Bemerkungen über Ostseebäder mit besonderer Beziehung auf Heiligendamm. Von Dr. med. Adolf Lange, Badearzt.

Wenn ich in nachstehenden „Bemerkungen“ unternehme, auf die besonderen Vorzüge hinzuweisen, welche das Seebad Heiligendamm dem Genesung Suchenden bietet, so möchte ich von vornherein den Gedanken ausgeschlossen wissen, als ob nur diesem Bade jene Vorzüge zukämen. Heiligendamm repräsentiert eine bestimmte Kategorie von Ostseebädern, die sich gleicher hervorragender Heilpotenzen rühmen können, der einen in geringerem, der anderen in reichlicherem Maße, die aber in ihrer Gesamtheit vorhanden sein müssen, um bestimmte, vom Arzte beabsichtigte Heilwirkungen zu erzielen.

Die Zeit liegt noch nicht lange hinter uns, wo der Gedanke, bestimmte Indikationen auch für den Gebrauch der Ostseebäder aufzustellen, sehr überflüssig erschienen wäre. Als Seebäder, von denen man einen Heilerfolg erwartete, galten nur die Nordseebäder; die Ostseebäder, — von dem ärztlichen sowohl wie von dem Laienpublikum als „viel zu schwach“ abgefertigt, — wurden, um mich eines oft zitierten Ausspruches zu bedienen, als Sommerfrischen angesehen, mit der angenehmen Zugabe, Bäder nehmen zu können. Auch jetzt ist dies Vorurteil noch lange nicht so, wie man nach den zahlreichen Publikationen über diese Streitfrage erwarten sollte, beseitigt. Immerhin ist aber doch zu konstatieren, dass die Ansicht von der Unwirksamkeit der Ostseebäder immer seltener hervortritt und dass das ernste Bestreben sich bemerkbar macht, für beide gleichberechtigten balneotherapeutischen Agentien bestimmte Indikationen aufzustellen. — Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass Derjenige, der Nord- und Ostsee aus eigener Anschauung kennt, a priori die Nordsee als das Meer par excellence bezeichnen und ihr dem gemäß auch allein oder doch mindestens hervorragend Heilwirkung zuschreiben wird. Fragen wir indes nach der Begründung dieser Ansicht, so werden wir sehen, dass sämtliche Heilfaktoren auch der Ostsee zukommen, nur in quantitativ verringertem, aber durchaus wirksamem Maßstabe.


Die Faktoren, denen wir die heilkräftige Wirkung des Seebades zuschreiben, sind:
a. Die Seeluft. Sie ist für die Seebade-Kur wesentlich bedingend, weil der Kranke ihrer Einwirkung (freien Zutritt derselben selbstverständlich vorausgesetzt) ununterbrochen ausgesetzt ist. Über die Einwirkung der Seeluft auf den Organismus, über die mannigfaltigen Hypothesen, wie und wodurch dieselbe zu Stande kommt, mich hier zu verbreiten, ist nicht meine Absicht. Ich will nur hervorheben, dass die relative Reinheit der Seeluft von kleinsten Lebewesen, wie sie nach neueren Untersuchungen jeder Luft, die über eine große Wasserfläche streicht, eigen ist, dass der geringe Gehalt an Kohlensäure, ihre größere Dichte, ihre größere relative Feuchtigkeit, die geringen Schwankungen ihrer Temperatur, ihr vermehrter Ozongehalt den Gestaden der beiden großen Seebecken in gleichem Maße zukommt, während die Nordseeluft eine stärkere Strömung, einen schnelleren Wechsel der Luftschichten und, in Folge der stärkeren Bewegung des Wassers und des größeren Salzgehaltes desselben, auch einen größeren Gehalt kleinster Salzteilchen aufweist. Es wird demgemäss die letztere stärker erregend auf Haut und Schleimhäute und dadurch stärker erregend auf die Gesamtkonstitution einwirken.

b. Das Seebad, dessen eingreifende Wirkung auf den Organismus im Gegensatz zu dem gewöhnlichen kalten Bade auf der niedrigeren Temperatur des Seewassers, der stärkeren Bewegung (Wellenschlag) und dem Salzgehalt beruht. Die mittlere Sommertemperatur beträgt für die Nordsee 16 bis 18° C, für die Ostsee 15—17° C.*), ist also für letztere nur wenig geringer, so dass dieser Faktor, soweit er auf die Allgemeinwirkung der Bäder Bezug hat, bei der Vergleichung nicht in Betracht kommt. Wesentlich anders verhält es sich mit der Bewegung des Wassers, die dem Nordseebade schon durch den, der Ostsee gänzlich fehlenden Wechsel der Gezeiten in bei weitem höheren Maße eigen ist. Der Körper des Badenden wird im Nordseebade bedeutend stärker getroffen, der mechanische Reiz, der auf die Haut, ihre Gefäße und die Nervenendigungen ausgeübt wird, ist ein viel größerer. Dieser starke Reiz wird noch erhöht durch den größeren Salzgehalt der Nordsee, der z. B. bei Norderney 3 Prozent, bei Heiligendamm dagegen 1,5 Prozent beträgt. Aber auch die Wellen der Ostsee fordern zu Zeiten den ganzen Widerstand des Badenden heraus, während man sehr selten, wenigstens an unseren Küsten, ein vollständig stilles Meer finden wird. Es wird danach auch hier die Wirkung auf den Organismus qualitativ gleich, im Ostseebade quantitativ geringer sein.

c. Der psychische Eindruck, den das Meer in seiner Unendlichkeit, in seiner Bewegung, in seinen Lichtreflexen hervorruft. Er ist im Wesentlichen der gleiche an beiden Gestaden, wie selbstverständlich auch die übrigen Faktoren, mit denen wir beim Gebrauch einer jeglichen Badekur rechnen: Die Versetzung in ganz neue Verhältnisse, das Losreißen von den Sorgen und Aufregungen des täglichen Lebens, die veränderte Diät, vollständig gleich sind.
Bei dem Gebrauch einer jeden Seebade-Kur verlangen wir ein gewisses Maß von Widerstandsfähigkeit von Seiten des Organismus, das selbstverständlich um so höher bemessen sein muss, je stärker der Eingriff seitens der Kur in den Stoffwechsel ist. Hieraus und aus dem vorhergegangenen Vergleiche ergibt sich zunächst, dass bei allen Krankheiten, bei denen überhaupt eine Seebade-Kur angezeigt erscheint, die stärkeren, widerstandsfähigeren Konstitutionen für die Nordsee geeignet sind. Die Ostsee wird für diejenigen Kranken indiziert sein, welche etwa in ihrem Ernährungszustand derart heruntergekommen sind, dass sie eine stärkere Anregung des Stoffwechsels nicht ertragen, oder bei welchen der Reiz, welchen das Seebad auf ihren Organismus ausübt, voraussichtlich zu stark sein und Überreizung mit ihren nachteiligen Folgen hervorrufen würde.
Sind wir somit zunächst auf dem Wege des Vergleichs zur Stellung einer Indikation für den Gebrauch des Ostseebades gelangt, aus der hervorgeht, dass beiden Meeren der gleiche Wert in unserem balneotherapeutischen Heilschatze zukommt, so möchte dieselbe erhärtet, resp. erweitert werden, wenn wir die Heilpotenzen, welche den Ostseebädern eigentümlich zukommen, in den Kreis unserer Betrachtung ziehen. Ich habe hier allerdings nur eine ganz bestimmte Gruppe von Badeorten im Auge und zwar diejenige, welche, wie Mettenheimer sie charakterisiert, an der Küste selbst gelegen, das offene Meer vor sich haben, gegen das Land aber von ausgedehnten Wäldern umsäumt sind.**) Es ist vor allen Dingen der „Wald, der diesen Orten ihr eigentümliches Gepräge und ihre hervorragende hygienische Bedeutung verleiht, und wie er in dieser Entwickelung nur an der Ostseeküste vorkommt. Während die über das Meer streichenden Winde reine, mit Feuchtigkeit gesättigte Luft zuführen, würden die Landwinde diesen Vorteil mehr als kompensieren, wenn sich nicht der Wald als wirksames Filtrum dazwischenschöbe. Dazu kommt ferner der Ozonreichtum der Waldluft, ihre reizmildernde Wirkung gegenüber der erregenden Seeluft. Der Wald gewährt den großen Vorteil, dass die notwendige Bewegung im Freien auch beim Vorherrschen stärkerer Luftströmungen für zartere Naturen nicht unterbrochen zu werden braucht; er gewährt Schutz, wenn das Auge, ermüdet von dem starken Lichtreflex des Wassers, sich nach Ruhe sehnt. Er verleiht überhaupt dem ganzen Orte gleichsam eine größere Abgeschlossenheit, die dem Genesung Suchenden die Illusion, alle Aufregungen des täglichen Lebens hinter sich gelassen zu haben, noch handgreiflicher macht. Durch den Wald werden manche Kuren erst ermöglicht, namentlich für die Naturen, bei denen der beständige Aufenthalt an der See zu reizend wirkt, und die erst durch die allmähliche Gewöhnung an die Seeluft in den durch den Genuss der Waldluft eintretenden Pausen einer erfolgreichen Kur zugeführt werden.



*) Leichtenstern, Allgemeine Balneotherapie, in Ziemssen, Handbuch der allgemeinen Therapie.
**) Mettenheimer, Ueber die liygieinische Bedeutung der Ostsee mit besonderer Berücksichtigung der Kinderheilstätten an den Seeküsten.