1. Kapitel Old Wabble -6-



Als ich nun den Blick mit doppelter Schärfe nach der Stelle richtete, sah ich zwei wie phosphorescierende Punkte; das waren seine Augen, die allerdings nur ein Westmann erkennen konnte, dessen Gesicht durch lange Uebung geschärft worden war. Es giebt im Westen hunderte von Jägern, die es niemals fertig bringen, des Nachts die Augen eines Spähers zu entdecken. Die Uebung thut es nicht allein; sie ist zwar sehr notwendig dazu, aber es muß das auch eine Gabe, also angeboren sein. Ueber seinen Augen lag es wie ein hellerer Streifen, wie ein Schein von einem weißen Schleier. Der Mann mußte alt sein und schneeweißes Haar haben. Da plötzlich stieß er einen lauten Ruf aus, sprang im Gebüsch auf und that einen Sprung aus demselben hervor.


„Parker, Sam Parker ist da!“ rief er aus. „Das ist ein alter Bekannter, und da brauche ich mich ja nicht zu verstecken.“

Die Männer am Feuer schnellten erschrocken empor; auch Jos sprang neben mir auf; ich blieb liegen.

„Old Wabble, Old Wabble!“ schrie Parker. Aber gleich einsehend, daß er den Spitznamen dieses Mannes genannt hatte, fügte er, sich verbessernd, hinzu: „Fred Cutter! Verzeihung, daß mir dieses Wort entfuhr, Mr. Cutter! Die Ueberraschung ist daran schuld.“

Also Old Wabble, den ich so gern einmal hatte sehen wollen und von dem wir gestern noch gesprochen hatten! Ja, da stand er im Scheine des Feuers, grad so, wie er mir beschrieben worden war. Seine Gestalt war lang und außerordentlich schmal. An den Füßen trug er Sporen, deren Räder von außerordentlicher Größe waren; die dürren Beine steckten in Leggins, die wenigstens ein Jahrhundert alt zu sein schienen; das überaus schmutzige Hemde ließ Hals und Brust unbedeckt, und darüber hing in weiten Falten eine Jacke, deren Farbe kaum mehr zu erkennen war. Sein alter Hut hatte eine unendlich breite Krempe und saß ihm tief im Genick; darunter trug er ein Tuch, dessen Zipfel hinten bis auf die Schultern niederhingen. An den Ohrläppchen sah ich große, schwere Silberringe. In dem Gürtel steckte ein alter, langer Bowiekneif, und mit der knochigen, rechten Hand hielt er ein Gewehr umfaßt, dessen Konstruktion ich jetzt nicht erkennen konnte. Das Gesicht war genau so, wie es Parker uns gestern in Worten gezeichnet hatte. Am meisten fiel an diesem frühern ‚Könige der Cowboys‘ das weiße Haar ins Auge, welches wie eine silberne Mähne unter dem Hute und dem Tuche hervorquoll und ihm fast bis zum Gürtel herabreichte.

Er warf einen schnellen, scharf musternden Blick umher, wabbelte mit einer überlegenen Bewegung seine Glieder durcheinander und antwortete auf die entschuldigenden Worte Parkers:

„Pshaw! Ich weiß, daß man mich so nennt, und habe nichts dagegen, daß Ihr dies auch thut. Ihr seid verdammt unvorsichtige Kerls, ihr. Brennt ein Feuer, welches man zwanzig Meilen weit riecht, und schreit, daß man es noch zehn Meilen weiter hört! Wenn ein halbes Dutzend Rote an meiner Stelle gewesen wären, so hätten sie euch in weniger als einer Minute auslöschen können; th’is clear. Es giebt Menschen, die im Leben nie klug werden. Wo kommt ihr denn eigentlich her, Boys?“

„Vorn Gila herüber,“ antwortete Parker.

„Und wo wollt ihr hin?“

„Nach dem Pecos hinab.“

„Das trifft sich gut. Kann euch dort brauchen. Habt ihr vielleicht das Truppenlager berührt, welches da oben einige Reitstunden hinter dem Mistake-Cañon liegt?“

„Wir haben dort eine Nacht gelagert.“

„Sind die Uniformleute noch dort?“

„Ja.“

„Gut, sehr gut! Ich muß nämlich wieder hinauf zu ihnen. War schon einmal dort.“

„Das hörten wir.“

„Well, habe eine dringende Bitte an sie; brauche ihre Hilfe. Ich werde euch das erzählen, will aber erst mein Pferd holen, welches ich weiter unten, als ich euer Feuer roch, angepflockt habe, um euch zu beschleichen. Bin in kurzem wieder da.“

Er sprang über den Bach hinüber und verschwand. Die zehn Männer standen noch da, fast starr vor Ueberraschung. Nun, da er fort war, ergingen sie sich in Ausdrücken der Verwunderung; ich schwieg wie bisher. Mein Pferd lag noch an der Erde. Da es so nicht fressen konnte, rief ich ihm zu ‚Schischi!‘ Es sprang sofort auf und begann wieder zu weiden.

Nach einiger Zeit kam Old Wabble wieder, sein Pferd am Zügel führend. Als er mit ihm den Bach übersprungen hatte, ließ er es laufen, setzte sich an das Feuer und sagte:

„Diese Flamme ist eigentlich viel zu groß; th’is clear; da ich aber erst jetzt gekommen bin und also weiß, daß die Gegend sicher ist, so können wir es brennen lassen. Wie lange wollt ihr hier liegen bleiben?“

„Nur diese Nacht.“

„Werdet auch morgen und die nächste Nacht hier liegen.“

„Schwerlich!“

„Sicher! Sollt gleich erfahren, warum. Möchte nur vorher wissen, wer ihr alle seid. Sam Parker kenne ich, der damals seinen ersten Elk bei mir geschossen hat. Wer sind die andern?“

Parker nannte ihre Namen, deutete dann auf mich und fuhr in leichtem Tone fort:

„Und der dort ist Mr. Charley, ein deutscher Gelehrter, der nach alten Indianergräbern sucht.“

Old Wabble richtete sein Auge auf mich, da ich ruhig liegen blieb, und meinte:

„Nach Indianergräbern? Sonderbare Beschäftigung! Aber doch auch Westmann?“

„Nein,“ fuhr Parker fort. „Er mußte heut drei Probeschüsse thun und hat über zwanzig Schritte weit gefehlt.“

„Hm, kenne das, habe solche Forscher gesehen, die in die Savanne kamen, um Bücher zu machen, Bücher über die Sprache und Abstammung der einzelnen roten Stämme. Bin ihr Führer gewesen und habe mich krank geärgert. Keiner von ihnen konnte das Messer oder das Gewehr richtig in die Hand nehmen. Die Gelehrsamkeit verdirbt den Menschen; th’is clear. Aber jetzt eine wichtige Frage an Euch. Möchtet Ihr einige Dutzend Indianerskalps haben?“

„Warum nicht! Von welchem Stamme?“

„Comantschen.“

„Soll mir recht sein, Mr. Cutter. Ist es leicht?“

„Nicht allzu sehr. Man kann dabei leicht seine eigene Haut riskieren. Fürchtet Ihr Euch?“

„Das nicht; aber ich pflege erst dann zu spielen, wenn ich die Karten kenne. Ich halte es also für richtig, daß Ihr uns vorher sagt, um was es sich handelt.“

„Habt Ihr den Namen Old Surehand 8) gehört?“

Bei diesem Namen ergriff alle eine Bewegung der Ueberraschung, und Parker fragte schnell:

„Old Surehand? Handelt es sich um den?“

„Yes. Ihr kennt ihn also?“

„Natürlich, alle, wenn wir ihn auch nicht gesehen haben. Er ist der beste Schütze im ganzen wilden Westen.“

„Da ist vielleicht zuviel behauptet. Seine Kugel geht zwar niemals fehl, daher sein Name; aber Winnetou und Old Shatterhand schießen wenigstens ebenso sicher. Ich habe Old Surehand vor einiger Zeit kennen gelernt und allen Respekt für ihn gewonnen. Wir trennten uns vor kurzer Zeit, denn ich mußte in die Gegend von Fort Stanton hinauf und er wollte nach dem Rio Pecos zu den Mescalerosapatschen, um dort nach Winnetou zu fragen und ihn und Old Shatterhand kennen zu lernen. Kurz nach unsrer Trennung erfuhr ich, daß die Comantschen die Kriegsbeile ausgegraben haben; er wußte das nicht, und da sein Weg ihn über ihre Route führte, befand er sich in großer Gefahr; ich lenkte also schnell zurück, um ihn zu warnen, was nicht schwer war, denn ich kannte seinen Weg. Ich holte ihn auch richtig ein; aber der Satan hatte sein Spiel: Wir waren noch keine Viertelstunde bei einander, so wurden wir von einem Comantschenhaufen überrumpelt und überfallen.“

„Alle Wetter! Waren es viele?“

„Ueber hundert.“

„Und ihr nur zwei?“

„Yes.“

„Und seid trotzdem entkommen!“

„Ich wohl, aber nicht er,“ antwortete Old Wabble, indem sein Gesicht sich in pfiffige Falten legte.

„Ihr habt ihn allein gelassen?“

„Yes.“

„Teufel! War das recht von Euch?“

Da richtete der Alte seinen Oberkörper auf, machte ein unendlich überlegenes Gesicht und fragte:

„Wollt Ihr etwa mir, Fred Cutter, den man Old Wabble nennt, Vorwürfe machen? Da seid Ihr nicht der Mann dazu. Merkt Euch das! Ein Gramm List ist oft besser als zehn Kilogramm Pulver; das weiß ich ganz genau. Ja, ich habe mich aus dem Staube gemacht, denn warum nicht? Gegenwehr war nutzlos; darum ergab sich Old Surehand freiwillig. Ich habe gesehen, daß er nicht verletzt worden ist. Sollte ich mich auch ergeben? Dann wären wir beide gefangen gewesen, konnten einander wahrscheinlich gar nichts nützen und niemand hätte von unsrem Schicksale gewußt. Die Comantschen hätten uns am Marterpfahle abgeschlachtet, und es wäre erst nach unsrem sanftseligen Tode ruchbar geworden, daß wir in ihre Hände gefallen und von ihnen mit einem Ticket 9) nach den ewigen Jagdgründen beschenkt worden sind. Nein, solche Pudel schießt Old Wabble nicht! Ich machte mich lieber davon. Ihre Kugeln flogen mir zwar nach, haben mich aber nicht getroffen; th’is clear, denn sonst würde man die Löcher sehen. Nun bin ich frei und kann Old Surehand heraushelfen. Ist das nicht besser, als wenn ich mich mit ihm hätte gefangen nehmen lassen?“

„Das mag richtig sein, Mr. Cutter. Aber man wird erzählen, daß Old Wabble vor den Comantschen geflohen ist. Kann Euch das lieb sein, Sir?“

„Einen Vorwurf kann mir nur ein dummer Kerl draus machen. Ein gescheiter und erfahrener Westmann aber weiß, was und wie er zu denken hat. Was ist wohl leichter, sich ohne Widerstand ergeben oder sich den Fluchtweg durch hundert Rote bahnen?“

„Das letztere gewiß nicht.“

„Also! Warum spracht Ihr da vorhin so albernes Zeug! Ich werde Old Surehand herausholen.“

„Das traue ich Euch zu. Aber wie wollt Ihr das anfangen? Es ist eine schwere und gefährliche Sache.“

„Das weiß ich gar wohl; aber soll ich diesen braven und berühmten Jäger stecken lassen? Ich dachte sofort an die Dragoner, die da oben hinter dem Mista ke-Cañon lagern, und ritt direkt herauf, sie zu Hilfe zu holen.“

„Werden sie mitgehen?“

„Ich vermute freilich, daß sie sich weigern, weil sie es auf einen andern Comantschenstamm abgesehen haben, aber ich werde so lange bitten oder drohen, bis sie mir den Willen thun.“

„Wenn es dann noch Zeit ist!“

„Well, es eilt freilich sehr. Der Ueberfall geschah heut beim Grauen des Morgens. Hier muß ich mein abgetriebenes Pferd bis früh rasten lassen und erreiche die Truppen also erst morgen abend. Selbst falls sie gleich mit aufbrechen, dauert es zwei Tage, bis wir an Ort und Stelle kommen, wo wir die Comantschen gewiß nicht mehr finden. Wir müssen ihnen also folgen, und es kann wieder zwei Tage oder länger dauern, ehe wir sie einholen. Inzwischen können sie Old Surehand den Garaus gemacht haben. Leider aber weiß ich keinen andern Weg, ihn zu retten. Ich rechne dabei auch auf Euch, Mr. Parker.“

„Wieso?“

„Der Kommandant der Truppen giebt mir wahrscheinlich nur einen Teil derselben mit. Ich bitte Euch deshalb, hier zu bleiben, bis ich übermorgen mit ihnen komme, und Euch uns dann anzuschließen. Zehn Westmänner mit zehn guten Gewehren sind eine große Mithilfe.“

„Ich sage nicht nein, und wie ich meine Gefährten hier kenne, sind sie auch bereit dazu. Ich fürchte eben nur, daß wir zu spät kommen werden. Können wir den Coup denn nicht allein und ohne die Truppen versuchen? Es würden dadurch wenigstens zwei volle Tage gewonnen. Ueberlegt Euch das einmal, Sir!“

Old Wabble ließ eine prüfenden Blick im Kreise herumgehen; das Resultat desselben schien kein sonderliches zu sein, denn er zog sein Gesicht in bedenkliche Falten und sagte:

„Euer Anerbieten in allen Ehren, Sir; aber es handelt sich um ein höchst gefährliches Unternehmen. Sind diese Männer hier bereit, ihr Leben für einen Fremden zu wagen, und wenn es auch ein Old Surehand ist?“

„Hm! Fragt sie selber, Mr. Cutter!“

Als Old Wabble hierauf die Leute einzeln fragte, antworteten nur Parker und Hawley in bestimmtem, freudigem Tone; den übrigen war es, obgleich sie auch ja sagten, anzuhören, daß sie wünschten, das Abenteuer möchte weniger gefährlich sein.

„Well,“ nickte der Alte sehr ernst; „ich weiß, woran ich bin.“ Und nach mir deutend, fügte er hinzu: „Und der Altertümler dort, der zwanzig Schritte vorbeischießt, kann uns erst recht nichts nützen. Hätte ich nur eine Handvoll entschlossener und erfahrener Kerls, so wäre es gar kein so großes Wagnis; man muß sich nur auf die Leute fest verlassen können. Denkt nur, wie oft Old Shatterhand und Winnetou ganz ohne alle andre Hilfe noch viel, viel schwerere und gefährlichere Dinge ausgeführt haben! Ich hatte erst den Gedanken, Winnetou aufzusuchen; aber ich weiß nicht, an welcher Stelle des Rio Pecos sein Mescalerostamm zu finden ist und – – –“

Er hielt inne. Mein Hengst pflegte sich gern allein zu halten und kein fremdes, ihm unbekanntes Pferd in seiner unmittelbaren Nähe zu dulden; jetzt war ihm das Pferd Old Wabbles zu nahe gekommen; er biß nach ihm, es biß wieder, und sie gerieten zusammen.

„Was ist denn das für ein impertinenter Gaul, der da mein Pferd maltraitiert,“ rief der Alte, indem er aufsprang.

Er eilte herbei und ergriff den Rappen beim Zügel, um ihn von seinem Klepper wegzureißen; der Hengst aber stieg vorn kerzengerade empor, riß ihn mit in die Höhe und schleuderte ihn zur Seite, daß er neben mir niederflog. Er sprang schnell mit einem Fluche auf und wollte wieder zugreifen; da warnte ich ihn:

„Faßt Euer Pferd, aber ja nicht das meinige; es gehorcht nur mir und würde Euch mit den Hufen zerschmettern!“

Der Hengst hatte sich wirklich schon in Positur gesetzt und stand bereit, ihm im Falle eines zweiten Angriffes die Hinterhufe an den Kopf oder die Brust zu geben; er wendete dabei den ausgezeichnet schönen Kopf zurück nach ihm und bildete so, vom Feuer beleuchtet, einen Anblick, der jeden wirklichen Pferdekenner in Entzücken versetzen mußte. Old Wabble hatte vorhin das prächtige Geschöpf gar nicht betrachtet; jetzt fuhr er einige Schritte zurück und rief erstaunt:

„Thunder-storm, was für ein Tier ist das! Das muß man genauer betrachten!“

Er ging, sich respektvoll fern haltend, um den Hengst herum. Als einstiger „König der Cowboys“ war er gewiß ein guter Pferdekenner. Sein altes Gesicht nahm mehr und mehr den Ausdruck des Entzückens an.

„So ein Pferd sah ich noch nie!“ gestand er ein. „Es giebt nur einen solchen Stamm, und der wird bei den Mescaleros gezüchtet. Von ihm stammen zwei Rapphengste wie dieser hier, deren Herren – – –“

Er unterbrach sich, trat zu mir, der ich noch immer im Grase lag, betrachtete mich genau, bückte sich, nahm meinen Bärentöter und den Henrystutzen, der noch in dem Futterale steckte, in die Hand, besah sich diese Gewehre, legte sie wieder hin und fragte mich:

„Dieser Hengst ist Euer, Sir?“

„Ja,“ nickte ich.

„Ihr habt ihn gekauft?“

„Nein.“

„Geschenkt erhalten?“

„Ja.“

Da ging ein unaussprechlich pfiffiges Lächeln über die Falten des alten Gesichtes; er nickte mit dem Kopfe, indem seine Augen froh zu leuchten begannen, und fragte weiter:

„Habt Ihr den Jagdrock auch geschenkt bekommen und die Leggins, die Ihr tragt, Sir?“

„Ja.“

„Und Ihr forscht wirklich nach alten Gräbern?“

„Zuweilen, ja.“

„Und heißet Charley?“

„Gewiß.“

„Well! Ich kenne einen Weißen, oder vielmehr ich habe von ihm gehört, den sein Blutsbruder Charley nennt, und wünsche Euch, in Euern Altertumsforschungen recht glücklich zu sein. Verzeiht, daß ich Euer Pferd beinahe maltraitiert hätte; ich werde es nicht wieder thun; th’is clear!“




8) Old Schuhrhännd ausgesprochen (= Sicherhand).
9) Billet, Fahrschein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand I