Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Nr. 52. Seite 858 ff. 1872

Vom Ostsee-Jammer – Die Sturmflut vom 13. November

Aus: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Nr. 52. Seite 858 ff. 1872


Keil, Ernst (1816-1978) Buchhändler, Herausgeber und Begründer der Familienzeitschrift: Die Gartenlaube

Nicht der bildenden Kunst, nicht einem Zeitungsblatte ist’s gegeben, uns den ganzen Jammer zur Anschauung zu bringen, welchen die Hochflut am 13. Novemberüber alle dem Nordsturm offenen Ostseeländer verhängt hat. Die Statistik mit ihrer ruhig rechnenden Hand wird diese Aufgabe lösen, und lauter und eindringlicher als die ergreifendsten Schilderungen werden die stummen kalten Zahlen reden, welche mit den Summen des verwüsteten und für immer verlorenen Habes und Gutes zugleich die schreckliche Summe des vernichteten Menschenglückes aufstellen.

Noch bis heute kommt nur Einzelnes, zerstreut vom Zufall Hingeworfenes von der langen Küstenstrecke voll Not und Elend und Klage uns vor Augen und Ohren. Wie viel Entsetzliches ist noch nicht entdeckt worden oder hat noch keinen Erzähler gefunden, und wie viel Klagen hat der Tod schon beendet und wie viel Seufzer wird er noch ersticken, selbst wenn überall hin die Hilfe so rasch käme, als das wärmste Herz es nur wünschen kann!

Auch wir geben heute nur ein Bild von den Hunderten, ja vielleicht tausenden, wie sie an den deutschen Ostseeküsten von Nordschleswig bis Ostpreußen das Grauen, Entsetzen und Mitleid des verhärtetsten Menschen erregen. Es stellt den Einsturz des Hauses in dem Dorf Niendorf am Lübeckischen Meerbusen dar. Dr. Avé-Lallemant in Lübeck schreibt uns hierüber:

„Am Sonnabend (16.November) war ich in Travemünde und ging von Da nach dem eine Stunde davon entlegenen cutinischen (oldenburgischen) Dorfe und Badeort Niendorf. Ich habe das Meer sehr oft in wilder Aufregung gesehen, aber eine solche Empörung der Elemente gegeneinander, diese Vernichtung alles dessen, was der Mensch gebaut und geschaffen hat, eine solche Neuschaffung eines ganzen Ufers und Erdbodens kann auch die lebhafteste Phantasie sich nicht erträumen. Man steht im dumpfen starren Staunen am Gestade, zu Nichts fähig, als die Allmacht zu bewundern, welche nach diesem gigantischen Kampf der Elemente gegen einander dennoch wieder Frieden zu stiften vermochte, einen Frieden, dem sie aus dem Schutt und den Ruinen alles Menschenwerks ein schauerliches Denkmal setzte.“ Das arme Dorf war. Ähnlich wie Eckernförde, von zwei Wassern zugleich bedrängt. Während von der See her die Flut her die See heranstürmte, die Boote zertrümmerte, an den Häusern rüttelte und die Bewohner zwang von Herd und Hof zu fliehen, trat auch der Himmelsdorfer aus seinen Ufern, als müsse er sich dieser allgemeinen Flucht entgegenstemmen. Vier Menschen büßten dadurch ihr Leben ein. Unser Künstler, der berühmte Seemaler Oesterley, mag wohl nach den Berichten von Augenzeugen diesen Augenblick darzustellen gesucht haben. Von sechsundzwanzig durch die Flut erreichten Häusern sind zwölf spurlos verschwunden, die anderen wankende Ruinen. Achtunddreißig Familien sind um alles gekommen, nicht bloß um das Obdach und Alles, was darin und darum war, nicht bloß um Vieh, Hausrat, Arbeitsgeräte, Lebensmittel, Holz und Torf und selbst um das Trinkwasser, das die See mit ihrer Salzlache verdorben, sondern auch um Wiesen, Felder und Gärten, denn die Wogen rissen die fruchtbare Erde fort und gaben den Armen dafür in überreichlichem Austausch Schlamm und Sand. Die Badegäste, welche sich jährlich hier am Strande erquicken, wann werden sie die Menschen wieder froh und das Gelände wieder voll Segen finden?

Allein auf der kurzen Küstenstrecke des oldenburg-eutinischen Gebiets sind über hundert Familien vollständig an den Bettelstab gekommen! In allen Bittbriefen und Zeitungsausschnitten, die uns zugesendet worden, wiederholen sich dieselben Verwüstungsbilder, dieselben Klagen, aber auch an Beispielen mutigster Hilfe und Aufopferung ist kein Mangel. Teilen wir nur Einiges daraus mit: doch müssen wir bemerken, dass die Angaben der Verluste sämtlich aus den ersten Tagen noch dem Unglück stammen, wo der ganze Umfang derselben noch lange nicht völlig ermittelt war.

Furchtbar hat der Sturm auch den größten Teil von Vorpommern getroffen, aber welche Männer fand er da! Auf Hiddensee (nächst Rügen) hatten die Hogshagener in zehnstündiger Todesangst um ihr Leben gekämpft, und kaum selber dem Verderben entronnen, retteten sie die elf Mann starke Besatzung einer gestrandeten Barke. Sie haben alles verloren, und das Schlimmste ist, dass selbst für bares Geld ihre einzigen Erwerbsgeräte, ihre Boote und Netze, nicht sofort zu ersetzen sind. Da heißt es: die Menschen erhalten, bis sie es selbst wieder können. Aber Deutschland wird nicht vergessen, dass es Pommern sind, welche die bittenden Hände erheben, Pommern von Art, die Gravelotte nach sechzehnstündigem Tagesmarsch noch den blutigsten Sieg errangen.

Wie Stralsund an jenem Schreckenstage in Feuer und Wasser gestanden, ist bekannt. Ebenso das Schicksal von Eckernförde, und doch müssen wir von diesem noch etwas erzählen. Eckernförde liegt bekanntlich zwischen seinem Meerbusen und einem Binnenwasser, das Noer (gesprochen Noor) genannt; beide trennt ein Damm, welcher wieder die beiden Teile der Stadt miteinander verbindet. „Der starke Nordostwind (so schreibt eine Eckernförderin an ihre Schwester in Hildesheim, die den Brief der Hildesheimer Zeitung übergab) hatte schon am Abend des zwölften die neue Anlage bei Borby und den ganzen Weg unter Wasser gesetzt. Doch blieb es ohne merkliche Steigung bis zum nächsten Morgen 4 Uhr. Von da an stieg es so, dass um 7 Uhr die unteren Straßen unserer Stadt überschwemmt waren. Bis 8 Uhr Morgens nahm es zu. Da auf einmal hörte das Steigen auf, dass Wasser fiel mit rapider Schnelle und in kurzer Zeit waren die Straßen trocken. Der Damm war durchbrochen, mit furchtbarer Schnelligkeit erweiterte sich die schmale Öffnung, das Wasser schoss in gewaltigem Strom ins Noer hinab. Es unterwühlte den Grund des Dammes, und war der Grund locker gelegt, so stürzten die Stücke des Geländers hinab. Alles folgte dem gewaltigen Strom; fast atemlos wurden die Leute, als ein Boot mit zwei Fischern durch die Öffnung schoss; glücklicher Weise konnten sie gerettet werden und ebenso die Bemannung eines größeren Bootes, welches später durchging. In 1 ½ Stunden war der ganze Damm fort, und die grauen Wogen mit weißem Kamm gingen darüber hin, als wäre nie ein Hemmnis dort gewesen. Bald war das durch den Dammbruch geöffnete Becken des Noers gefüllt, und nun stieg die Flut auch wieder in unseren Straßen, so dass schon mittags die Boote umherfuhren. Was fliehen konnte, floh, oder suchte mit seinen besten Sachen fortzukommen. Bis 4 Uhr nachmittags nahm die Flut immer zu, und während dieser Zeit richteten die Wogen den Gräuel der Verwüstung an. Endlich ging der Wind um, und dadurch ward dem Meer sein „Bis hierher und nicht weiter“ zugerufen. Die Leute mitten in der Stadt atmeten wieder auf. Da – um halb 8 Uhr – läuteten die Glocken. Da muss Feuer sein! Mein Gott, zu Wassernot auch noch Feuersnot bei diesem Sturm und bei den mit Wasser gefüllten Straßen! In der Kalkfabrik von W. Clausen brannte es; aber Dank unserer Feuerwehr, welche bis an die Brust ins Wasser ging, wurde die Gefahr bald beseitigt.

Der Wind war ruhig geworden, die Wellen ließen nach, der Strom ward schmaler, das Wasser trat in sein Bett zurück; aber welches Bild zeigte der folgende Morgen! Ganze Häuserreihen völlig verschwunden und an ihrer Stelle nur ein Steinhaufen. Einige Dächer standen auf der Erde, andere waren ganz wegrasiert, und dazwischen die wüsten Trümmer von Hausgerät aller Art. Ganz zerstört sind in der Stadt achtzig bis neunzig Häuser, verwüstet einhundertdreißig bis einhundertvierzig. In Vorby ist die Verwüstung verhältnismäßig ebenso groß. Auch die ganz neuen massiv gebauten Häuser sind zusammengestürzt. Man könnte Blut weinen, wenn man das Elend ansieht. Da wir hoch wohnen, so haben wir doch unser Haus behalten und konnten die Unglücklichen, die in Booten zu uns kamen, aufnehmen. Ich hatte über 100 Menschen im Hause, aber wie gerne tut man es! Auf der Treppe im Hause bis ober hinauf saßen die Kinder die Nacht hindurch. – Fast hätte ich auch meinen Mann verloren! Mutig, wie immer, ist er draußen hingeritten, um Menschenleben zu retten, kann sich aber nicht halten, kommt unters Wasser und wäre verloren gewesen, wenn er nicht ein so guter Schwimmer wäre. Durchnässt bis über die Ohren kommt er zu meinem größten Schrecken nach Haus, rasch in Trockene Kleider und wieder in die Boote, um die Menschen von unter zu holen.“

Was Todesangst ist, hat auch der Lotse von Schleimünde mit den Arbeitern am dortigen Steindamme des Leuchtturms erfahren. Das Lotsenhaus liegst am höchsten auf einem schmalen Streifen Landes, dabei ein achtzig Fuß langer Schuppen für Boote, jetzt das Nachtquartier jener Arbeiter, und ein Stall für ein Pferd, ein paar Kühe und Schafe. Als der Sturm in der Nacht losbrach, flohen die Arbeiter aus dem Schuppen in das Lotsenhaus. Achtundzwanzig Menschen staken in dem engen Raume, aber sie hielten sich für sicher; denn noch nie, so lange der Lotse denken konnte, war das Wasser bis zu ihm heraufgestiegen. Aber es kam doch, es drang schon durch die Tür. Eiligst suchte man Tür und Fenster möglichst zu verstopfen, aber vergeblich. Da brechen sich die Wellen an den Wänden, und alle flüchten auf den Boden, unter das Dach. Noch schützen die Nebengebäude das Lotsenhaus vor dem direkten Wogensturm. Vergeblich lugen sie nach Hilfe aus. Ein schwedischer Schoner versucht, das Boot auszusenden, aber es misslingt viermal. Da reißt eine riesige Woge Suppen und Stall zugleich fort, Kühe und Schafe treiben blökend und brüllend vorüber, und nur das Pferd sucht schwimmend sich an jedem Baumzweig festzuhalten. In dieser höchsten Not umarmt der Lotse Weib und Kinder und streckt sich hin, den Tod erwartend. Das Haus schwankte, jede Woge kann es begraben. Aber – plötzlich lauscht des Lotsen sicheres Ohr auf – der Sturm hat sich gewendet, die See wird ruhiger, die Wasser wogen zurück, die Menschen sind gerettet. Jetzt brachte der Schwede alle aufs Trockene. Und auch das Pferd fanden sie wieder, an einem Häuflein Heu kauend, das ihm eine gutmütige Seele gereicht.

Auch in den Dörfern am Flensburger Busen kostete das Retten von Menschenleben Wagnis und Opfer. Das Fischerdorf Wenningbund, dessen zehn Häuser am Strande und auf den Wiesen zerstreut lagen, ist vom Erdboden verschwunden. Als das Hochwasser kam, packten die Leute ihre tragbare Habe in Säcke und Koffer und flüchteten mit dem Vieh auf die Böden. Aber das Wasser erreichte die Dächer auch hier. Unter größter Gefahr nahte ein Boot sich einem der Häuser. „Werft ein Stück Bettzeug ins Boot und dann das Kind!“ rief jemand hinauf. Als man das Würmchen hinlegte, war es still. Überschwer beladen gelang doch die Fahrt, und sie wurde, später von einem geretteten Schiffer geleitet, wiederholt, bis alle geborgen waren. Nur ein Man, der auch noch die Schafe retten wollte, versank mit ihnen in der Flut.

Aus einem anderen Dorf wird die Rettung von ein Paar alten Leuten erzählt. Kannten sie die Gefahr nicht, oder wollten sie sich von ihrem Heim nicht trennen? Man rief vergeblich, schlug endlich die Wand ein und fand sie im Schweinestall, wohin die Alten durch das Kuhhaus von ihrer Stube aus gelangen konnten: da saß die Alte – und strickte! Von kräftigen Armen wurde sie und ihr Mann, der aus seiner Stube und von seinem „Zeug“ mit Gewalt fortgerissen werden musste, in ein Boot getragen.

Der Erzähler dieser Flensburger Vorfälle schließt seinen ebenfalls von der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“ abgedruckten Brief so: „Aber, lieber E., was wirft das erzürnte Meer noch immer ans Land! Leichen, Wagen, tote Tiere, Kommoden mit Silber- und Wertsachen, Kasten mit Geld, Kleidungsstücke etc. etc. Zu Nennberg sollte ein neues Haus gebaut werden; jetzt schwimmt das Bauholz, Tausende von Thalern wert, im Flensburger Fjord. – So sieht es bei uns aus. Wie wird es werden? Bis jetzt hat man uns Deutschen in Nordschleswig noch nicht gezeigt, dass wir zum großen Ganzen gehören; wir haben das frostige Gefühl, Stiefkind zu sein; möge es bei dieser Gelegenheit besser werden!“-

Ist der letzte Vorwurf gerecht, kann kein Wunsch dringender sein als der: diesen Schmerzens- und Stiefkindern endlich das ganze Vaterland recht warm fühlbar zu machen!
Klima, Der Untergang des Ostseebades Niendorf im Fürstentum Lübeck

Klima, Der Untergang des Ostseebades Niendorf im Fürstentum Lübeck

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde_

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde_

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde

Klima, Zertrümmerte und gestrandete Schiffe im Hafen von Flensburg, 14. November 1872

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