1. Kapitel Old Wabble -10-



Ah, also darauf lief es hinaus! Sitzen lassen; das hatte er sich gemerkt. Er wollte durch seine Strenge gegen den braven Parker zeigen, daß er sich mit mir eins fühle. Dabei war ich überzeugt, daß seine Schweigsamkeit keine lang anhaltende sein und er mich bei nächster Gelegenheit grad ebenso interviewen werde, wie es jetzt Parker gethan hatte.


Als es zu dunkeln begann und die Zeit für mich gekommen war, stand ich auf und sagte:

„Ich gehe jetzt fort, um nach den Comantschen zu suchen. Ich lasse euch meine Gewehre hier und bitte, daß sich keiner von euch entfernt; es könnten Rote in der Nähe sein und ihn bemerken.“

„Ganz richtig!“ stimmte mir Old Wabble bei. „Ich nehme an, daß nun bald die beiden Comantschen kommen, die wir freigelassen haben. Die kommen wahrscheinlich hier nahe vorüber.“

„Hier nicht, Mr. Cutter,“ widersprach ich ihm. „Die benutzen jedenfalls die da unten liegende Furt und kommen also da drüben am jenseitigen Ufer dieses Wassers herauf.“

„Meint Ihr?“

„Ja. Darum habe ich vorhin das diesseitige Ufer zum Ausruhen gewählt; da können sie uns nicht bemerken.“

„Well. Also, Ihr wollt gehen. Darf ich mit?“

„Ich will Euch aufrichtig sagen, daß ich lieber allein bin.“

„Haltet Ihr mich für so unerfahren oder für so ungeschickt, daß ich Euch den Handel verderben kann?“

„Nein, wenigstens nicht so wörtlich, wie Ihr es ausgesprochen habt.“

„Also einigermaßen aber doch. Ich sage Euch, Sir, daß ich das Anschleichen ebenso wie jeder andre gelernt habe; das habe ich gestern abend bewiesen.“

„Hm! Ich habe Euch doch gesehen.“

„Mich nicht, sondern nur den Zweig, weil er sich bewegte.“

„Pshaw! Schon lange, ehe Ihr diesen Zweig abschnittet, habe ich Eure Augen gesehen.“

„Meine Augen? Good lack! Ist das möglich?“

„Nicht nur möglich, sondern wirklich.“

„Aber ich steckte doch ganz im Dunkeln! Kann man da Augen sehen, Mr. Shatterhand?“

„Es ist das allerdings nur einem sehr scharfen und geübten Blicke möglich. Ihr werdet wohl zugeben, daß Augen glänzen. Und Ihr hattet die Eurigen noch dazu ganz offen.“

„Das mußte ich doch! Wer etwas sehen will, der muß die Augen offen haben.“

„Meint Ihr? Ein vorsichtiger Späher macht sie so weit wie möglich zu, damit sie nicht gesehen werden; ja, ich zum Beispiele mache sie, wenn ich genug gesehen habe und nun nur noch hören will, ganz zu, denn erstens sind sie dann ganz unsichtbar, und zweitens hört man bei geschlossenen Augen besser als bei offenen, wie Ihr wohl wissen werdet.“

„Sir, es ist wahr; man kann von Euch noch viel lernen!“

„Wenn Ihr das einseht, so will ich Euch auf noch etwas andres aufmerksam machen. Ich habe nämlich nicht nur Eure Augen, sondern auch Euer Haar gesehen.“

„Auch dieses?“

„Wundert Ihr Euch etwa darüber? Euer Haar ist schneeweiß, es fällt also noch weit eher auf als die dunkeln Augen.“

„Alle Wetter, bei Euch hat man sich in acht zu nehmen.“

„Nicht bloß bei mir, Mr. Cutter. Ich rate Euch, das Haar zu verhüllen, wenn Ihr wieder einmal in die Lage kommt, Euch anzuschleichen; Ihr könntet sonst leicht dieses schöne Haar mitsamt dem Kopfe verlieren.“

„Werde es thun, werde es thun! Ich hoffe, daß ich gleich jetzt in diese Lage komme. Nicht?“

„Weil ich Euch mitnehmen soll?“

„Yes.“

„Ich wiederhole, daß ich lieber allein gehe.“

„Mag sein; aber Ihr seid doch auch nur ein Mensch, und es kann Euch ein Unfall erreichen. Dann sitzen wir hier und wissen nicht, wo Ihr steckt und wie Euch zu helfen ist.“

„Das ist nicht unrichtig, und ich würde Euch wohl mitnehmen, wenn die Sache nicht so wichtig und dabei so gefährlich wäre. Der geringste Fehler kann uns verraten und das Leben kosten.“

„Ich gebe Euch mein Wort, daß ich keinen Fehler mache!“

„Euer Wort? Hm! Na, ich will es einmal gelten lassen und hoffen, daß Ihr es halten werdet.“

„Danke Euch! Will nur erst Euern Wink befolgen; dann können wir gehen.“

Er rollte sein Haar zusammen, um es auf den Kopf zu legen und das Tuch darüber zu binden. Während er dies that, fuhr er fort:

„Kennt Ihr das ‚blaue Wasser‘ und seine Umgebung so genau, daß Ihr Euch getraut, die Roten dort trotz der Dunkelheit der Nacht zu finden?“

„Ja. Ihr könnt Euch dies doch denken, denn wenn es nicht der Fall wäre, hätte ich die letzte Tagesstunde zum Anschleichen benutzt und mich nicht müßig hierher gelegt.“

„Bravo, bravo!“ rief da Parker aus.

Da drehte sich Old Wabble nach ihm um und fragte zornig:

„Was habt Ihr denn da zu schreien, he?“

„Bravo habe ich geschrieen,“ antwortete der Gefragte.

„Das habe ich wohl gehört; oder haltet Ihr mich für taub? Aber warum Ihr es gerufen habt, das will ich wissen.“

„Aus Vergnügen darüber, daß Euch Mr. Shatterhand einen so vorzüglichen fillip 15) gegeben hat.“

„Fillip? Wieso?“

„Erst werdet Ihr grob gegen mich, gebietet mir Schweigen und nennt mich ein wer-weiß-wieviel-höckeriges Kamel, weil ich mir erlaubte, eine ganz bescheidene Frage auszusprechen, und jetzt schlabbert Ihr selbst so unvergorenes Zeug, daß Euch Old Shatterhand darüber zur Rede setzen muß! ‚Das könnt Ihr Euch doch denken,‘ hat er gesagt, und ich rufe noch einmal bravo dazu!“

„Haltet den Schnabel, verehrtester Sir! Meine Frage ist eine ganz und gar sachgemäße gewesen.“

„Die meinige auch.“

„Das denkt Ihr nur. Uebrigens schreit man hier im wilden Westen und in der Nähe von feindlichen Indianern nicht so laut bravo, daß die Lunge platzen möchte. Kommt, Mr. Shatterhand; lassen wir den Kerl sitzen!“

„Für immer?“ fragte ich lächelnd.

„Nein, nur bis wir wiederkommen.“

Ich übergab Parker meine Gewehre besonders; dann gingen wir.

Das Gebüsch, welches den Ausfluß des Sees umsäumte, war nicht breit; es bildete einen schmalen Streifen, an welchen die vollständig offene Grasfläche stieß. Wir hielten uns an seinen Rand und fanden durch zahlreiche vorgeschobene Sträucher so viel Deckung, daß wir für den Fall einer Begegnung keine Sorge zu haben brauchten; wir konnten uns sehr schnell verbergen. Und als die Dämmerung vorüber und es vollständig dunkel geworden war, wäre auch eine vorher begründete Befürchtung überflüssig geworden.

Die Lehre, welche Old Wabble von Parker erhalten hatte, war nicht von langer Wirkung, denn wir waren noch nicht sehr weit gegangen, so erkundigte er sich schon, natürlich leise:

„Was hat das ‚blaue Wasser‘ für eine Gestalt, Sir?“

„Es ist ein ziemlich kreisrunder See, den ich lieber einen Teich oder Weiher nennen möchte, denn unter einem See versteht man eigentlich eine größere Wasserfläche.“

„Wie groß ist er?“

„Ich habe zwanzig Minuten gebraucht, um ihn in gerader Richtung zu überschwimmen.“

„Dann ist er nicht so gar klein, denn ich habe gehört, daß Ihr ein vortrefflicher Schwimmer seid. Man erzählt sich, daß Ihr bei den Sioux habt ums Leben schwimmen müssen.“

„Mehreremale sogar.“

„Und die besten Schwimmer dieser roten Bande sollen hinter Euch zurückgeblieben sein.“

„Allerdings, sonst lebte ich nicht mehr. Wie schwimmt denn Ihr, Mr. Cutter?“

„Wie ein Fisch.“

„Wirklich?“

„Ja. Oder glaubt Ihr es etwa nicht?“

„Da Ihr es sagt, muß es wohl wahr sein. Da seid Ihr mir aber über, denn ich wage nicht zu sagen, daß ich wie ein Fisch schwimmen kann. Ihr seid übrigens nicht allzu fleischig gebaut.“

„Ja, sehr viel Knochen mit lauter Haut und Runzeln, weiter nichts. Aber glaubt Ihr, daß dies ein Hindernis ist, ein guter Schwimmer zu werden?“

„Wenigstens pflegt man dies zu behaupten.“

„Oho! Wer diese Behauptung ausspricht, der ver steht nichts von der Sache. Wer fett ist, der ist doch dick und breit, und es muß ihm eine schauderhafte Arbeit kosten, sich durchs Wasser zu puddeln; ich aber bin lang und schmal und schieße also förmlich durch die Flut. Es ist das genau so wie mit einer Pfeilspitze; ist sie lang und dünn, so dringt sie schneller und tiefer in das Fleisch, als wenn sie kurz und dick wäre; th’is clear.“

Mir war die Sache nicht so ‚clear‘ wie ihm, doch durfte ich wohl annehmen, daß er nicht übel schwamm, wenn auch nicht grad wie ein Fisch. Uebrigens sollte ich bald Gelegenheit haben, seine Geschicklichkeit genau kennen zu lernen; zunächst glaubte ich ihm, obgleich ein Cow-boy sich mehr auf dem Lande und zu Pferde als im Wasser zu bewegen pflegt.

„Giebt es im ‚blauen Wasser‘ Inseln?“ fuhr er nach einer kleinen Weile fort.

„Nur eine, die nicht weit vom nördlichen Ufer liegt.“

„Wenn es so finster bleibt, wie es jetzt ist, und die Roten keine Feuer brennen, wird es schwer sein, sie zu finden.“

„Die Sterne werden in kurzer Zeit heller leuchten, und ich bin auch überzeugt, daß die Comantschen Feuer angebrannt haben. Es giebt keinen Grund für sie, anzunehmen, daß Feinde in der Nähe sind; sie wissen sich sicher und werden also nicht im Dunkeln sitzen.“

„Auf welche Weise wollen wir uns anschleichen?“

„Es giebt an dem See, und zwar der erwähnten Insel grad gegenüber, eine Stelle, die sich wie keine andre zum Lagern eignet; ich selbst habe zweimal mehrere Nächte dort zugebracht und möchte annehmen, daß die Indsmen sich auch dort befinden. Das Gebüsch ist dicht und von hohen Bäumen überragt.“

„Das ist nicht gut, denn da wird schwer durchzukommen sein. Meint Ihr nicht, Mr. Shatterhand?“

„Es ist leider so; aber wir müssen dennoch durch. Dazu wird wohl ein Umstand kommen, welcher die Ausführung unsres Vorhabens wahrscheinlich doppelt erschwert.“

„Was ist das?“

„Es giebt zwischen dem Wasser und dem Gebüsch nicht Weide genug für die Pferde, ich muß also annehmen, daß diese sich nicht am Wasser, sondern diesseits des Waldstreifens befinden, wo Gras in Menge wächst.“

„Heigh-ho! Da werden Wächter dabei sein!“

„Natürlich! Wir haben also das Lager vor und die Pferde mit den Wächtern hinter uns und befinden uns in einer Lage, welche die größte Vorsicht erfordert, zumal die Indianergäule fast ebenso wachsam wie ihre Herren sind. Doch wollen wir jetzt nicht mehr sprechen; wir haben unsre Aufmerksamkeit zusammenzunehmen.“

Wir hatten jetzt ungefähr die Hälfte unsres Weges zurückgelegt und mußten aufpassen, denn je näher wir dem See kamen, desto leichter war es möglich, daß wir auf etwa noch umherstreifende Indsmen stießen. Glücklicherweise war dies nicht der Fall, und wir kamen ohne eine solche unerwünschte Begegnung an die Stelle, wo das Wasser aus dem See abfloß.

Der Waldesstreifen machte von hier aus einen weiten Bogen in die Grasebene hinaus, dem wir folgten, bis wir plötzlich unsre Schritte anhielten, weil wir vor uns laute Stimmen hörten.

„Pa-gu!“ rief jemand. „Hetet-sha enuka?“

Das heißt: „Pa-gu, wo bist du?“

„Eiwe, hier,“ antwortete ein zweiter.

„Beite omi!“

Das heißt: „Komm her!“

„Schai ka-tu lel, ich habe keine Zeit.“

Hierauf trat wieder Stille ein. Ich sagte leise zu Old Wabble:

„Das ist der dem Tonkawa ähnliche Dialekt der Racurroh-Comantschen; wir haben also die Gesuchten vor uns. Kennt Ihr vielleicht diesen Dialekt?“

„Ja.“

„So habt Ihr die Worte verstanden?“

„Ja. Es rief einer den andern, der keine Zeit hat.“

„Gut! Es ist mir sehr lieb, daß Ihr diese Sprache versteht, denn da könnt Ihr die Roten mit belauschen. Meine Voraussetzung ist eingetroffen: Wir haben die Pferde vor uns; es ist einer von den Wächtern gerufen worden. Geht jetzt hinter mir, aber so leise und vorsichtig wie möglich!“

Wir huschten hart am Rande des Gebüsches weiter, bis wir um eine hervortretende Zunge des Waldes bogen; da sahen wir ein Feuer, welches in der Entfernung von vielleicht sechshundert Schritten vor uns auf der Grasebene brannte; mehrere Indianer saßen an demselben, um die Pferde zu bewachen, welche rundum weideten.

„Ganz so, wie Ihr gedacht habt, Sir,“ sagte Old Wabble. „Da haben wir die Tiere, und hinter den Büschen und Bäumen werden ihre Besitzer am ‚blauen Wasser‘ lagern.“

„Und das ist auch grad die Stelle, von der ich gesprochen habe; sie liegen da, wo ich schon zweimal lagerte. Jetzt müssen wir uns niederlegen, sonst sehen sie uns.“

Wir krochen nun am Saume des Gebüsches weiter, bis dies nicht mehr möglich war, ohne entdeckt zu werden. Vor uns gab es eine schmale Lücke in dem Gesträuch, welche wie ein offener Pfad den Lager-mit dem Weideplatz verband; sie wäre für uns sehr bequem gewesen, wenn wir sie hätten benutzen kön nen, was wir aber nicht durften. Die Roten verkehrten auf diesem Wege hin und her, und es fiel uns nicht ein, uns der Entdeckung auszusetzen. Wir wendeten uns also nach rechts, um parallel mit diesem Pfade durch das Buschwerk zu dringen. Da dieses, wie bereits erwähnt, sehr dicht stand und wir jedes Geräusch vermeiden mußten, so machte es uns große Mühe und dauerte sehr lange, ehe wir den jenseitigen Rand des doch so schmalen Waldes erreichten und den Lagerplatz vor uns liegen sahen.

Es war ein Kriegslager. Zwar trugen die Indianer nicht die Kriegsfarben im Gesicht und hatten also hier einen längeren Aufenthalt beabsichtigt, doch war kein einziges Zelt vorhanden, was sicher der Fall gewesen wäre, wenn es sich nur um einen Jagdzug gehandelt hätte. Sie mußten sich hier vollständig sicher fühlen, denn es gab nicht weniger als acht Feuer, bei deren Schein wir über hundertfünfzig Rote zählten. Sie hatten ‚Fleisch gemacht‘; es hing in langen, dünnen Stücken an ausgespannten Riemen, um zu trocknen. Sie hatten also einen weiten Kriegszug vor, bei dem es keine Zeit zum Jagen gab oder der nach einer Gegend gerichtet war, in der sich weder Büffel noch andre Wildarten befanden. Diese Gegend kannte ich; es war der öde, der heißen, sandigen Sahara vollständig gleichende Llano estacado.

Es lagen noch mehrere erlegte Büffel da, und die meisten der Indsmen waren beschäftigt, sie in Stücke zu zerlegen und das Fleisch von den Knochen zu trennen, um es dann in Streifen zu zerschneiden. Andere hockten an den Feuern und brieten Fleisch. Die gebratenen Stücke lagen in Haufen neben ihnen, jedenfalls für das allgemeine Abendessen bestimmt. An zwei kleineren Feuern, die leider weit auseinander lagen, saßen müßige Gestalten, welche nicht arbeiteten, sondern sich unterhielten und dabei die Tabakspfeife, von der jeder nur einige Züge nahm, herumgehen ließen. Das waren wohl die ‚Chargierten‘, wenn es erlaubt ist, mich dieses Ausdruckes zu bedienen. Ich habe gesagt, die ‚leider‘ weit auseinander lagen, denn wären diese zwei Gruppen enger beisammen gewesen oder hätten sie nur eine gebildet, so hätte ich sie zusammen belauschen können; so aber mußten wir uns teilen, denn es stand fest, daß wir nicht fortgingen, ohne gehört zu haben, was gesprochen wurde.




15) Nasenstüber.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand I