit der Person!“
Die Kleine war allen Bewegungen mit unruhigen Blicken gefolgt und schrie nun in jäh erwachter Angst: „Nein, nein, ich will nicht an den Galgen, ich will nicht gepeitscht werden, ich will es gar nicht wieder tun.“
Keiner hatte darauf geachtet, daß die Frau Bürgermeisterin schon längst eingetreten war und fast das ganze Gespräch mit angehört hatte. Sie war im feinsten Gesellschaftsanzug und trug ein seidenes Kleid und darüber gestickten Tüll mit Pitzen, aber nun kniete sie neben dem schmutzigen, zerlumpten Kinde, zog es an sich und sagte: „Eva, kleine liebe Eva, sei nicht bange, hier tut dir niemand ein Leides. Unteroffizier Ollhöft, er ist ein Ungeheuer, ja, das sage ich, ein Ungeheuer ist er, daß er mir das Kind so erschrecken kann. Komm er näher und seh er sie sich an. Wenn wir sie erst gewaschen und gekämmt haben, dann wird er sehen, was für ein Schmetterling herausfliegt.“
„Wenn da vor mir gleich ‘ne Handgranate platzte, das würde mich nicht so perplex machen,“ sagte Ollhöft mit aufgerissenen Augen.
„An der Kleinen ist viel wieder gut zu machen,“ bemerkte der Bürgermeister, der sich gefaßt hatte. „Wüßt ich nur für den Augenblick, wohin mit ihr.“
„Wohin mit ihr, wohin mit ihr?“ Die Bürgermeisterin rief es eifriger und drückte das Kind fester an sich und sah ihren Mann bittend an. „Wer kann jetzt noch fragen, wohin mit ihr?“
„Nein, nein, Renate,“ wehrte der ab, „das geht nicht an, wir sind nicht mehr jung genug, um solches Gottesgeschenk richtig zu hegen und zu bewachen, da ist zu viel Rost von Herz und Gemüt herunterzuputzen, das bringen wir nicht mehr fertig. Was sagt er dazu, Unteroffizier Ollhöft?“
„So sind sie nun einmal alle, Herr Bürgermeister. Da schoß am Tor der gottlose Glaserjunge mit seinem Pustrohr die beiden alten Schwalben tot, und ich kam gerade dazu, als er das Nest mit den Jungen ausgestoßen hatte, um es in der Radegast schwimmen zu lassen. Na, und als das Nest kaum wieder angebracht war und die Jungen schrien, da kamen die Schwalbenmütter von allen Seiten herbei und futterten sie. So sind sie nun einmal alle.“
„Er alter Verstandskasten,“ rief Frau Bürgermeisterin eifrig, „mich deucht, es war auch so ein langer, dürrer Vater dabei, der eine hohe schwankende Leiter anlegte und dafür sorgte, daß ein Kasten mit dem Neste angenagelt wurde, war das nicht so?“
„Zu Befehl, Frau Bürgermeisterin, so sind sie nun einmal alle, ich meine die, die kein Junges haben, die sind so. Und da sage ich denn, daß der Schlachter Gellert gewiß gern zehn wacklige Leitern aneinanderbinden würde, wenn er sich damit dieses Kind herunterholen könnte.“
Der Bürgermeister stand auf und entschied: „Ein alter Soldat hat noch immer den scharfen Überblick über das Terrain. Gellert und seine Frau, das sind die Leute, die wir brauchen. Renate, die kleine Eva geht dir ja nicht ganz verloren; aber behalten? nein. Unteroffizier Ollhöft, er geht morgen hinaus mit den Knaben und läßt sich die Stelle zeigen, wo sie das Mädchen gefunden haben.“
„Mit Verlaub, Herr Bürgermeister, das ist Domanialgebiet.“
„Ich werde den Landdrost bitten, daß er den Landreiter mitsendet. Hat Gott das Kind uns geschickt, so wollen wir die Aufgabe nicht von uns weisen, es gut unterzubringen. Frage er in der Gegend nach Lewinsch und berichte er. Nun komm, Kind, du sollst sehen, daß wir ein paar gute Eltern für dich finden. Sei er verschwiegen, Ollhöft, es braucht die Sache nicht in aller Mund breitgetreten zu werden, er kennt den Gadebuscher Klatsch. Je weniger man davon macht, um so besser für das Kind.“ Er nahm Eva bei der Hand, und wieder mußte sie einen Gang aus dem hellen, warmen Lichte, das sie hier umgeben hatte, ins Unsichere antreten.
Der Schlachter Gellert, ein großer Mann von starkem Gliederbau, war aus der Seitengasse über seinen Hof gegangen und durch die Hintertür in das Haus gekommen; dort fand er seine Frau auf der Diele, die zugleich die Verkaufsstelle für das Geschäft bildete, auf einem Stuhle neben dem großen Fleischblock in der Dämmerung ein-geschlafen. Eine kurze Weile sah er höchst belustigt zu, wie sie nickte, dann schlich er hinein, nahm einen Strohhalm, der ihr vom abendlichen Stallbesuch her noch am sauberen Kleide hängen geblieben war, und kitzelte vorsichtig die Ohrmuschel, und als sie ihn dort durch eine Bewegung im Halbschlaf verscheuchte, unter der Nase und schnitt selbst fürchterliche Grimassen dazu, um sich das Lachen zu verbeißen. Mit einem Ruck richtete sie sich plötzlich auf und nieste, da brach es bei ihm so mächtig los, daß die weite Diele zu beben schien.
Sie begriff schnell alles, als sie den Strohhalm in seiner Hand sah, und lachte freundlich mit ihm, strich sich ihr Haar glatt, rückte die Haube zurecht, schüttelte ihr Kleid in die richtigen Falten, und nun saß die mittelgroße rundliche Frau so schier und flier da, daß er wieder einmal seine Freude an ihr hatte, wie nun schon zwanzig Jahre lang fast jeden Tag. Er kniff ihr also herzhaft die volle Backe. „Hab ich dich da nicht endlich mal richtig angeführt?“ scherzte er und setzte sich nahe zu ihr rittlings auf einen Stuhl, bereit, das Spiel mit dem Strohhalm noch einmal zu machen. „Das merk dir, Mente, du willst es nie zugeben.“
„Menaschier dich, Gellert,“ sagte sie, lustig abwehrend, „du bist ein großes Kind. Wenn ich deine Dummheiten alle anschreiben wollte, könnte ich wohl lange Memmearen schreiben, die find ganz fänommenahl, du sollst dafür noch einmal ein Monümang haben wie Till Eulenspiegel. Mich deucht aber, du könntest mit mehr Pünktetät kommen, hatte man bei Oldenburg wieder einmal Pech auf die Bank gestrichen?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!