1. Kapitel Bei Mutter Thick -16-



Wieder ging es vorwärts. Die Tageshelle verschwand schnell, da es in jenen Gegenden eine nur sehr kurze Dämmerzeit giebt, und noch war nicht viel über eine halbe Stunde vergangen, so hatte sich die Dunkelheit des Abends über die weite Prairie gesenkt, und die Sterne begannen, ihre matten Strahlen herabzusenden. Ein wenig Mondesschein wäre den Reitern für jetzt willkommen gewesen; da er aber später die Annäherung an die Indianer erschwert hätte, so war es ihnen ganz recht, daß der nächtliche Beleuchter der Erde sich eben in einer dunklen Phase befand und keine Spur seines magischen Schimmers bemerken ließ.


Bei dem durchdringenden Lichte, welches die amerikanischen Maschinen bei sich führen, war das Nahen des Zuges bei der Ebenheit des Terrains auf eine Entfernung von mehreren Meilen bemerklich; es mußte also eine Strecke zurückgelegt werden, welche diese Tragweite des Lichtes überstieg; darum ließ Dik Hammerdull seine Stute weit ausgreifen, und die andern folgten wortlos seiner Führung.

Endlich hielt er an und sprang vom Pferde, und die drei Begleiter thaten dasselbe.

„So!“ meinte er; „ich denke, daß der Vorsprung nun groß genug ist. Fesselt die Tiere, und sucht ein wenig trocknen Grases zu finden, damit wir ein Zeichen geben können!“

Dem Gebote wurde Folge geleistet, und bald war ein Haufen dürrer Halme beisammen, welche sich mit Hilfe von einigem aufgestreuten Pulver leicht in Brand stecken ließen.

Auf ihre Decken gelagert, lauschten nun die Männer in die stille Nacht hinein und verwandten fast kein Auge von der Richtung, aus welcher der Zug zu erwarten war. Die beiden Deutschen konnten sich zwar alles wohl denken, was geschehen sollte, waren aber in dem Leben des wilden Westens zu unerfahren, als daß sie an eine Unterbrechung der herrschenden Schweigsamkeit hätten denken wollen und ließen daher die zwei Jäger ruhig gewähren. Außer dem Geräusch, welches die grasenden Pferde verursachten, war rings kein Laut zu hören, als höchstens das leise Knispern eines auf Raub ausgehenden Deckflüglers, und die Minuten dehnten sich zu einer immer peinlicher werdenden Länge.

Da, nach einer kleinen Ewigkeit, blitzte in weiter, weiter Ferne ein Licht auf, erst klein und kaum wahrnehmbar, nach und nach aber immer größer werdend und an Intensität gewinnend.

„Pitt Holbers, was sagst du zu dem Johanniswurm da vorn, he?“ fragte Hammerdull.

„Hm, dasselbe, was du schon gesagt hast, Dik Hammerdull!“

„Wohl die klügste Ansicht, die du in deinem ganzen Leben gehabt hast, altes Coon! Ob es die Lokomotive ist oder nicht, das bleibt sich gleich, aber so viel ist sicher, daß der Augenblick des Handelns bald gekommen ist. Heinrich Sander, wenn der Zug naht, so schreiet Ihr, so laut Ihr könnt, und auch Ihr, Peter Wolf – verdammt miserabler Name; er reißt einem ja den Mund entzwei! – Ihr macht Lärmen und Hallo nach Herzenslust. Das übrige werden wir schon selbst besorgen!“

Er nahm das Gras zur Hand, welches er zu einer langen, starken Lunte zusammengedreht hatte, und schüttete das Pulver auf. Dann zog er seinen Revolver aus dem Gürtel.

Jetzt machte sich das Nahen der Wagen durch ein immer vernehmlicher werdendes Rollen bemerklich, welches nach und nach zu einem Geräusche anwuchs, das dem Grollen eines entfernten Donners glich.

„Streck’ deine ewigen Arme aus, Pitt Holbers, thue die Meilenlippen auseinander und brülle, so laut es geht, altes Coon. Der Zug ist da!“ rief Hammerdull, indem er zugleich besorgt nach den Pferden blickte, welche bei dem ungewohnten Phänomen schnaubend und stampfend an den Riemen zerrten, mit denen sie an die Erde befestigt waren.

„Peter Wolf – der Teufel hole diesen holprigen Namen! – paßt auf, daß uns die Tiere nicht fortgehen. Schreien könnt Ihr dabei ja auch!“

Der Augenblick war gekommen. Einen blendenden Lichtkeil vor sich herwerfend, brauste der Zug heran. Hammerdull hielt den Revolver an die Lunte und drückte los. Im Nu flammte das Pulver auf und brachte das dürre, ausgetrocknete Gras in glimmenden Brand. Die Lunte kräftig schwingend, versetzte er sie in helle Flamme und rannte, von ihrem flackernden Lichte hell beleuchtet, dem Zuge entgegen.

Der Maschinist mußte das Zeichen durch die Glastafel des Wetterschutzes sofort bemerkt haben, denn schon nach den ersten Schwingungen des hochlodernden Brandes ertönte ein sich rasch und scharf wiederholender Pfiff, fast in demselben Augenblicke wurden die Bremsen angezogen, die Räder knirschten und schrieen in der Hemmung, und mit donnerndem Dröhnen flog die lange Wagenreihe an den vier Männern vorüber, die dem seine Geschwindigkeit nun zusehends verringernden Zuge nachsprangen.

Endlich hielt er. Ohne zunächst die sich von ihren erhöhten Plätzen herabbeugenden Beamten zu beachten, eilte Hammerdull trotz seiner Dicke an den Wagen vorbei bis vor die Lokomotive, warf seine Decke, welche er vorhin von der Erde aufgerafft hatte, vorsorglich über die Laternen und Reflektors und rief zu gleicher Zeit mit möglichst lauter Stimme:

„Lichter aus – macht den Zug dunkel!“

Sofort verschwanden alle Laternen. Die Angestellten an der Pacificbahn sind geistesgegenwärtige und schnell gefaßte Leute. Sie konnten sich denken, daß der Ruf seinen guten Grund habe, und folgten ihm augenblicklich.

„’sdeath!“ rief es nun von der Maschine herab; „warum verdeckt Ihr unsre Flamme, Mann? Ich hoffe nicht, daß da vorn irgend etwas los ist! Wer seid Ihr, und was hat Euer Signal zu bedeuten?“

„Wir müssen im Finstern sein, Sir,“ antwortete der umsichtige Trapper, „es sind Indsmen vor uns, und ich glaube sehr, daß sie die Schienen aufgerissen haben!“

„Alle Teufel! Wenn dem so ist, so seid Ihr der bravste Kerl, der jemals durch dieses verfluchte Land stolperte!“

Zur Erde herabspringend, drückte er ihm die Hand und gebot, die Wagen zu öffnen.

Nach kaum einer Minute waren die Jäger von einer Menge Neugieriger umringt und mußten sich fast wundern über die bedeutende Anzahl von Leuten, welche den Coupés entstiegen, um sich über die Ursache des Aufenthaltes zu unterrichten.

„Was ist los? Was giebt es? Warum halten wir?“ rief es von allen Seiten.

In kurzen Worten erklärte Hammerdull die Verhältnisse und brachte dadurch eine nicht geringe Aufregung unter den Anwesenden hervor.

„Gut, sehr gut!“ rief der Ingenieur. „Zwar bringt das eine Störung im Betriebe hervor, aber das hat nichts zu sagen gegen die prächtige Gelegenheit, den roten Halunken einmal eins auf das Fell zu brennen. Das ist in kurzer Zeit das dritte Mal, daß sie es wagen, grad auf dieser Strecke Züge zu überfallen und auszurauben, und allemal sind es die verdammten Ogellallahs gewesen, dieser verteufeltste Stamm der Sioux, denen die Wildheit und Feindseligkeit nur durch eine gute Kugel ausgetrieben werden kann. Heut’ aber sollen sie sich geirrt haben und ihren Lohn gleich in ganzer Summe erhalten! Jedenfalls haben sie geglaubt, daß dieser Zug wie gewöhnlich viele Güter und nur fünf bis sechs Leute mit sich führe. Glücklicherweise aber haben wir einige Hundert Arbeiter geladen, die für den Brücken- und Viaduktenbau droben in den Mountains bestimmt sind, und da diese braven Leute fast alle Waffen bei sich tragen, so wird uns die Sache gar nicht schwer werden und nur einigen Spaß bereiten!“

Er stieg zunächst wieder auf die Maschine, um die überflüssigen Dämpfe abzulassen, welche mit gellendem Zischen den Ventilen entströmten und die Umgebung des Wagens in eine weiße Wolke hüllten. Dann sprang er herab, um Revue über die ihm zu Gebot stehenden Kräfte zu halten, und fragte:

„Zunächst sagt mir einmal, wie Ihr Euch nennt, Mann? Ich muß doch wissen, wem ich die glückliche Warnung zu verdanken habe.“

„Mein Name ist Hammerdull, Sir, Dick Hammerdull, so lange ich lebe!“

„Schön! Und der andre hier?“

„Wie der hei?t, das bleibt sich gleich, aber da er zufällig auch einen Namen hat, so schadet es keinem Menschen etwas, wenn Ihr ihn erfahrt. Er nennt sich Pitt Holbers, Sir, und ist ein Kerl, auf den man sich verlassen kann.“

„Und die beiden andern – dieser da und der dort bei den Pferden?“

„Das sind zwei Männer aus Germany da drüben herüber, Sir, und heißen Heinrich Sander – Harry würde viel besser klingen – und – verdammt miserabler Name! – Peter Wolf. Sprecht die beiden Worte ja nicht aus, Sir, denn Ihr werdet das Genick dabei brechen!“

„Well!“ lachte der Beamte. „Es ist nicht jede Zunge so commodious wie die Eurige, Master Hammerdull!“

„Hammerdull? Dick Hammerdull?“ rief da eine tiefe, kräftige Stimme, und ein Mann drängte sich durch die Umstehenden herbei. „Welcome, altes Coon! Dachte dich erst in ‚Hide-spot‘ zu treffen und muß hier an dich rennen! Welche Angelegenheit hat dich herausgetrieben?“

„Was mich herausgetrieben hat, Colonel, das bleibt sich gleich, aber ich habe mir ein wenig Pulver, Blei und Tabak geholt. Der lange Pitt ist mitgegangen, wißt’s schon, Colonel, zu Master Winklay, dem Irishman, und haben da zwei aus Germany mitgebracht, die Sam Fire-gun, nämlich Euch, gern sehen wollen.“

„Sam Fire-gun!“ rief der Maschinist, auf den Fremden zutretend. „Seid Ihr das wirklich, Sir?“

„Man nennt mich so!“ klang kurz und einfach die Antwort. Der Sprecher war ein Mann von wahrhaft riesigen Körperformen, wie man trotz der Dunkelheit zu erkennen vermochte. Er trug die gewöhnliche Trapperkleidung. Die Umstehenden hatten sich beim Nennen seines Namens wie ehrerbietig um ein weniges zurückgezogen.

„Good lack, Sir, dann haben wir ja ganz den richtigen Mann bei uns, dem wir das Kommando übergeben können. Wollt Ihr die Sache übernehmen?“

„Wenn es die Gentlemen alle zufrieden sind, warum nicht!“

Ein allgemeiner Ruf der Zustimmung ließ sich ringsum vernehmen. Diesem berühmten Jäger, dem Hunderte einmal zu begegnen wünschten, ohne ihren Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, und der hier so unerwartet inmitten der Leute stand, konnte und mußte man den Oberbefehl mit vollständigem Vertrauen übergeben.

„Natürlich sind sie es zufrieden. Trefft also Eure Maßregeln so schnell wie möglich! Wir haben keine Zeit zu verlieren und dürfen die roten Mesch’schurs nicht lange auf uns warten lassen,“ sagte der Ingenieur.

„Well, Sir, nur laßt mich erst einige Worte mit diesem Manne hier sprechen! Dick Hammerdull, wer aus dem ‚Hide-spot‘ ist noch bei euch beiden?“

„Keiner, Colonel! Die andern sind daheim oder hinauf in die Berge.“

„Muß aber doch noch einer bei Euch sein, Dick, denn so wie ich dich kenne, so bist du nicht von den Roten fortgelaufen, ohne ihnen einen Watchman, einen Wächter, hinzustellen.“

„Wie ich fortgelaufen bin, das bleibt sich gleich, aber wenn Ihr den Dick Hammerdull für so dumm gehalten hättet, nicht an den Watchman zu denken, so hättet Ihr Euch verdammt geirrt in ihm, Colonel! Es steht einer da, wie es keinen bessern giebt.“

„Wer ist’s?“

„Wie es keinen bessern giebt, Sir, habe ich gesagt, und das ist genug, denn es giebt nur einen einzigen, von dem sich in dieser Weise reden läßt. Sein Gaul liegt einen kleinen Ritt weit hinter ihm und wartet, bis er abgeholt wird.“

„Sein Gaul – wartet? Dick Hammerdull, das könnte allerdings nur ein einziger sein, und dieser heißt Winnetou.“

„Erraten, Colonel, erraten! Der Apatsche traf uns da unten bei dem Irishman und warnte uns. Er hat die Spur der Ogellallahs verfolgt und ist vorhin wieder zu uns gestoßen.“

„Winnetou, der Häuptling der Apatschen?“ fragte der Maschinist, während ein Gemurmel der Befriedigung durch die Menge der andern lief. „Heigh-day, ist das heut ein Zusammentreffen! Der Mann ist ja ganz allein ein Stämmchen Jäger wert, und wenn er auf unsrer Seite steht, so werden wir die roten Schufte heimschicken, daß sie an uns denken sollen. Wo steht er?“

„Ob er steht oder nicht, Sir, das bleibt sich gleich, aber er liegt ganz nahe bei den Indsmen auf der linken Seite des Schienenweges. Es muß dort noch alles in Ordnung sein, sonst wäre er hier, um zu warnen.“

„Gut,“ meinte Sam Fire-gun, „so will ich Euch nun meine Meinung sagen: Wir bilden zwei Abteilungen, welche zu beiden Seiten der Bahn sich an die Indianer schleichen. Die eine führe ich, die andre, hm, Sir, geht Ihr mit?“

„Versteht sich!“ meinte der Ingenieur. „Zwar darf ich eigentlich meinen Posten nicht verlassen, aber ich mag doch nicht umsonst ein Paar gesunde Fäuste besitzen, und der Heizer hier ist Manns genug, einstweilen meine Stelle zu vertreten. Ich würde es auf dem alten Feuerkasten nicht aushalten können, sobald ich eure Büchsen knallen hörte, und gehe also mit!“ Und sich zu seinem Personale wendend, fuhr er fort: „Ihr bleibt bei den Wagen, und gebt wohl acht; man weiß zuweilen nicht, was passieren kann. – Tom!“

„Sir!“ antwortete der Feuermann.

„Du verstehst ja, mit der Maschine umzugehen. Damit wir nicht erst wieder zurückzugehen brauchen, kommst du, sobald du ein Feuerzeichen erblickst, mit dem Zuge nach. Aber langsam fährst du, so langsam und vorsichtig wie möglich, denn es wird jedenfalls am Geleise auszubessern geben! – Was aber den andern Anführer betrifft, Master Fire-gun, so hoffe ich nicht, daß Ihr grad mich in Vorschlag bringen wollt. Ich will gern mitthun, ja, aber ein Westmann bin ich nicht. Sucht Euch also einen andern, dem Ihr die Stelle geben könnt!“

„Gut, Sir,“ nickte Sam Fire-gun; „ich wollte Euch nicht gern vernachlässigen; aber ich weiß hier einen, der seine Sache ebenso gut machen wird, wie ich die meine, und Ihr könnt ihm deshalb Eure Männer ruhig anvertrauen. Dick Hammerdull, was meinst du?“

„Was ich meine, das bleibt sich gleich, Colonel; aber ich denke, Ihr werdet nichts Unrechtes bestimmen!“

„Denk’s auch! Willst du die andre Hälfte führen?“

„Hm, wenn mir die Männer nachlaufen wollen, so will ich gern vorankriechen! Mein Gewehr hat neues Pulver und Blei und wird ein sehr vernünftig Wort dort mit den Indsmen reden. Aber die Pferde, Colonel, die müssen zurückbleiben; der Mann aus Germany, der Sander, kann sie halten.“

„Fällt mir nicht ein,“ entgegnete dieser kurz; „ich gehe mit!“

„Was Euch einfällt oder nicht, das bleibt sich gleich; aber wenn Ihr nicht wollt, so kann es ja der andre thun, der Peter Wolf – hol’ der Teufel den bockbeinigen Namen –!“

Auch dieser weigerte sich, und so bekam einer der wenigen waffenlosen Arbeiter den Auftrag, die Pferde einstweilen in seine Obhut zu nehmen.

Die streitbaren Kräfte wurden geteilt. Sam Fire-gun und Dick Hammerdull stellten sich an die Spitze der beiden Abteilungen; der Zug blieb zurück; die Männer bewegten sich vorwärts, und nach wenigen Augenblicken lag tiefe Stille über der Gegend, und nicht das leiseste Geräusch verriet, daß der auf der weiten Ebene ruhende, scheinbare Frieden die Vorbereitung einer blutigen Katastrophe in sich berge.

Zunächst wurde eine ansehnliche Strecke in auf rechter Stellung zurückgelegt; dann aber, als die Nähe des mutmaßlichen Kampfplatzes erreicht war, legten sie sich nieder und krochen, einer hinter dem andern, auf Händen und Füßen zu beiden Seiten der Böschung entlang.

„Uff!“ klang es da leise an das Ohr Sam Fire-guns. „Die Reiter des Feuerrosses mögen hier liegen und warten, bis Winnetou, der Häuptling der Apatschen, fortgeht und wiederkommt!“

„Winnetou?“ fragte Sam Fire-gun, sich halb emporrichtend. „Hat mein roter Bruder die Gestalt seines weißen Freundes vergessen, daß er ihn nicht erkennt?“

Winnetou betrachtete ihn, erkannte ihn trotz der Dunkelheit und rief erfreut aus, allerdings mit leiser Stimme:

„Sam Fire-gun! Der große Geist sei gelobt, der dem Apatschen heut dein Angesicht zeigt; er mag deine Hand segnen, daß sie vernichtend falle auf die Häupter deiner Feinde! Ist mein Bruder auf dem Feuerroß geritten?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand II