Kapitel Schahko Matto -16-



Wie oft bin ich zu einer bestimmten Handlung fest und unerschütterlich entschlossen gewesen und habe sie dennoch ohne jeden sichtbaren oder in mir liegen den Grund unterlassen. Wie oft habe ich im Gegenteile etwas gethan, was nicht im entferntesten in meinem Wollen lag. Wie oft ist mein Verhalten ganz plötzlich und ohne alle Absicht ganz anders geworden, als es in der Logik meines Wesens begründet gewesen wäre. Das war das Ergebnis eines Einflusses von außer mir her, der stets die besten Folgen hatte, sobald und so oft er sich geltend machte. Wie oft habe ich nach einem von mir selbst herbeigeführten Ereignisse dennoch voller Verwunderung dagestanden, wie oft nach einem von mir angestrebten Erfolge dennoch sagen müssen: „das habe nicht ich, sondern das hat Gott gethan!“ Wie oft hat eine mir ganz fremdartige Idee meine Gedankenfolge unterbrochen und sie in eine mir bisher ganz unbekannte Richtung gelenkt. Wie oft bin ich vor Personen, welche mir sympathisch waren, und vor Verhältnissen und Lagen, die ich geradezu herbeigesehnt hatte, durch einen – ich will mich ausdrücken: – geistigen Anhauch gewarnt worden, der sich dann, wenn ich mich von ihm leiten ließ, als nur zu begründet erwies. Wie oft habe ich Situationen, an welche nach menschlichem Ermessen in meinem ganzen Leben nicht zu denken war, voraus empfunden, voraus durchlebt und dann, wenn sie sich genau nach diesem Seelenbild einstellten, zu meinem dankbaren Erstaunen einsehen müssen, daß mit diesem Vorausgefühle mein Vorteil, ja mein Heil bezweckt gewesen war.


Was für eine von meiner Individualität vollständig getrennte Intelligenz, für eine außer mir liegende Macht kann es aber wohl gewesen sein, welche so in, mit und über mir waltete, mich mahnte, warnte und als sogenanntes böses Gewissen strafte, wenn sie mich unaufmerksam oder gar ungehorsam gefunden hatte? Weder Instinkt noch Zufall kann es sein, sondern Gottes Engel ist es, der mir vom Herrn der Heerscharen beigegeben wurde, mein Führer, Mahner und Berater zu sein. Als ich in meiner Schülerzeit durch den vielgenannten „Zufall“, den es für mich nicht giebt, aus einer großen Gefahr errettet worden war, schrieb ich einige Zeilen in mein Tagebuch, welche noch unter dem Eindrucke der Todesangst entstanden und nicht dichterisch abgefeilt worden sind. Sie haben also nicht den geringsten poetischen Wert; da ich mich aber noch heut, wo ich von meinem Schutzengel spreche, zu ihnen bekenne, so will ich mich erkühnen, ihnen hier einen Platz zu geben:

Es giebt so wunderliebliche Geschichten,

Die bald von Engeln, bald von Feen berichten,

In deren Schutz wir Menschenkinder stehn.

Man will so gern den Worten Glauben schenken

Und tief in ihren Zauber sich versenken,

Denn Gottes Odem fühlt man daraus wehn.

So ist’s in meiner Kindheit mir ergangen,

In welcher oft ich mit erregten Wangen

Auf solcherlei Erzählungen gelauscht,

Dann hat der Traum die magischen Gestalten

In stiller Nacht mir lebend vorgehalten,

Und ihre Flügel haben mich umrauscht.

Fragt auch der Zweifler, ob’s im Erdenleben

Wohl könne körperlose Wesen geben,

Die für die Sinne unerreichbar sind,

Ich will die Jugendbilder mir erhalten

Und glaub an Gottes unerforschlich Walten

Wie ich’s vertrauensvoll geglaubt als Kind.

Ich weiß, daß ich als Schriftsteller mit diesen achtzehn Zeilen eine große litterarische Sünde begehen würde; aber ich meine, in der letzten Viertelstunde nicht geschriftstellert, sondern als Mensch, als wohlmeinender Freund zu meinen Lesern gesprochen zu haben, und Reime aus der Knabenzeit eines Freundes pflegt man doch überall mit kritikloser Güte und mild lächelnder Nachsicht aufzunehmen. Ich bitte auch für mich um diese Schonung!

Also mein Schutzgeist hatte mich bei Harbour grad so wie auf Fenners Farm vom Tode errettet, und ich saß nun wieder auf dem Stuhle, auf welchem mich die Kugel des Medizinmannes hatte treffen sollen. Die Gemüter hatten sich noch nicht beruhigt, und der Zwischenfall wurde mit, ich möchte sagen, urwüchsiger Lebhaftigkeit besprochen. Das größte Interesse für das unerwartete Auftreten von Tibo taka und Tibo wete mußte natürlich Apanatschka haben, der beide für seine Eltern gehalten hatte und trotz meiner Widerlegung wohl auch jetzt noch hielt. Außer Winnetou und mir sprach man von allen Seiten auf ihn ein, doch ohne eine andere Antwort als ein stilles Kopfschütteln von ihm zu hören. Mir und dem Häuptling der Apatschen war das sehr verständlich. Was hätte er auch antworten oder sagen sollen! Wir waren alle auf das Tibo-Paar nicht gut gesinnt; er konnte sie weder verteidigen, noch lagen für ihn die nötigen Beweise vor, sich von ihnen loszusagen; also konnte er nichts anderes und besseres thun als schweigen, und das that er denn auch gründlich.

Die andern ergingen sich in hunderterlei Vermutungen über den Ritt des Medizinmannes und seiner Frau hierher nach Kansas. Sie tauschten ihre Meinungen aus über den Grund, den Zweck und das Ziel dieses Rittes; natürlich traf niemand das Richtige. Es machte Winnetou und mir Spaß, zu sehen und zu hören, wie sie ihren Scharfsinn anstrengten und sich miteinander stritten und dabei einer den andern auf den Irrweg führen wollte, auf dem er sich selbst befand. Wir hiel ten es nicht für notwendig, sie so weit aufzuklären, wie wir selbst es waren, und so mußten sie sich endlich mit unserer Versicherung begnügen, daß wir morgen dem Medizinmanne folgen und also bald Aufklärung bekommen würden über alles, was uns heut noch unklar sei.

Da wir frühzeitig fort wollten, wurden in der Stube die Lager für uns bereitet. Ich traute Tibo taka doch nicht recht; es war immerhin möglich, daß er auf den Gedanken kam, während der Nacht zurückzukehren und irgend etwas für uns Schädliches auszuführen. Darum wollte ich den Postendienst unter uns heute in derselben Weise ausgeführt wissen, wie er gebräuchlich war, wenn wir des Nachts im Freien kampierten; Harbour aber sträubte sich dagegen und sagte:

„Nein, Sir, das dulde ich nicht. Ihr seid unterwegs und wißt nicht, was Euch begegnen kann. Es kann sein, daß Ihr eine ganze Reihe von Nächten nicht ruhig schlafen könnt; schlaft Euch also heut hier bei mir tüchtig aus! Ich habe Cow-boys und Peons, welche den Wachtdienst sehr gern für die große Ehre, Euch gesehen zu haben, übernehmen werden.“

„Wir sind Euch natürlich sehr dankbar für dieses Anerbieten, Mr. Harbour,“ antwortete ich. „Wir nehmen es an, doch unter der Voraussetzung, daß diese Leute ihrer Aufgabe nicht lässig, sondern so obliegen, wie unsere Lage es erfordert.“

„Das ist doch ganz selbstverständlich. Wir wohnen und leben hier in einer Art von Halbwildnis und sind es also gewohnt, aufmerksam zu sein. Uebrigens handelt es sich ja nur um einen einzigen Menschen, der noch dazu aus Angst vor Euch heimlich ausgerissen ist; seine Squaw ist gar nicht zu rechnen; dem würden meine Leute, falls er so frech wäre, zurückzukehren, das Fell so aushauen, daß kein Gerber noch Arbeit daran finden würde. Ihr könnt Euch also ruhig schlafen legen.“

Das thaten wir denn auch; vorher aber ging ich noch einmal hinaus nach dem Korral, um nach den Pferden zu sehen.

Der Farmer hatte ja wohl nicht unrecht; es handelte sich nur um den Medizinmann, der übrigens auch schon durch die Anwesenheit seiner Frau verhindert wurde, etwas gegen uns auszuführen; aber es lag eine Unruhe in mir, die mich am Einschlafen hinderte. Es drängte sich mir wieder und immer wieder der Vergleich des heutigen Tages mit dem Tage auf Fenners Farm auf, und ich kam dabei wieder und immer wieder auf den Gedanken: nun fehlt bloß noch ein Ueberfall!

So kam es, daß ich spät einschlief und dann von einem quälenden Traume, dessen Inhalt mir heut nicht mehr erinnerlich ist, so beängstigt wurde, daß ich froh war, als ich bald wieder aufwachte. Ich stand auf und ging leise, um keinen der Schläfer zu wecken, hinaus. Die Sterne schienen; man konnte ziemlich weit sehen. Ich ging wieder nach dem Korral, in welchem zwei Peons die Wache hatten.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte ich, als ich die Gatterthür hinter mir wieder zugezogen hatte.

„Ja,“ wurde mit geantwortet.

„Hm! Mein und Winnetous Rappe pflegen des Nachts zu liegen; jetzt stehen sie; das gefällt mir nicht.“

„Sie sind eben erst aufgestanden, wohl weil Ihr gekommen seid.“

„Deshalb gewiß nicht. Wollen einmal sehen!“

Ich ging zu den beiden Pferden. Sie hielten die Köpfe nach dem Hause gerichtet; ihre Augen leuchteten beunruhigend, und nun sie mich kommen sahen, schnaubten beide. Das war eine Wirkung ihrer sorgfältigen Erziehung. Sie waren gewöhnt, sich in Abwesenheit ihrer Herren selbst beim Nahen einer Gefahr lautlos zu verhalten, waren ihre Herren aber da, diese Gefahr ihnen durch Schnauben anzuzeigen. Sie hatten eine Gefahr gewittert und waren aufgestanden, aber still gewesen, weil ich mich nicht bei ihnen befand; nun ich aber da war, warnten sie mich. Ich ging zu den Wächtern zurück und sagte:

„Es liegt etwas in der Luft; was, das weiß ich nicht. Nehmt euch in acht! Es sind Menschen in der Nähe des Hauses, ob Freunde oder Feinde, das wird sich zeigen. Man sieht sie nicht; sie haben sich versteckt; Freunde aber brauchen sich nicht zu verbergen. Entweder stecken sie dort hinter den Büschen, oder sie liegen schon näher im hohen Grase.“

„Teufel! Es werden doch nicht etwa die Tramps sein, wegen denen Bell nach dem Nord-River geritten ist?“

„Das wird sich zeigen. Es ist besser, selbst die erste Note zu spielen, anstatt zu warten, bis der Feind beginnt, den Bogen zu streichen. Ah, dort, grad der Hausthür gegenüber, hob sich jetzt etwas aus dem Grase; ich kann also nicht in die Stube, werde aber die Gefährten wecken. Habt ihr eure Gewehre?“

„Ja, dort lehnen sie.“

„Nehmt sie, um den Eingang zu verteidigen; schießt aber nicht eher, als bis ich es euch sage!“

Ich legte beide Hände hohl an den Mund und ließ dreimal den Schrei des Kriegsadlers erschallen, so laut, daß er gewiß eine halbe englische Meile weit zu hören war. Nur einige Sekunden später ertönte derselbe Schrei auch dreimal drin in der Stube. Das war die Antwort Winnetous, welcher die warnende Bedeutung meines Schreies sehr gut kannte. Ebenso kurze Zeit darauf sah ich viele, viele dunkle, Gestalten aus dem Grase aufspringen, und die Luft erzitterte unter einem Geheul, in welchem ich das Angriffszeichen der Cheyenne-Indianer erkannte.

Was wollten diese hier? Warum waren sie aus dem Quellgebiet des Republican-River so weit herabgekommen? Sie wollten die Farm überfallen, hatten also ihre Kriegsbeile auch ausgegraben, grad wie die Osagen. Wir hatten sie nicht zu fürchten, denn wir standen nicht nur in Frieden mit ihnen, sondern waren sogar ihre Freunde. Man braucht sich nur daran zu erinnern, was Schahko Matto dem alten Wabble unter dem „Baume der Lanze“ von Winnetou erzählte. Dieser hatte sich an die Spitze der Cheyennes gestellt und mit ihnen das Lager der Osagen erobert; sie waren ihm also großen Dank schuldig. Ich war zwar nicht mit dabei gewesen, aber es konnte doch kein Indianer Winnetous Freund und dabei der Feind Old Shatterhands sein. Also war ich sofort beruhigt, als ich aus dem Kriegsgeheul erkannte, daß die Angreifer Cheyennes seien.

Eigentümlich war es, daß sie nicht zunächst und vor allen Dingen nach Indianerart über die Pferde herfielen. Der Angriff schien einstweilen nur gegen das Haus gerichtet zu sein, was auf eine ganz besondere Ursache schließen ließ. Wir brauchten den Korral nicht zu verteidigen, denn kein einziger Roter kam herbei; ich sah sie alle vor dem Hause stehen. Sie hatten jedenfalls beabsichtigt, sich heimlich nach der Thür zu schleichen, diese einzuschlagen und dann in das Gebäude einzudringen, waren aber durch meinen Adlerschrei daran verhindert worden, weil die Bewohner durch denselben geweckt worden waren. Der Ueberfall war mißlungen.

Ich war höchst neugierig auf das, was nun geschehen würde. Sie konnten nicht in das Haus und waren so unvorsichtig, vor demselben stehen zu bleiben. Dachte denn keiner von ihnen daran, daß die drin befindlichen Männer durch das Fenster schießen würden? Sie bildeten, noch immer heulend und brüllend, vor der Front des Gebäudes einen Halbkreis, welcher von einer Ecke bis zur andern reichte. Als dies geschehen war, trat tiefe Stille ein. Wie ich meinen Winnetou kannte, war ich überzeugt, daß er jetzt sprechen würde. Und wirklich, es geschah. Er hatte die Thür geöffnet, war furchtlos in dieselbe getreten und rief mit seiner sonoren Stimme:

„Es ertönt das Kriegsgeschrei der Cheyennes. Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apatschen, der die Pfeife der Freundschaft und des Friedens mit ihnen geraucht hat. Wie heißt der Anführer der Krieger, welche ich vor mir sehe?“

Vom Halbierungspunkte des Halbkreises her antwortete eine Stimme:

„Hier ist Witsch Panahka 25) der Anführer der Cheyennes.“

„Winnetou kennt alle hervorragenden Krieger der Cheyennes, doch befindet sich darunter keiner, der Witsch Panahka heißt. Seit wann ist der, welcher sich so nennt, ein Häuptling der Seinen?“

„Das braucht er nur dann zu sagen, wenn es ihm beliebt!“

„Beliebt es ihm jetzt?“

„Nein.“

„Warum nicht? Hat er sich seines Namens, oder hat dieser Name sich seiner zu schämen? Warum kommen die Cheyennes unter Kriegsgeschrei an dieses Haus? Was wollen sie hier?“

„Wir wollen Schahko Matto, den Häuptling der Osagen, haben.“

„Uff! Woher wissen sie, daß dieser sich hier befindet?“

„Auch das brauchen sie nicht zu sagen.“

„Uff, uff! Die Cheyennes scheinen nur brüllen aber nicht reden zu können! Winnetou ist gewöhnt, Antwort zu bekommen, wenn er fragt. Gebt ihr ihm keine, so tritt er in das Haus zurück und wartet ruhig ab, was dann geschieht.“

„Wir werden das Haus erstürmen!“

„Versucht es! Wir haben Gewehre.“

„Wir werden es verbrennen!“

„Seht zu, daß es euch nicht zu heiß wird dabei!“

„Wir verlangen Schahko Matto, den Osagen. Gebt ihn heraus, so ziehen wir weiter!“

„Es wird für die Cheyennes besser sein, wenn sie gleich weiterziehen, ohne abzuwarten, ob sie ihn bekommen!“

„Wir gehen nicht eher fort, als bis wir ihn haben. Wir wissen, daß Winnetou und Old Shatterhand sich in diesem Hause befinden; auch ist ein junger Krieger drin, welcher Apanatschka heißt; er soll uns ausgeliefert werden.“

„Wollt ihr Schahko Matto töten?“

„Ja.“

„Und Apanatschka auch?“

„Nein; es wird ihm nichts geschehen. Es ist jemand hier, der mit ihm reden will. Dann kann er dahin gehen, wohin es ihm beliebt.“

„Er wird nicht kommen und Schahko Matto auch nicht.“

„So müssen wir Winnetou und Old Shatterhand als unsere Feinde betrachten und sie töten!“

„Versucht, ob ihr das fertig bringt!“

„Winnetou ist mit Blindheit geschlagen. Sieht er nicht, daß hier über achtmal zehn Krieger stehen? Was können alle, die sich in dem Hause befinden, gegen uns machen, wenn wir es erstürmen? Sie werden alle miteinander des Todes sein. Wir geben dem Häuptling der Apatschen eine Stunde Zeit, sich mit Old Shatterhand zu beraten; ist diese vergangen, ohne das Schahko Matto und Apanatschka uns ausgeliefert worden sind, so werdet ihr alle sterben müssen. Howgh!“




25) Eisernes Messer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand III