Papiergewebe in der Kriegs- und Friedenswirtschaft.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 21. 1818
Autor: H. Daller, Erscheinungsjahr: 1818

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Textilindustrie, Papierfaser, Holzzellulose, Papiergewebe, Papierstoff, Textilersatzstoffe, Papiergarn,
Unter den von der Textilindustrie benötigten Rohstoffen, von deren Einfuhr der Vierverband durch die feindliche Blockade ist, gehören Baumwolle, Jute und Ramie zu den tropischen Erzeugnissen, während Flachs und Hanf in der gemäßigten Zone gedeihen und deshalb nur zum geringeren Teil vom Ausland bezogen werden mussten. Die Zahl der Baumwollspindeln betrug in Deutschland im Jahr 1914 vier Millionen. Die Einfuhr betrug etwa vierundneunzig Millionen Mark. Lange vor dem Krieg beschäftigten sich deutsche und österreichische Techniker mit Erfindungen, die eine Vervollkommnung der Papier-und Nesselfaserstoffgewinnung anstrebten, um in ihr geeigneten Ersatz für die ausländischen Textilstoffe zu schaffen, zumal die Juteproduktion ohnehin sehr begrenzt ist.

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In der Anfertigung von Gebrauchsgegenständen und Bekleidungsstücken aus Papier waren die Japaner schon vor hundert Jahren weit voraus. Aber auch in Europa machte die Verwertung der Holzzellulose — abgesehen von dem ständigen Verbrauch für Druckereierzeugnisse — von Jahr zu Jahr große Fortschritte. Wie groß war allein die Menge, die zur Herstellung von Pappen aller möglichen Arten, Rollen und Fässern, Widerstands- und tragfähigen Walzen und Rädern aus getränktem, hydraulisch gepresstem Holzstoff jährlich verbraucht wurde! Auch einzelne Wäschestücke stellte man schon seit Jahrzehnten aus Papierstoff her und gab ihnen eine das Aussehen der Leinwand nachahmende Bemusterung oder einen dünnen Stoffüberzug. Zwar gehen die Ansichten über Papiergewebe noch recht weit auseinander, aber alle Sachkundigen haben sich doch davon überzeugt, dass die Papierstoffe ein gutes Ersatzmittel sind für eine große Anzahl von Textilwaren, Bekleidungs- und Ausstattungsgegenständen, und dass sie bei der stetigen Vervollkommnung eine immer wertvollere Hilfe zur Streckung der knappen ausländischer: Rohstoffe zu werden versprechen. Seitdem nun die Textilindustrie im Lauf des Krieges immer mehr auf Ersatz für Baumwolle, Jute und Hanf angewiesen ist, hat sich die Technik mit verdoppeltem Eifer darum bemüht, die heimische Holz- und Nesselfasergewinnung und Verarbeitung auf die größtmögliche Leistungsfähigkeit zu bringen. In Württemberg haben sich eine Reihe Spinnereien, Zwirnereien und Webereien auf den Artikel eingerichtet, so zum Beispiel auch die Firma M. Becker, Weilheim (Teck). In Karlsruhe ist ein „Deutsches Forschungsinstitut für Textilersatzstoffe“ erstanden, dem die Papiergarnindustrie bereits wichtige Verbesserungen zu verdanken hat. Besondere Verdienste hat sich der dortige Professor Ubbelohde um die Förderung der Methoden erworben. Den rastlosen Versuchen der Technik sind so überraschende Fortschritte zu verdanken, dass viele die Ergebnisse noch nicht für möglich halten. Und doch haben umfassende Ausstellungen in verschiedenen Städten — in übersichtlicher Weise in Stuttgart von der Firma E. Breuninger A.G. — der Öffentlichkeit den Beweis dafür geliefert, dass es gelungen ist, in ungeahnter Vielseitigkeit sowohl Gebrauchs- wie Luxusgegenstände, Bett- und Leibwäsche, Bekleidungsstücke, Läufer und Matten, Decken und Vorhänge herzustellen. So brachte die „Faserstoffausstellung“ in Berlin neben überraschender Fülle von Papiergarnerzeugnissen auch eine anschauliche Darstellung des Werdeganges der Papiergewebe von der Zerkleinerung des Kiefernstammes an bis zur Färbung und Bedruckung der gewebten Stoffe.

Der zur Herstellung von Papiergarnen — für Webezwecke — benötigte Rohstoff wird aus Nadelhölzern, hauptsächlich aus der Fichte, gewonnen. Das Holz wird von der Rinde und den Ästen befreit, in kleinere Stücke zersägt und geraspelt und in eisernen Kesseln mit Ätznatronlauge gekocht. Die Lauge befreit das Holz vom Lignin und sonstigen harten Bestandteilen. Die fertige, breiartige Masse wird auf Entwässerungsmaschinen gebracht und der Zellstoff zu einer Pappe geformt. Aus dieser Pappe wird im trockenen Zustande Spinnpapier in endlosen Rollen hergestellt, und zwar in einer Breite von 2 bis 2,25 Meter mit einem Gewicht von zwanzig bis sechzig Gramm auf den Quadratmeter. Auf der „Rollenschneidemaschine“ wird dieser Rohstoff durch eine Anzahl Messer in feine, von einem bis zehn Millimeter breite Streifen geschnitten. So entstehen „Papierscheiben“ oder „Papierteller“; die Streifen werden mittels Maschinen zu Garn zusammengezwirnt. Das fertiggesponnene Garn wird auf Kreuz-spulen aufgewickelt, diese kommen in ein sogenanntes „Zettelgatter“, und zwar so viele Kreuzspulen, als der gewünschte Stoff Kettfaden benötigt; mit Hilfe einer Aufwickelmaschine werden diese Kreuzspulfäden auf einen „Kettbaum“ aufgewickelt. Die Fäden des so fertiggestellten „Webebaums“ werden in ein Geschirr und Blatt eingezogen, nachdem der Webebaum in den Webstuhl eingesetzt ist. Das Weben beginnt.

Die aus Papierstoff hergestellten Garne und Gewebe kann der Laie kaum von den bisher gebräuchlichen Textilgeweben unterscheiden. Zahlreiche Spinnereien, Zwirnereien und Webereien in Nord und Süd haben ihre Betriebe mit bestem Erfolg auf die Herstellung dieser neuen Gewebe eingestellt. Zuerst galt es, für den Heeresbedarf Sandsäcke, Tragbahnen, Segeltuche, Brotbeutel und Tornister in der erforderlichen Festigkeit und Menge zu beschaffen. Die nicht geringen Ansprüche konnten zur vollen Befriedigung erfüllt werden. Dann ging man dazu über, den Lazaretten Wäsche und Verbandstoffe zu liefern, und dem Wetteifer der beteiligten Industriezweige gelangen immer vollkommenere und neu Leistungen, die nun auch dem Heimatbedarf zustatten kamen. Man begann mit derberen Stoffen für Berufskleidungen, Fabrikmäntel und Arbeitsschürzen, fertigte Strümpfe und Einlegesohlen an und ging dann auch dazu über, den verzweigten Bedarf der Damenkonfektion zu decken. Nachdem nun auch die Art der Farbgebung für diese Stoffe gelöst ist, leisten die Papiergewebe an geschmackvollem Aussehen wie an Geschmeidigkeit und Festigkeit Erstaunliches. Auch Leder wird durch Papierstoffgewebe ersetzt, sowohl beim Schuhwerk als auch bei Handschuhen. In reicher Auswahl und schönen Mustern sind Stoffe für Kostüme und Blusen, Hüte und Bänder, für Möbel- und Wandbekleidungen zu haben. Auch für Handarbeiten, zum Stricken und Häkeln liefern die Papiergewebe geeignetes Material. Für die Beleuchtungsindustrie und die Kabellegung werden besonders feine Papierfäden hergestellt. Die Stoffe sind waschbar, bedürfen aber einer anderen Behandlung als sonstige Textilgewebe. Sie dürfen nicht gekocht, gerieben oder ausgerungen, auch nicht trockengebügelt werden. Leichtes Durchziehen durch die Wringmaschine schadet jedoch nichts. Die Wäsche soll in warmem, mit Seifenpulver vermengtem Wasser eine bis zwei Stunden eingeweicht und mit einer weichen Bürste auf glattem Tisch so lange gebürstet werden, bis der Schmutz entfernt ist. In klarem dreißig Grad Celsius warmem Wasser wird sie dann geschwenkt, aufgehängt und noch in feuchtem Zustand gebügelt. Die Preise für Papiergewebe sind erklärlicherweise vorläufig nicht niedrig, aber doch wesentlich geringer als die jetzt gültigen für Gewebe aus Baumwolle oder Leinen. Eine Besserung ist erst zu erwarten, wenn nach dem Krieg einmal die Holzpreise wieder fallen. Wenn es vollends gelungen sein wird, den Holzstoff, der doch in den Wäldern nur sehr langsam nachwächst, zum Teil durch rasch erzeugte andere Gespinste, besonders die Nesselfasern, zu ersetzen, werden die technischen Fortschritte, die durch die Erfindungen in der Papiergarnbearbeitung erreicht sind, erst zur vollen Geltung und ausreichenden Ausnutzung kommen. Aber schon jetzt sind die Erzeugnisse keineswegs nur fragwürdiger „Kriegsersatz“, mit dem man augenblicklich vorliebnehmen muss, sondern hochstehende Leistungen.

Besonders in der warmen Jahreszeit, für welche ja eine leichtere und durchlässigere Gewandung in der Regel genügt, empfiehlt sich die Ausnutzung der Papiergarnstoffe, weil dadurch die alte Kleidung geschont und für den Winter brauchbar erhalten wird. Von Seiten der Behörde wird die Verwendung durch Freigabe und Aufhebung der Bezugsscheinpflicht unterstützt, so dass nun eine wesentliche Steigerung der Nachfrage zu erwarten ist. Auch im Frieden wird die Holzstoffverwertung zusammen mit der Verarbeitung anderer Faserstoffe in der Textilindustrie eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, da Baumwolle, Jute und Hanf voraussichtlich auch dann noch lange knapp und sehr teuer sein werden. Dagegen ist für die Papiergarnverarbeitung ein Rohstoffmangel nicht zu befürchten. Jede Erfindung aber, wie die der Papiergewebe, die uns von der ausländischen Einfuhr unabhängig macht, ist ein volkswirtschaftlicher Gewinn von unschätzbarem Wert, ein Sieg, der allen zustatten kommt.

Damen- Herren- und Kinderkleidung aus Papiergewebe

Damen- Herren- und Kinderkleidung aus Papiergewebe

Erzeugnisse aus Papiergewebe

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Spinnpapierteller und aufgespulte Papiergarne

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Verschiedene Erzeugnisse aus Papiergewebe

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