- 03 - Die Alte schlief eine Weile und entdeckte beim Erwachen, daß der Abend nahte; sie hielt von der Dämmerung ...

Die Alte schlief eine Weile und entdeckte beim Erwachen, daß der Abend nahte; sie hielt von der Dämmerung nichts, weil ihrer Meinung nach dann Geister umgingen, hastig wies sie das Kind darum an, zu den ersten Häusern, die offenbar zu einem vorgelagerten Dorfe gehörten, zum Betteln zu gehen.
Eva blieb stehen und schüttelte stumm den Kopf.
„Nun, wird’s bald?“ sagte Lewinsch erstaunt, „ich habe Hunger, und dir wird es auch so gehen.“ Eva schwieg und sah vor sich nieder.
„Wirst du gehen, frag ich?“ rief die Alte in dem verwarnenden Tone, den Eva aus schlimmer Erfahrung her kannte. Das Kind sagte leise: „Nein, ich mag nicht -“ weiter kam es nicht, denn im nächsten Augenblick hatte Lewinsch es an den Haaren gepackt und riß es grausam hin und her. „Wirst du gehen? wirst du gehen?“ schrie sie dabei.
Eva hielt tapfer stand, aber als die Schmerzen zu arg wurden, wimmerte sie: „Ich mag nicht gepeitscht werden, ich will nicht an den Galgen.“
Lewinsch ließ die Hand verdutzt sinken und überlegte eine Zeitlang, dann lachte sie häßlich und fuhr wieder los: „He, wovon wollen wir denn leben, du dumme Dirne? von der Luft oder vom Wasser? he? hast du noch eine einzige Brotkrume? willst du hier die Nacht im Freien liegen? he, du? Kannst du nicht antworten?“ Und als die Kleine keinen Ton herausbringen konnte, machte sie Miene, wieder über sie herzufallen. Angstvoll sah die Bedrohte um sich, ob nicht irgendwoher ihr Hilfe kommen könnte, sie sprang beiseite, plötzlich rief sie. „Sieh doch - o, sieh doch!“
Die Alte folgte dem Fingerzeige - da stand hoch auf einem Berge ein Galgen, der ihnen bisher vom Gebüsch verborgen war. „Heiliger Gott, wohin sind wir geraten,“ tief Lewinsch erschrocken aus, „hier können wir keinen Augenblick bleiben, an dem Platze ist es nicht geheuer. Mach dich fort, hörst du? Du weißt, meine Geduld ist bald zu Ende. Still - was war das? Raschelte dort nicht etwas im Schilf? Fort mit dir, ich will durch das Dorf gehen und dich an jener Brücke erwarten. Gott - ich höre etwas bei den Bäumen stöhnen - fort, fort. Der Abend ist da, hier geht es um.“ - Eva aber rührte sich nicht, ihr Blick schien durch den Galgen in Bann geschlagen. Sofort fiel die Alte im Jähzorn, der durch ihre Furcht nur noch mehr gereizt war, über sie her und mißhandelte sie mit den rohesten Schlägen. Das Kind hielt still, und nur zuweilen, wenn die knöcherne Hand gar zu hart traf, wimmerte es zusammengesunken. Die Alte zeterte und heulte schließlich in Furcht und Wut und achtete nicht mehr darauf, wohin sie traf. Plötzlich aber hielt die erhobene Faust inne, und der Arm schien wie erstarrt, denn es erscholl in der Nähe ein Geheul, so furchtbar und seltsam, daß sie sofort begriff, es käme nicht von einem sterblichen Wesen, und nun murrte und brummte und grunzte es sogar auch hinter ihrem Rücken, und dann kroch es heran, ein scheußliches Untier, bedeckt von Schlamm und Schilf. Sie wich einige Schritte mit entsetzt aufgerissenen Augen zurück - da war nahe über ihrem Kopfe das entsetzliche Geheul wieder, das das Blut gerinnen machte, und aus dem Weidenstamme gerade heraus hob sich ein schauerlicher Kopf, der mit Moos und Farn bewachsen war, eine braune Tatze, mit fingerlangen Krallen bewehrt, reckte sich nach ihr aus, sie sprang zurück und raste mit gellendem Hilfegeschrei davon und den Weg zurück, den sie gekommen war. Bei einem flüchtigen Umblicken entdeckte sie, daß der Sumpfunhold von hinten gegen Eva anschlich und der Baumkobold die Krallen gerade nach ihr ausreckte. Bald darauf heulte es wieder, sie stolperte und kollerte einen Abhang hinunter und ächzte: „O du Grundgütiger, du Allerbarmer, gib, daß sie an ihr satt werden, ich kann nicht mehr,“ raffte sich auf und taumelte weiter. Bei jedem Geräusch, das ein Vogel, im Gebüsch seine Herberge suchend, machte, schrie sie wieder und hinkte und tappte fort und verschwand in der Ferne.
Eva stand und sah lächelnd zu, wie zwei Knaben um sie einen Siegestanz aufführten. Sie hatte trotz der Beschmierung mit Moor und Moder und trotz der Finger, an die statt der Krallen Zweigstücke gebunden waren, sofort an der grinsenden Miene und der durch den Schilfpanzer blickenden Kleidung ihre Ungefährlichkeit erkannt. Anfangs waren die Jungen selbst völlig verblüfft über die Wirkung ihrer Vermummung gewesen, sie hatten sich aber rasch gefaßt. „Sie ist weg, hussa, die Hexe,“ rief der eine, „Hinnick, steig aus und sieh zu, wo sie bleibt.“ Er hielt den Buckel an einen Stamm, der Gerufene stieg daran hinauf und weiter in die Krone und meldete: „Sie läuft wie verrückt auf Möllin zu, heul noch einmal, Matthies.“
Und Matthies heulte ganz wundervoll, und Hinnick fiel vor Lachen fast aus dem Baum, er hatte sie kollern sehen.
„Nun müssen wir laufen,“ sagte Matthies, „komm, wir fassen dich an, denn wenn sie zurückkommt, muß sie hier nichts mehr finden.“
Die Kinder liefen zusammen durch das Dorf und auf die Stadt Gadebusch zu. Sie huschten über die Brücke und wollten durch das lübsche Tor eilen. Da saß auf seiner breiten, selbstgezimmerten Bank der Torwärter Steffen Ollhöft, ein abgedankter Soldat, und schmauchte behaglich am Abend seine Tonpfeife. Alles an ihm war sauber, von den Schuhen und strammen Gamaschen an bis zu dem Zweispitz mit dem kurzen anfrechtstehenden Busch. Ein Tabaksbeutel hing an einem Knopf über der Uniform, ein Stock lag ihm nahe zur Hand. Unter der Bank kauerte ein Hund, der sich bei den eilig nahenden Schritten aufrichtete und bellte. Als er aber die Kinder gewahrte, legte er sich ruhig wieder nieder.
„Halt, stand!“ befahl der Torwärter und setzte sich gerade. „Front! drei Schritt vorwärts marsch. Halt! richt euch!“ Er hob den Stock, tippte Matthies auf die Brust. „Rapportier er, woher und wohin.“
Die Knaben waren lachend seinen Worten gefolgt und hatten das Mädchen mit herumgezogen. Matthies, der einige Jahre älter als das Mädchen war, sprang vor Vergnügen auf seinem Platze in die Höhe und rief: „Ollhöft, wir sind Werber gewesen, ich und Hinnick.“
„Hinnick und du? Kann’s mir schon denken, du hast ausfangen und Hinnick schob nach. Wie seht ihr aus? als wär’t ihr in einer Torfkuhle gewesen.“
Hinnick grinste, Matthies aber berichtete kurz, wie sie die Alte weggegrault hätten, und Hinnick mußte erklären, wie sie gelaufen wäre, bis man sie nicht mehr sehen konnte.
„Und so haben wir unsern Rekruten eingefangen,“ bestätigte Matthies.
„Kann euch am Ende doch noch ein merkwürdiges Werbegeld einbringen. Kann das marschieren?“ Ollhöft wies mit seinem Stock auf das Mädchen. „Wem soll man das ins Quartier legen?“
„Das weiß ich auch nicht, aber laufen kann sie noch besser als ich, sie war immer voraus.“
Ollhöft musterte die Kleine und wunderte sich, daß sie seine strengste Amtsmiene frei ertrug. Allmählich milderte sich sein Blick, die Lieblichkeit der Erscheinung schimmerte dem Menschenkenner durch die Lumpen entgegen, er schüttelte den Kopf und sagte: „So kannst du laufen, und kein Junge läuft sonst Matthies vorbei? Am Ende kannst du auch auffliegen - so - hscht – weg bist du?“
Sie sagte nichts, lächelte ihn nur an und schüttelte den Kopf. Das verblüffte ihn ganz und gar. „Nun weiß ich wirklich nicht, habt ihr etwas sehr Dummes oder sehr Gutes angerichtet. - Iven, was ist das?“ Sein Hund, stark und grobknochig und mit leicht gespaltener Schnauze, der Schrecken aller durchpassierenden Landstreicher, richtete sich auf und beschnupperte das Kind, wedelte und stieß mit der Schnauze an dessen herabhängende Hand. Sofort kniete Eva nieder und faßte ihn um den Hals.
„Passiert!“ entschied Steffen Ollhöft, völlig überwältigt, „muß aber sofort ins Hauptquartier gemeldet werden.“ Er klopfte seine Pfeife aus und schob sie mit dem Beutel in eine Tasche, dann zog er umständlich eine Uhr, die den Durchmesser eines Handtellers hatte. „Acht vorbei, ich werde zuschließen; wer noch draußen ist, mag warten. Iven, paß auf. So, Kleine, nun komm, der Herr Bürgermeister muß dich sehen.“
Eva faßte wie selbstverständlich eine Hand des Torwärters, seine andere stützte sich schwer auf einen Stock, denn seit der Torgauer Schlacht trug er einen Stelzfuß.
„War das deine Mutter, die fortlief? - nein? deine Großmutter? - auch nicht? - Will’s schon glauben. - Marsch, ab ins Quartier, ihr Jungen, wir brauchen keine Eskorte.“
Der Bürgermeister Koch, ein älterer Mann von feiner Gestalt und klugen Zügen, hatte sich zum Besuch einer Abendgesellschaft beim Landdrosten zurechtgemacht, er saß in schwarzen Strümpfen und schwarzen Kniehosen, dunkel-blauem Frack mit goldenen Knöpfen und schneeweiß schimmerndem breiten Jabot und wartete, auf den hochgewickelten Schirm gestützt, geduldig auf seine Frau, als der Torwärter mit dem Kinde eintrat.
Mit scharfem Blick musterte er die Gruppe und sagte dann gutgelaunt: „Nun, Unteroffizier Ollhöft, was hat er da eingefangen?“
„Mit Verlaub, daß ich den Herrn Bürgermeister noch so spät störe aber rapportiert muß das gleich werden. Die beiden Jungen Matthies und Hinnick haben wie gewöhnlich weit über die Vorposten hinaus das Terrain rekognosziert, über Jarmstorf weg, und im Domanium diesen Überläufer aufgebracht. Ist das nun städtisch oder ist das Amtssache? Wo das erst klebt, da sitzt es hernach auch fest. Hören kann das und auch ganz gut Kommando parieren, aber ob es sprechen kann, habe ich noch nicht herausgebracht.“ Er mußte kurz das Erlebnis der Knaben berichten.
„Komm zu mir, mein Kind,“ sagte der Bürgermeister freundlich, „kannst du sprechen?“ Eva nickte und sah ihm prüfend in das Gesicht. „Nun, dann sage einmal deutlich ja.“
„Ja.“
„Wie heißt du?“
„Eva Pollini.“
„Was ist dein Vater?“
„Ballettmeister.“
„Und wo wohnt er?“
„In Ribnitz.“
,,Wie kammst du denn hierher?“
„Mein Vater hat mich an Lewinsch verkauft.“
„Was hat er getan, dich verkauft?“
„Ja, für acht Groschen und zwei Schnäpse.“
,,Wo war deine Mutter?“
„Die lag krank zu Bett. Mein Vater sagte jeden Tag, sie würde bald sterben.“
„Und wer ist Lewinsch? was wollte sie mit dir?“
„Das ist die alte Frau, die immer bettelte, und ich musste ihr helfen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!