Nutzen des Badens in der Ostsee

Von wesentlichem Nutzen ist es ferner für den Gebrauch des Ostseebades, dass nicht allein fast täglich, sondern zu allen Tageszeiten gebadet werden kann, in Folge des Fehlens von Ebbe und Flut und des gleichmäßigeren Wellenschlages. Man kommt dadurch in die Lage, mehr individualisieren, dem Kräftigeren das kältere, erregendere Morgenbad, dem Schwächeren das wärmere, weniger eingreifende Vormittags- resp. Nachmittagsbad empfehlen zu können. Der gleichmäßige Wellenschlag spannt die Kräfte des Badenden nicht in zweckwidriger Weise an und führt dem Körper in kleineren Zwischenräumen neue Wassermassen zu. Die etwas kühlere Temperatur des Ostseewassers, hiermit zusammenwirkend, bedingt eine gleichmäßige, nicht stürmische Einwirkung auf den Organismus, die sich meistens dadurch noch nachhaltiger gestaltet, dass, mit aller gebotenen Vorsicht natürlich, ein etwas längerer Aufenthalt im Bade gestattet werden kann.

Die Szenerie des Ostseebades ist meistens eine solche, dass sie dem Auge freundliche Bilder darbietet. Man erblickt das Meer wohl in seiner Großartigkeit, aber nur selten in seiner ganzen Furchtbarkeit, der gegenüber der Mensch sich seiner Ohnmacht bewusst wird. Das Meerwasser mit seinen in allen Nuancen, vom tiefsten Blau bis zum hellsten Grün spielenden Farben, dazwischen das helle Weis der sich überschlagenden Wellen, bilden mit den grünen Wipfeln der umgebenden imposanten Buchenwälder ein Bild von hohem landschaftlichen Reiz, der in dem Beschauer nur die angenehmsten Eindrücke aufkommen lässt.


Das Ostseebad wird demnach wegen seines, durch die Kombination mit der Waldluft mild erregenden Klimas, wegen der gleichmäßigen, durch die kühle Temperatur und den Salzgehalt kräftigen, durch die gleichmäßige Folge der niedrigeren Wellen zu gleicher Zeit mäßig erregenden Wirkung, wegen des angenehm einwirkenden psychischen Eindrucks da indiziert sein, wo man mild tonisierend einwirken will, genauer ausgedrückt, wo es darauf ankommt, den geschwächten oder von Hause aus wenig widerstandsfähig veranlagten Organismus in schonender, der verringerten Widerstandskraft immer proportionalen Weise durch Anregung des Stoffwechsels im Sinne einer geregelten Anbildung ertragungs- und leistungsfähiger zu machen, sei es, dass jener Schwächezustand auf dem Gebiete der animalen oder der vegetativen Funktionen liegt.

Alle jene Vorzüge nun, welche wir oben für eine bestimmte Kategorie von Ostseebädern in Anspruch nahmen, finden wir in vollendetstem Maße in Heiligendamm vereinigt. Seine geographische Lage zunächst, im südwestlichen Teile des Ostseebeckens, bedingt einen stärkeren Salzgehalt des Wassers, sowie einen stärkeren, aber gleichmäßigen Wellenschlag. Das Terrain des eigentlichen Seebades ist eng begrenzt. Auf einem schmalen, durchschnittlich kaum 100 Meter breiten, von Nordosten nach Südwesten ziehenden Küstenstrich an einer weitgestreckten flachen Bucht erheben sich auf einer Strecke von ca. 1 Kilometer die isolierten Villen, die zur Aufnahme der Badegäste dienen, ferner die größeren Logier- und Kurgebäude. Während den Seewinden vollständig freier Zutritt gestattet ist, wird dieser schmale Landstrich nach der Landseite zu vollständig von einem dichten, hochstämmigen Buchenwalde abgeschlossen, der sich in unregelmäßigen Konturen meilenweit südlich ins Land zieht. Heiligendamm erfreut sich in Folge dessen einer vollständig reinen, feuchten Luft, welche schroffe Temperatursprünge durch den Einfluss des Waldes vermeidet und es zu einem klimatischen Kurort ersten Ranges erhebt. Ozono-metrische Bestimmungen; die ich im vorigen Jahre unternahm, sind noch nicht zum Abschluss gelangt, und behalte ich mir eine Veröffentlichung darüber, sowie über den relativen Feuchtigkeitsgehalt im Zusammenhang mit thermometrischen und barometrischen Angaben vor. Immerhin ergeben meine Messungen einen hohen und ziemlich gleichmäßigen Ozongehalt, dem die neueren Schriften über Seebäder, wie es scheint, mit Recht, die spezifischen Heilwirkungen der Seeluft, resp. ihre „Reinheit“ zuschreiben. Im Juni und Anfang Juli ist die Temperatur am gleichmäßigsten, während sie durch die Einwirkung der Seewinde nie eine exzessive Höhe erreicht; im Juli und August haben wir recht warme Tage zu verzeichnen, doch hat der Badegast nie das Gefühl der Erschlaffung. Im August sind häufiger Regentage zu verzeichnen, während mit Anfang September gewöhnlich wieder gleichmäßig gutes Wetter mit gleichmäßiger Temperatur eintritt. Durch diese Temperaturverhältnisse wird ein möglichst langer Aufenthalt im Freien außerordentlich begünstigt; zum möglichst ausgiebigen Genuss der Luft ist durch Anlage eines weit in die See hineingebauten, direkt über derselben befindlichen sog. Promenadensteges und durch sorgfältig gepflegte Wege und freie Plätze im Walde im reichlichsten Maße gesorgt. Außerdem ermöglichen die nach der See zu offenen Veranden der einzelnen Villen auch für ganz schwache Kranke den unbeschränkten Genuss der Seeluft und bieten, nebenbei bemerkt, den Vorzug, die an der nur wenige Schritte entfernten See spielenden Kinder beobachten zu können.

Die Temperatur des Seewassers zu Heiligendamm schwankt in den einzelnen Monaten. Badefähige Temperatur, 16—17° C, erlangt dasselbe häufig schon Ende Juni. Im Juli steigt dann die Durchschnitts-Temperatur auf 18° C, im August auf 20° C, um Ende August wieder abzusinken und bis über Mitte September hinaus die Juni-Temperatur sehr konstant beizubehalten. Die durchschnittlichen Werte sind für Heiligendamm dem gemäß etwas höher als die von Leichtenstern für die Ostsee angegebenen, und wird der Gebrauch des kalten Bades für eine lange Dauer ermöglicht.

Der Wellenschlag ist gleichmäßig; man zählt durchschnittlich 16—20 Wellen pro Minute; selten ist das Wasser ganz still und ebenso selten so stark bewegt, dass ein kurmäßiges Baden für einen Tag ausgeschlossen ist. Der Badestrand, — reiner Sand ohne Steine und Kraut, — fällt allmählich ab, so dass das Baden vollständig, auch für Kinder, gefahrlos ist, während auch die Schwimmer vollständig zu ihrem Recht kommen. Die Badeanstalten, Herren- und Damenbad an den entgegengesetzten Endpunkten des Badeorts gelegen, sind mustergültig eingerichtet und mit Stegen, Tauen, auch mit Sicherheitsapparaten in ausreichlichstem Maße versehen.

Als besondere Vorzüge von Heiligendamm möchte ich noch hervorheben:

a. Seine Eigenschaft als reiner Badeort. Heiligendamm enthält keine anderen Gebäude, als die zur Wohnung der Gäste und zum Wirtschaftsbetrieb nötigen. Es fehlen alle, zuweilen höchst unhygienischen Eigentümlichkeiten, wie sie einem Fischerdorfe oder einem kleineren Hafenorte notwendigerweise anhaften. Wohl mag für den Binnenländer, der neben der See auch das Treiben an der See kennen lernen will, ein gewisser Reiz verloren gehen, der in der Beobachtung des Treibens eines Fischerdorfes oder der vielgestaltigen Vorgänge, wie sie sich in einem Hafenorte abspielen, liegt; dafür entfällt aber auch Mancherlei, was mit jenem Betrieb unvermeidlich verbunden ist, und jedenfalls müssen die hygienischen Verhältnisse in einem Orte günstiger liegen, der quasi nur im Sommer bewohnt ist und für den alle sanitären Maßregeln in ausgiebigstem Maße getroffen werden können, als in einem Orte, der im Sommer und Winter einer größeren Einwohnerzahl zum Wohnorte dient. Dazu kommt als nicht zu unterschätzendes Moment die weit größere Ruhe und Abgeschiedenheit.

b. Die Unterbringung der Gäste in isolierten Villen. Wenngleich auch in Heiligendamm größere Baulichkeiten zur Unterbringung vieler Gäste, namentlich einzelner Personen und der sog. „Passanten“, vorhanden sind, so wohnen die Badegäste doch hauptsächlich in den Villen, in denen, je nach Bedarf und pekuniärer Rücksicht, 1, 2 bis 4 Familien in vollständig von einander getrennten Familienwohnungen, welche jede nach der See zu mit einer besonderen Veranda versehen sind. Platz finden. Die Villen gewähren im Vergleich zu den größeren Hotels eine bei weitem größere Ruhe und das Gefühl einer behaglichen Häuslichkeit; sie ermöglichen ein vollständig zwangloses Badeleben; wer die Seeluft nicht unmittelbar am Strande benutzen mag und kann, kann sich ihrer in derselben Reinheit einige Schritte vom Strande entfernt in seiner Veranda erfreuen.

Dass bei der hervorragenden Rolle, welche die warmen Seebäder bei einer Seebade-Kur spielen, für eine stattliche Anzahl geräumiger, mit großen Holzwannen und allem Komfort versehener Zellen zu warmen Seebädern gesorgt ist, ist so selbstverständlich, dass es kaum der Erwähnung bedarf. Unter den sonstigen Kurmitteln, welche eventuell die Seebade-Kur zu unterstützen geeignet sind, möchte ich noch hervorheben die Anwendung der Massage und Elektrotherapie in den dazu geeigneten Fällen und ferner noch bemerken, dass in dem nahe gelegenen, per Bahn in 15 Minuten zu erreichenden Stahlbade Doberan ein pneumatisches Kabinett zur Verfügung steht, und dass daselbst von Juni bis Ende September Gelegenheit geboten ist, schwedische Heilgymnastik unter Leitung des Herrn Professor Norlander aus Lund in Anwendung zu ziehen.


Es kann nicht meine Absicht sein, alle pathologischen Veränderungen hier aufzuzählen, bei welchen die eben geschilderten Kurmittel Heiligendamms, sei es mehr oder minder vereinigt, sei es vorwiegend das eine oder das andere, sich als wirksam erweisen. Ich möchte nur einzelne aus der ganzen Rubrik von Krankheitsformen hervorheben, bei welchen nach der oben gegebenen Auseinandersetzung die Ostseebäder vom Charakter Heiligendamms indiziert sind und bei welchen erfahrungsgemäß unser Bad seine Heilkraft entfaltet hat.

Weitaus das größte Kontingent der Genesung Suchenden stellen die „Nervenkranken“. Da nach Breuer*) durch die Thalassotherapie der Stoffwechsel des menschlichen Organismus eine wesentliche Alteration in der Art erfährt, dass durch die zunehmende Hautreizung eine größere Entlastung des Gehirns erfolgt, so ist von vornherein einleuchtend, dass man es durch die wechselnde Einwirkung der See- und Waldluft, eventuell durch sorgfältig überwachte Bäder so zu sagen in der Hand hat, wie stark man die gegebenen Reize einwirken lassen will. Bei sorgfältiger Individualisierung sind hier demgemäss bei diesen „nervösen“ Krankheiten, mögen sie nun unter dem Bilde der Neurasthenie, der reizbaren Schwäche, der Hysterie oder Hypochondrie, des nervösen Kopfschmerzes und der nervösen Dyspepsie oder einfach der nervösen Abspannung und Schwäche auftreten, die besten Erfolge erzielt. Daran reihen sich die funktionellen Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die Neurosen, die Neuralgien und die peripheren Lähmungen, von letzteren namentlich diejenigen, welche nach Infektionskrankheiten, wie Typhus,
Ruhr, Diphtherie, aufgetreten sind.



*) S. Breuer, Über die hygienische und therapeutische Bedeutung der Seehospize, 1886.