Otto Wagner (1841-1918) Künstler und Architekt

Autor: Tietze, Hans (1880-1954) österreichischer Kunsthistoriker, Erscheinungsjahr: 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Architektur, Wien, Stadtbild, Baukunst, Formensprache, Wienertum
Der Name Otto Wagner hat einen sonoreren Klang, als ihn die Namen österreichischer Künstler zu haben pflegen. Es tönt etwas Weltgültiges in ihm, das aufhorchen macht und das wiederzufinden wir in der Geschichte der heimischen Baukunst bis Fischer von Erlach zurückgehen müssen. Die Baubarone des neunzehnten Jahrhunderts, die Schöpfer des glänzenden Wiens Kaiser Franz Josefs, haben dieses Besondere, das eine Verbindung von Bodenständigkeit und internationalem Wert ist, nicht, ihr oft glücklich und geschmackvoll gehandhabter Stil ist eine Allerweltssprache, dem ein heimisches Element — anmutig und liebenswürdig bei Ferstel, derber und fragwürdiger bei Hasenauer — beigemengt ist, aber es schafft nur eine Nuance in der historisierenden Kunstsprache, dem ein Zug von Wurzellosigkeit — wie einem künstlerischen Volapük — anhaftet. Wagners Kunst hat wie die Fischers die gesunde Kraft eines Stammes, der tief im Boden wurzelt und seine Krone ins Weite verästelt, sie ist nur in Österreich und Wien denkbar und gehört dennoch der Welt, sie ist das Gegenteil dessen, was den falschbescheidenen Namen der Heimatkunst für sich beansprucht, sie erhebt die Kunst der Heimat durch Steigerung ihrer Wesenheit zu einem ebenbürtigen Glied im Chor der Kunstnationen.

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Die Bedeutung der Kunst Wagners liegt darin, dass eine formal und menschlich im Wienertum wurzelnde Möglichkeit eine Erhöhung zum Idealen erfährt, denn das Ideal einer Kunst liegt nicht im Niederschlag all ihrer Erscheinungsformen allein, sondern auch in der Erfüllung ihrer heimlichen Sehnsüchte, in der meisterlichen Fassung ihrer Wesenszüge, aber noch mehr in der Ergänzung durch das, was ihr zumeist fehlt. In den Leistungen, die als Marksteine am Wege der Kunst stehen, wird ein Kunstwollen nicht nur vollendet, sondern auch überwunden. Hierin ist das Maß Otto Wagners gegeben und die Erklärung seiner Wichtigkeit für Zeit und Ort seiner Erscheinung, er rückte durch die natürlichen Dimensionen seiner Persönlichkeit die ästhetische Frage in das Gebiet des Ethischen.

Deshalb ist Otto Wagners Führertum niemals angezweifelt worden, Freund und Feind haben instinktiv seine Überlegenheit anerkannt, nur lag sie nicht in der von den einen übermäßig gepriesenen, von den anderen gehässig bekämpften absoluten Form seiner Werke, sondern in jenem menschlichen Überwert, in dem Wien sein eigenes Wesen geläutert wieder erkannte. Das Passive seines Charakters ist in Wagner zu einer Hingebungsfähigkeit an die Forderungen der Zeit gesteigert, die etwas Eroberndes besitzt und der landläufige fatalistische Leichtsinn wendet sich im unzerstörbaren Optimismus des Künstlers beinahe ins Heroische, sein Überwienertum hat ihn zum Abgott seiner Anhänger, zum Popanz seiner Gegner gemacht, er war durch seine Eigenschaften Vorbild und Vorwurf zugleich. Diese Doppelheit, die anlockte und abstieß, hat seinen Lebenslauf bestimmt, Vertrauensmann der ausnahmsweise geeinten Künstlerschaft im Augenblick, da es sich um die große Aufgabe des Stadtbahnbaues handelte, Führer und unerbittlicher Vorkämpfer einer radikalen künstlerischen Opposition, vom Bürgermeister Lueger, der aus seinem Instinkt als Volksführer das Verständnis für Wagners Qualität schöpfte, zum wichtigsten Mitarbeiter an der Großstadtbildung Wiens gewonnen, von der Mittelmäßigkeit der sonstigen Gemeindegewaltigen zur Untätigkeit verbannt. Liebenswürdig und unausstehlich, menschlich weich und streng theoretisch, war Wagner, durch schrankenlose Entfaltung und eiserne Bekämpfung seines innersten Wesens eine Verkörperung dessen, was Wien in den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende war und was es sein sollte und konnte.

Wagner wächst als Baukünstler aus der großen architektonischen Bewegung der Siebziger- und Achtzigerjahre heraus, die historisierende Baukunst des Ringstraßenstils hat ihn erzogen, durch Vorbild und durch Widerspruch. Ihre Gesinnung war die des Liberalismus und des Kapitalismus, ihre Formensprache — dem Realismus der bildenden Künste entsprechend — naive Hingabe an die in den Werken vergangener Perioden gegebenen Formen. Wie das schöne Modell, die anmutige Landschaft, das interessante Thema seine Eigenschaften auch ins Bild mitbringen sollte, so wurde die sicherste Gewähr für die Wirksamkeit und Schönheit architektonischer Formen in der Anlehnung an das in berühmten Stilperioden Bewährte gefunden, und wie in Malerei und Plastik Auswahl und dekorativer Geschmack das Naturvorbild wandelten, so ist auch in der historisierenden Baukunst das Stilvorbild dem Bedürfnis der nachschaffenden Gegenwart sehr wesentlich angepasst worden. Dieses Bedürfnis, das zuerst in einer Relation gewisser Stilformen zu bestimmten Bauaufgaben oder in einer freien Fortbildung der Renaissance — als eines der klassischen Antike und der Gotik gleichermaßen gegenüber stehenden dritten Reiches der Moderne — sein Auslangen gefunden hatte, fordert bald eindringlicher seine Rechte, an Stelle des unbefangenen Zugriffs nach allem, was Natur und Geschichte zu bieten hatten, setzt die Zeit eine wissenschaftliche Orientierung. In der bildenden Kunst drückt der Impressionismus den die allgemeine Geistigkeit beherrschenden Materialismus am vollkommensten aus: Kunst eine wissenschaftlich kontrollierbare Vervollkommnung des Sehens, in der Architektur entspricht ihm der Glaube an Zweckmäßigkeit und Materialechtheit: Baukunst der Ausdruck der durch Zweck und Material bestimmten Bedingungen. Wie es das Verdienst des Impressionismus ist, aus den Dickichten einer teils gedanklichem Inhalt, teils dekorativem Schmucktrieb dienenden Kunst wieder zu den reinen Aufgaben der Malerei und zu einer vervollkommneten Beherrschung ihrer Mittel zurückgeführt zu haben, so ist auch die rigorose Architekturtheorie ein Reinigungsbad gewesen, das viele tot und unfruchtbar gewordene Konvention abstreifte und die Baukunst verjüngt und gestärkt vor ihre alten und ewig neuen Aufgaben stellte. Da und dort hat die theoretische Grundlegung der neuen Auffassung wenigstens negativ — durch das was sie verwarf und abschaffte — tiefer gewirkt als durch ihre Praxis.

Otto Wagner hat sich schroffer und entschlossener als irgend ein anderer zum neuen Evangelium des Bauens bekannt, man möchte annehmen, dass die Zuchtlosigkeit und Hohlheit, zu der der architektonische Historismus in den Werdejahren des Künstlers entartet war, ihn zu einem einseitigen Parteigänger der entgegengesetzten Auffassung gemacht haben, an die Stelle des Scheines sollte die Wahrheit treten, das Schwelgen in gleißenden Surrogaten dem unverhohlenen Bekenntnis zum Material weichen. Wagner ist bis zu seinem Tode des Feldzuges gegen den verhassten Feind nicht müde geworden, in mündlichen und schriftlichen Manifesten hat er einen Gegner bekämpft, der längst nicht mehr zu fürchten war und eine Lehre gepredigt, die in ihren Grundlagen das wahrhafte Glaubensbekenntnis aller Baukunst enthält, aber in ihrer Einseitigkeit zu Unfruchtbarkeit und Armseligkeit führen müsste, Zweck und Material sind die Bedingungen alles Bauschaffens, aber jenseits ihrer beginnt erst die unersetzliche und unnachahmliche Tätigkeit des schöpferischen Meisters, die frei waltende, durch kein wissenschaftliches Gesetz gebundene Kunst der Architektur. Wie in aller Kunst, wie in aller geistigen Tätigkeit der Menschen ist auch in ihr die allem Messen und Wägen entzogene innere Kraft des Schaffenden das ausschlaggebende Element. Mit Unbehagen denken wir an die selbst heute in verbissenen Fanatikern noch nachzuckende Lehre, die an Stelle geheimnisvoll blühender Lebendigkeit einen Mechanismus zu setzen unternahm, wie uns die Programmdramen des jungen Naturalismus und die gemalten Manifeste des Impressionismus heute seltsam fremd geworden sind, darüber dürfen wir aber die historische Bedeutung dieser Erscheinungen nicht übersehen, ohne die alle seitherige Entwicklung der Kunst nicht denkbar ist.

Otto Wagner gehört zu jenen, die unserer Zeit Weg und Handwerkszeug bereitet haben, aber er wäre kein großer, er wäre überhaupt kein Künstler gewesen, wenn seine Praxis nichts wäre als der Ausfluss seiner Theorie, wenn sein Schaffen kein anderes Interesse böte, als jene alleinseligmachende Baulehre in Erscheinung umzusetzen. In Wirklichkeit ist jene theoretische Überzeugung nichts als ein einzelnes Element in seiner viel reicheren künstlerischen Persönlichkeit, sogar ein Element, das sich weniger als ein gedanklicher Zusatz, denn als ein Wille zur Reinheit schöpferisch betätigt, innerhalb seiner Baupraxis ist Wagners Theorie als ein sittliches Moment anzusehen. Zu rationaler Schärfe drängt sich in ihr das Sehnen des Architekten zusammen, seine Kunst rein und unmittelbar zum Gefäß des Zeitbedürfnisses zu machen.

Dieses Bedürfnis hieß — in die Sprache der Architektur gebracht — Klärung des Tektonischen. In der maßgebenden Bautheorie der Zeit von Gottfried Semper zum obersten Dogma erhoben, in der Praxis in die Befriedigung von tausend alltäglichen Bedürfnissen ausgegossen, kann dieses Bedürfnis in der Kunst als ein neues Verhältnis zu den Raumwerten gekennzeichnet werden. Den Baukörper als solchen als den gegebenen Kern der Architektur zu empfinden, war durch die Fassadenkunst der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verloren gegangen, vom Eindruck eines Baus im Stadtbilde ausgehend, war man zu einem Bauen von außen nach innen — statt eines umgekehrten — gelangt, das Wesen der Architektur war ihrem Schein geopfert. Ein Zurückgreifen auf eine gesundere Tradition musste Wagner von selbst auf den Barockstil führen, in dem seine stammesbestimmte Eigenart Boden unter den Füßen spürte. Die Konkurrenzentwürfe für ein Parlamentsgebäude in Budapest (1883) und selbst noch für den Berliner Dom (1891), die Zinshäuser am Schottenring und in der Stadiongasse sind von einem Empfinden für Baumasse und Massengliederung erfüllt, das viel mehr als die Formensprache im einzelnen an das Barock anknüpft, obwohl auch dieser mehr äußere Anschluss in dieser Periode nicht ganz belanglos ist. Dieser in einer Anlehnung an gegebene Stilformen enthaltene Rest von Historizismus ist lediglich eine Hilfe für den Werdenden, er sucht in der Sicherheit eines abgeschlossenen Stils den Rückhalt für sein eigenes Wollen. Tatsächlich hat diese Barockperiode Wagners nicht länger gewährt als er brauchte, um an einmal schon geformten! Stoffe die eigene Kraft ganz heranzubilden, er streifte das Maskenkleid des historischen Stils ganz von sich, das ihm die Klarheit der eigenen Absichten nicht so sehr zu stören als zu verschleiern schien. Es entsprach dem rücksichtslosen Bekenntnisdrang Wagners, diesen Schleier — dessen Nebensächlichkeit kaum bezweifelt werden kann — als unzulässig zu empfinden, das innerlich Erneute wollte auch nach außen alle Konsequenzen zeigen.

Mit dem Gebäude der Länderbank, das den vom Gebrauchszweck bestimmten Grundriss durchaus zur Dominante der ganzen Bauschöpfung macht, setzt die Tätigkeit des „eigentlichen“ Wagner ein. So sehr eine rein entwicklungsgeschichtliche Einstellung seinen engen Zusammenhang mit dem Wagner der Achtzigerjahre deutlich zu erkennen vermag, so richtig ist dennoch die Empfindung, den wahrhaften Stil des Meisters — und mehr noch den menschlichen als den künstlerischen — erst dort zu erkennen, wo er, die Hemmungen der Lehrjahre überwindend, den reinen Zusammenklang seiner Ideen und ihrer Ausdrucksmittel erreicht, dass Früh- und Spätstil eines Künstlers durch zahlreiche Fäden in Verbindung stehen, ist schließlich eine bare Selbstverständlichkeit, entscheidend für die historische Stellung eines Künstlers ist jener Teil seiner Entwicklung, in dem er aus den Puppenzuständen der Vorstufen zur stärkstmöglichen Auswirkung seiner Persönlichkeit gelangt.

Das Gesamtwerk des klassischen Wagner stellt eine zwar nicht ungegliederte, aber doch im ganzen einheitliche Masse dar, die sich von den früheren Bauten durch die proklamierte Unterordnung aller anderen Elemente unter den Gebrauchszweck unterscheidet. Es ist ein Herrscher, der sein Regiment auch nach außen sichtbar machen will, Gesamtanlage und Einzelformen versuchen aus der Gleichheit ihres Verhältnisses zu diesem Grundmotiv eine neue Harmonie zu gewinnen. Gerade dieser Komponente das entscheidende Übergewicht zu verschaffen, hat gewiss auch der doppelte Umstand beigetragen, dass Wagner damals als Nachfolger Hasenauers an die Akademie der bildenden Künste berufen worden war und mit den Aufträgen der Stadtbahnbauten (1894—1897) und der Nadelwehr in Nussdorf (1897) Aufgaben stark technischer Art erhalten hatte. Schuf das neue Amt die Notwendigkeit, sich über bisher im dunkeln Schaffensdrang Gewolltes die volle Klarheit zu bilden, die die Voraussetzung lehrender Weitergabe einer Materie an heranzubildende Schüler ist, so legte die neue Aufgabe eine neue Einstellung auf. Sie zu lösen bedurfte es voller Hingabe an die praktischen Zwecke, sie in eindringlicher und überzeugender Weise gelöst zu haben, konnte dem Ingenieur im Baukünstler zur Vorherrschaft verhelfen.

Hier war der Bruch mit der Tradition unvermeidlich, den bei anderen Bauthemen zäh nachlebende Überlieferung immer noch durch allerhand Kompromisse verhüllte. Das neunzehnte Jahrhundert hatte aus dem Formenvorrat der Vergangenheit eine Art von Typengrammatik gebildet, die auch dienen musste, neue Inhalte auszudrücken, ein neuer Stil des Lebens, völlig veränderte Bedürfnisse der Verwaltung und Repräsentation versuchten immer noch mit Modifikationen des unter anderen Bedingungen Entstandenen ihr Auslangen zu finden. Bei einer Aufgabe wie der Stadtbahn brach dieser längst zu innerer Hohlheit entgeistete Historismus völlig zusammen, hier musste die Notwendigkeit rascher und klagloser Abwicklung eines großstädtischen Verkehrs, hier musste das Bedürfnis nach Übersichtlichkeit, Bequemlichkeit und Sauberkeit unwiderstehlich alte Vorurteile brechen. Das Leben schuf sich neue Form, Sache des Architekten war es, der Forderung verständnisvoll zu dienen, passiv — im Sinne impressionistischer Kunst — ein Organ eines überpersönlichen Willens zu sein. Der individuellen Aktivität war das Wirkungsfeld auf die Bahnhofsbauten eingeengt, die allerdings eine weite Skala eröffneten, von den großen, Knotenpunkte des Verkehrs und Verbindungsglieder zu den Fernlinien bildenden Endstationen, über die repräsentative Würde der Hofpavillons zu der knappen Sachlichkeit der kleinen Haltestellen, mit den zahlreichen Varianten, die ober- oder unterirdische Streckenführung, die all die Verschiedenheiten des so abwechslungsreichen Wiener Geländes bedingten.

All diese Bedingungen sollten nur die äußere Form der technischen Lösung mitbestimmen, dennoch erscheint es uns heute zweifelhaft, ob die Leistung des Architekten sich mit der des Ingenieurs deckt, wie sie möchte, und ob nicht vielmehr, was den künstlerischen Eindruck bedingt, mit jener glatten Erfüllung der technischen Bedingungen nur mittelbar zusammenhängt. Die hohe Qualität der Wagnerschen Architektur beruht vielmehr auf der Erfüllung eines künstlerischen Zwecks, auf der eindrucksvollen Organisierung der bewältigten Baumasse, auf dem sinnlich erlebe baren Ausgleich von Kraft und Stoff, der die Quelle aller Baukunst ist. Sie ist, uralt und von Anbeginn vorhanden, doch immer wieder neu gestellt, denn ihr Gerüste bedarf eines Beiwerks, das jenes immer wieder zu überwuchern und zu verdecken bestrebt ist. So war es auch Wagner beschieden. Ältestes als Neuheit zu entdecken, als Revolutionär bekämpft zu werden, weil er sich der wahren Bautradition zu einer Zeit besann, in der sie hinter literarischen, dekorativen, malerischen Nebenzielen fast völlig verschwand. Er besaß dazu den eingeborenen Sinn für Statik, das Gefühl für den Wert der architektonischen Masse, diese Eigenschaften ermöglichten ihm, die architektonische Schönheit auf die einfachen Grundformen zurückzuführen. Der geschlossene Bloch, als Raum, Gewicht und optisches Element gleich eindrucksvoll, ist das Gebilde, mit dem er operiert, aus Blöcken setzt er seine Gebäude, aus Häuserblöcken seine Stadtviertel zusammen.

Hinter allem was er geschaffen hat, bleibt dieser zyklopische Kern fühlbar, auch hinter reicher Verkleidung verleugnet sich der Gehorsam vor einem klar erkannten Elementargesetz niemals. Denn — und hier berühren wir einen neuen Wesenszug Otto Wagners — so schroff sich seine Theorie bisweilen gebärdet, niemals vereinfacht er seine Praxis zur Formenabstraktion. Sein tiefes Verständnis für den Wert stereometrischer Formen hat ihn nicht übersehen lassen, dass sie den architektonischen Formen nur das Gerüste bieten, so hat ihn seine schroffe theoretische Überzeugung nicht gehindert, dieses Gerippe mit dem blühenden Fleische lebendiger Bauform zu überziehen. Die bodenständige Freude an sinnlicher Schönheit ließ sich nicht unterdrücken und aus der herben Strenge der Wagnerschen Baulehre wuchert ein üppiger Schmucktrieb, der seine Herkunft aus den festesten heimatlichen Überlieferungen schöpft. Selbst den Stadtbahnbauten und der Nadelwehr wohnt ein über alle zweckgebundene Beschränkung hinausgehendes Streben nach repräsentativer Monumentalität inne, freier noch entfaltet es sich in Arbeiten, bei denen diese Steigerung über das unbedingt Notwendige ein Teil der Aufgabe ist, wie bei der Anstaltskirche auf dem Steinhof oder den verschiedenen Entwürfen für das Karlsplatzmuseum, deren Maßstab im stolzesten Erbe unseres Barock gesucht werden muss.

Die Kirche am Steinhof zieht ihre Lebenskraft aus einer doppelten Wurzel: aus dem Bedürfnis monumentaler Repräsentation, das ihre hochragende Silhouette wie ein stolzes und selbst' verständliches Zierstück in das Landschaftsbild hineinsetzt und aus der Zweckbindung eines neuzeitlichen Gotteshauses. Wer je den Kuppelbau, grundentwachsen wie ein Stadtwahrzeichen, im Gelände begrüßt hat und von der fröstelnden Feierlichkeit seiner Innengestaltung angeweht worden ist, wird kaum daran zweifeln, dass von den beiden Antrieben der von außen kommende sich als der stärkere erwies. Denn der innere Keim, allen positiven Verhältnisses zur Kirchengläubigkeit entbehrend, hätte niemals so stolze Frucht tragen können, es ist ein Bau, der alle negativen Forderungen ohne Rest erfüllt, hygienisch und übersichtlich, praktisch und festlich ist, aber dem im letzten Grunde gerade die andachtsvolle Stimmung religiöser Hingabe fehlt. Eine Festhalle für liturgische Funktionen, ein Zeremonialraum für eine rationalistische Religion, eine Art Kirche für unkirchlich Gesinnte, ungemein charakteristisch für Denkart und Einstellung der Bauzeit, aber als Maske eines nicht erfassten Wesens, als Dekorationsstück hohen Pompes den Sieg künstlerischer Notwendigkeit über kunsttheoretische Erkenntnis bezeugend. Was für alle Baukunst als oberstes Gesetz proklamiert worden war — materialgerechte Gestaltung des Gebrauchszwecks — ist hier bei einer der höchsten Aufgaben aller Architektur anderen Forderungen untergeordnet.

Derselbe Zwiespalt bei jenem Projekt, das man im Sinne, wie man von der Tragödie des Juliusgrabes im Leben Michelangelos gesprochen hat, als das tragische Moment im Schicksal Wagners bezeichnen könnte, bei seinem Projekt für ein städtisches Museum. Der Ausgangspunkt war hier die organische Auswertung der durch Karlskirche und Technische Hochschule gegebenen Anfangssituation, ein Museum war zu bauen, für Wagner war das Wesentliche, es in jene Baugruppe einzubinden, einen Stadtteil aus der Zerfahrenheit des zufällig Gewordenen in überlegte Einheit umzuformen. Die Pläne Wagners zu verfolgen, die sich mehr um diesen Bau gruppieren als sie ihm unmittelbar zugehören, ist ein ganz besonderer Genuss, sie zeigen eine Kraft, die sich am Widerstand entzündet, einen Schöpferwillen, der sich sein Fundament immer breiter und gewaltiger legt und zuletzt doch glänzend und riesenhaft in der Nacht verpufft wie eine märchenhafte Girandole. In den ersten Projekten ist der Zusammenhang mit der Karlskirche der engste und unmittelbarste, sie gibt dem wuchtig hingelagerten Museumsbau Maß und Folie, bestimmt die Verschiebung der Hauptakzente nach dem ihr abgewendeten Flügel, wirkt selbst in die konkrete Formengebung ein. Der Widerspruch gegen dieses Projekt, der von den speziellen Bedingungen des Bauplatzes ausging oder auszugehen vorgab, veranlasste den Künstler weiterauszuholen, der neuen Kulisse der Fischer von Erlachschen Kuppelkirche auf der entgegengesetzten Seite ein Gegengewicht zu bieten und zuletzt zu einer völligen Regulierung des ganzen Platzes, einer Verlegung des Naschmarktes nach der Wienzeile und zum Projekte eines Wohnhausbaus an Stelle des alten Freihauses zu gelangen. Dieses sogenannte III. Projekt für das Museum gräbt ein gutes Stück ungeformter Stadt um und schafft ein neues Ganzes, in dessen innerstem Schrein die Karlskirche wie ein Kleinod ruht, sie, viel mehr als der die unmittelbare Auslösung bietende Museumsbau, bildet die Zelle des selbständig gewordenen künstlerischen Organismus. Die letzte Phase ist dann, dass sich dieses Gebilde vom Ausgangspunkt löst, das ganze Projekt auf die neu zu bebauenden Gründe auf der Schmelz übertragen und der Versuch unternommen wird, hier dem jungfräulichen Boden aufzuzwingen, was das von Kulturtrümmern und Traditionen übersäte ältere Stadtbereich aufzunehmen sich widersetzt hätte. Hier war Neuland, ungehindert konnte der Künstler seinen Gestaltungstrieb entfalten, weites Gelände nach seinem Willen ordnen, Akademie, Moderne Galerie und Stadtmuseum sollten hier eine einheitliche Gruppe bilden, die der sich anschließenden großstädtischen Verbauung des weiten Paradeplatzes den monumentalen Rückhalt bieten konnte.

Noch einmal löst sich dann das allgemeine Problem von der Spezialaufgabe, das Projekt zum Museumsbau auf der Schmelz stellt die Vorstufe zum „Idealentwurf für den Ausbau des XXII. Wiener Gemeindebezirkes“ dar. Hier ist der zufällige Anlass aufgegeben und unverhohlen auf das Ziel losgegangen, der Baukünstler will Stadtschöpfer werden und dem sinnlosen Chaos der überflutenden Großstadt ein vorbedachtes Bett graben. Wie es aus kubischen Elementen seine Einzelbauten schuf, wie er die gebundenen Formen dieser zu größeren Gruppen zusammenschloss, so will er nun ein ganzes Stadtgebilde schaffen, das sein Gesetz aus dem künstlerischen Willen eines Einzelnen empfängt, der sich mit dem Willen der Allgemeinheit tief vollgesogen hat. Diese gewaltigen Stadtbauprojekte bekrönen folgerichtig den Entwicklungsgang Otto Wagners, in dem der Sinn für das Soziale eine starke Triebfeder darstellt, dieser mächtige Individualist hat den Aufgaben individualisierender Baukunst, die einem guten Teil der Architekten seiner Generation vor allem wichtig waren, ein sehr geringes Interesse entgegengebracht. Sich individuellem Bedürfnis anbequemen, „persönliche“ Häuser bauen — eine Lieblingsidee, die die Jahrhundertwende teilweise bis zum Verlaufen ins Dilettantische ausspann — widersprach Wagners Denkart, seine volle Schaffenskraft entfaltete sich dort, wo kein Hindernis im Wege stand, wo der prometheische Trieb, nur seinem inneren Gesetz gehorchend, sich neu auswirken konnte. Musste aber diese herrische Natur dienen — wie dies vom Wesen der Baukunst, sobald sie sich verwirklicht, unabtrennbar ist — so konnte es nicht Laune, Wunsch, Bedürfnis des einzelnen Bauherrn sein, dem er sich beugte, sondern musste ein stärkerer Wille sein, der stärkste, der der Zeit innewohnte, das entindividualisierte soziale Wollen. Nicht das Familienhaus hat Wagner gelockt, sondern die Zinskaserne, nicht die Bauform, die der sich verfeinernden Wohnkultur verschwindend kleiner Kreise entwuchs, sondern die Bauform, die das Wohnbedürfnis breiter Schichten nivellierter Großstadtbevölkerungen forderte. In allem Verlangen individualisierender Bauweise verbirgt sich ein Stück weltferner Romantik, die Struktur unserer Städte und die Lagerung ihrer Volksmassen bestimmen das Zinshaus, den Häuserblock, das Arbeiterviertel zu den wesentlichen Elementen der modernen Stadt. Die Arbeit auf diesem Gebiet hat Wagner zeitlebens beschäftigt, die Häuser in der Stadiongasse, an der Wien, in der Neustiftgasse stehen als Marksteine auf dem Wege, den er hier zurücklegte. Die Fäden, die den Wohnhausbau der Ringstraßenzeit an den Palastbau knüpften, werden immer vollständiger zerrissen, immer klarer der architektonische Typus entwickelt, der den spezifischen Bedürfnissen des Menschentyps unserer Zeit entsprach. In der Konsequenz mancher dieser Lösungen ist eine Eindringlichkeit erreicht, die der Gültigkeit früherer Bautypen — der Feudalburg des Mittelalters, des Palasts der Renaissance, des Bürgerhauses der Biedermeierzeit — ebenbürtig ist. Der klassische Eindruck beglückender Überzeugungskraft ist erreicht, weil diese Architektur voll mitempfundenes Lebensgefühl ihrer Zeit zu gestalteter Form zu erheben vermag.

Dieses Lebensgefühl sollte nach dem Willen des Künstlers ein spezifisch modernes sein, von den kleinen Bedürfnissen des Verkehrs und der Bequemlichkeit bis zu einem nur der neuesten Zeit eigentümlichen Großstadtempfinden sollte das ganze Verhältnis neuzeitlicher Menschheit zur Architektur hier monumentalisiert werden. Hierin liegt vielleicht die Erklärung jener schon berührten Tragik in diesem Künstlerschicksal, die eine Reihe der kühnsten Pläne mit dem Fluche der Nichtvollendung schlug, hinter der gesteigerten Form stand nicht als starker Hort das vollempfundene Bedürfnis einer ganzen Generation, sondern nur ein individueller Künstlertraum, der Erfüllung fand und suchte. Als Theoretiker wollte Wagner seiner Zeit dienen, indem er jedem ihrer Wünsche gehorchte, als Künstler diente er ihr echter, indem er ihr sein größeres Wollen aufzuzwingen suchte. Mit diesem Zwiespalt ist Wagner ein echtes Kind seiner Zeit, seine Grundtendenz müsste sein, seine Individualität auszulöschen, um bloßes Instrument eines objektiven Kunstwollens zu sein, und tatsächlich muss er seine Individualität zur höchsten Potenz steigern, um seinen subjektiven Willen zum Schein objektiver Gültigkeit zu erheben. Wir empfinden diese Zwiespältigkeit im Fin-de-siècle-Stil der Zeit Wagners besonders deutlich, aber vielleicht ist sie in der Rolle des Künstlers innerhalb der Kunst überhaupt unausrottbar. Immer mischt sich Allgemeinstes und Persönlichstes, Ewiges und Momentanes in seiner Erscheinung.

Diese Doppelrolle ist auch in Wagners Verhältnis zur Dekoration auffallend, die ihm seiner Lehre gemäß als bloße Funktion des Struktiven erscheinen musste. Trotz dieser Erkenntnis ist die Rolle des Schmuckes bei ihm eine ganz andere, als nur das Wesen des Baus zu verdeutlichen und nichts ist leichter, als Widersprüche zwischen der postulierten tektonischen Ornamentik und der wirklich angewendeten Baudekoration aufzuzeigen. Die gleiche Umformung, die romanischer, gotischer und Barockstil hier in Österreich, auf dem Boden uralter Grenzkultur, gefunden haben, wird auch dem modernen Zweckstil zuteil/ wie sechshundert Jahre vorher die österreichischen Zisterzienserbauten, Ableger der keuschesten und nüchternsten Kunst- schule des Mittelalters, in eine Treibhausüppigkeit geraten, die ihrem ursprünglichen Wesenskern fremd gewesen war, so wird auch nun gewollte Strenge bald zu quellendem Reichtum erweicht. Naturalistische und orientalisierende Motive werden zu verschwenderischer Fülle gehäuft und eine ungebändigt sprudelnde Phantasie der schmückenden Teile widerspricht der strengen Selbstzucht der geschmückten. Hier glauben wir einen Sprung in Wagners Konsequenz zu fühlen. Sein tektonisches und sein ornamentales Bedürfnis wirken nicht immer wie zwei Blüten eines Stammes, sondern wurzeln in verschiedenen Gründen, und deshalb ist sein Reichtum bisweilen Zutat, Schlingwerk an kahlen Mauern, jener Zwiespalt des Konstruktiven und des Dekorativen, der im Dioskurenpaar der Wiener Opernarchitekten wie symbolisch verkörpert erscheint, ist bei Wagner nicht durchwegs harmonisch gelöst, nicht immer ist gesteigerte Feierlichkeit die Frucht der Verbindung, sondern ein Nüchterner steht vor uns, der über die Stränge schlägt, ein Priester der Ewigkeit, der sich mit dem Tand des Tages behängt.

Die Hingabe an die Welle des Jugendstils erscheint uns heute als das Zeitgebundendste an Wagner, was den Augenblicksvorzug der Modernität besaß, mußte naturgemäß auch die Schatten der Vergänglichkeit zeigen. Weil diese individualistische Dekoration nicht dem Baukern entwächst, droht sie ins Barbarische zu fallen, weil sie der naturalistischen Tagesmode sich bedient, ins Frivole zu sinken. Man könnte sich ein Elementarereignis vorstellen, dass das Unwesentliche von Otto Wagners Bauten herabwüsche und sie nicht verstümmelte, sondern zu konzentrierterer Wirkung erhöbe. Die Zeit wird diese Korrektur an unserem heutigen — gleichfalls zeitbedingten — Urteil üben, sie wird das Unwesentliche vom Wesentlichen wohl nicht mechanisch lösen, aber es — durch die größere Fernsicht — in diesem aufgehen lassen. Dann wird zur Einheit verschmelzen, was sich uns heute, da wir zu nahe stehen, verzerrt, dann wird aller Widerspruch, der uns heute verwirrt, in der menschlichen Einheit des Künstlers seine Erklärung finden. Dann erst wird Otto Wagner in die Ruhe geschichtlicher Würdigung eingehen als überragender Vertreter seiner Zeit, nicht nur weil sie ihn formte aus ihrem geistigen Wollen, sondern mehr noch, weil er sie formen half aus seiner schöpferischen Kraft.

Haus in Wien, IV., Lambrechtsgasse 8A

Haus in Wien, IV., Lambrechtsgasse 8A

Der Volksprater.

Der Volksprater.

Der Michaelerplatz und das Burgtheater.

Der Michaelerplatz und das Burgtheater.

Ferdinandsbrücke und Rothethurmbastei.

Ferdinandsbrücke und Rothethurmbastei.

Der hohe Markt.

Der hohe Markt.

Der Platz „Am Hof“ (nach R. v. Alt)

Der Platz „Am Hof“ (nach R. v. Alt)

Ansicht der Stefanskirche (nach Rudolf Alt, Heliogravüre)

Ansicht der Stefanskirche (nach Rudolf Alt, Heliogravüre)

Ansicht der Freyung mit Schottenkirche (nach Canaletto)

Ansicht der Freyung mit Schottenkirche (nach Canaletto)