Fortsetzung 3 - Wie verlief nun eine längere Seereise in damaliger Zeit? Versetzen wir uns im Geiste etwa in ein Handelsschiff, das von Drontheim nach London fahren wollte, eine Fahrt, die ja seit dem 10. Jahrhundert sehr beliebt war. ...

Selbstverständlich wird sie nur im Sommer vorgenommen; Winterfahrt — und gar über die offene Nordsee — war durchaus verpönt. Unser Schiff hat also seine Ladung eingenommen, und nachdem eines Tages endlich günstiger Wind, in unserem Falle Nord oder Nordost eingetreten ist, wird die Landungsbrücke eingezogen, der Anker gelichtet, und wir steuern, zunächst mit Ruderkraft, hinaus. Liegt dann in der Fahrtrichtung freies Fahrwasser vor uns, so wird die Rahe mit dem Segel gehißt. Das Fehlen zweier Hilfsmittel nun mußte der damaligen Seeschiffahrt notwendig ein verschiedenes Gepräge von der heutigen geben: man kannte weder Kompaß noch Seekarten. Man hielt sich daher, solange es irgend ging, in der Nähe der Küste, in Norwegen und Schweden innerhalb der Schären, an der friesischen Küste im Wattenmeer. Brach die Dämmerung herein, so wurde geankert, ein Teil der Mannschaft begab sich an Land und kochte die Mahlzeit — die erste Rolle spielte dabei die Grütze, außerdem gab es für die Tage, wo man nicht landen konnte, kaltes Fleisch, Schinken, Brot, Butter, Räucherhering und dergleichen. Ein besonderer Koch war nicht bestellt, das Kochen ging reihum. Frischwasser und Bier wurden in Tonnen aufbewahrt und aus einem gemeinsamen Gefäß getrunken, das gewöhnlich zugedeckt vor dem Mast stand. Nachts wurde, wie schon erwähnt, ein Zelt über das Schiff gespannt. Lag man, wie es meistens der Fall war, dicht am Land, so wurde eine Landungsbrücke ans Ufer gelegt und vor diese ein Wachtposten gestellt. So ging die Reise Tag für Tag fort. Kam ein Sturm, so suchte man meist, solange es noch möglich war, am Lande Schutz und zog auch wohl das Schiff mit Hilfe von Rollen aufs Trockene, wie es jetzt noch mit Fischerbooten geschieht. Damals wurden selbst größere Schiffe bei längerem Aufenthalt stets aufs Land gezogen.

Unser Schiff aber will nach England hinüber und muß die Küste verlassen um die offene Nordsee zu kreuzen. Wie fand sich nun der Seemann zurecht, wenn die Küste unter den Horizont gesunken war? War das Wetter schön, so richtete er sich am Tage nach der Sonne, nachts nach den Sternen, besonders dem Polarstern, dem ,,Leitstern“ (loadstar bei den Engländern, leidarstjarna bei den Skandinaviern). Klarer Himmel war also die Vorbedingung einer glücklichen Reise über offene See, und man wartete lieber tage-, ja wochenlang darauf, wie auf günstigen Wind, als daß man sich der Gefahr aussetzte, ins Ungewisse hinauszusegeln. Trat allerdings während der Fahrt schlechtes Wetter ein, dann mußte man eben den Kurs zu halten suchen, so gut es ging. Es gab dann noch gewisse Hilfsmittel: so ließ der Norweger Floki auf der Reise von Shetland nach Island mehrmals Raben steigen, um zu erkunden, in welcher Richtung das nächste Land läge. Das Erscheinen der Vögel ließ überhaupt den Schiffer die Nähe des Landes erkennen.


Als günstiger Wind wurde zunächst natürlich derjenige betrachtet, der recht von hinten oder schräg von hinten kam, so daß das Schiff also vor dem Winde oder mit Backstagswind segelte. Solchen Wind verstand man früher wohl allein zu benutzen: der Norweger Ottar (vor 900) segelte bei einer Reise um das Nordkap nach dem weißen Meere stets vor dem Winde; mußte er einen neuen Kurs einschlagen, so wartete er jedesmal, bis der Wind sich entsprechend änderte. Auch die Iren verstanden mit ihren Coracles wohl nur vor dem Winde zu segeln. Später jedoch, spätestens im 11. Jahrhundert, lernten die Skandinavier auch mit halbem Winde zu segeln. Dies geht deutlich aus der Erzählung hervor, die Snorri Sturluson von der Einfahrt des norwegischen Königs Sigurd Jorsalafari (Jerusalemsfahrer) nach Konstantinopel im Jahre 1110 gibt. König Sigurd war mit seiner Flotte auf der Rückfahrt von Palästina begriffen und bis zum Eingang der Dardanellen gelangt. Snorri erzählt nun: „König Sigurd lag da einen halben Monat, und jeden Tag war guter Fahrwind nach Norden (wir würden sagen: nach Nordosten) nach dem (Marmara-) Meer, aber er wollte auf solchen Wind warten, der von der Seite käme, so daß er mit in der Längsrichtung des Schiffes gebraßten Segeln fahren könnte; denn alle seine Segel waren sowohl auf der Vorder- wie auf der Rückseite mit kostbaren Stoffen benäht, weil weder die Leute vorn, noch die hinten im Schiff die unschöne Seite der Segel sehen wollten. — Als nun König Sigurd nach Konstantinopel einfuhr, segelte er nahe am Lande .... da sah man vom Lande in den Bauch aller Segel und nirgends erspähte der Blick eine Lücke, als wäre es ein Wall (von Segeln). Alles Volk stand draußen, um zu sehen, wie König Sigurd segelte.“ Was Snorri meint, ist klar: man erblickte vom Lande die volle Breite der Prachtsegel, wie es die Eitelkeit König Sigurds wünschte, und da die Flotte in mehreren Reihen nebeneinander segelte, so wurden die Lücken zwischen den Segeln der dem Lande nächsten Reihe für den Zuschauer durch die Segel der hinteren Reihen ausgefüllt, und man erhielt den Eindruck einer ununterbrochenen Mauer schön verzierter Segel. — Mit halbem Winde also konnte man segeln, auf das Lavieren aber durfte man sich nicht einlassen. Bekanntlich besteht dies darin, daß man den entgegenstehenden, ungünstigen Wind abwechselnd in der einen und der anderen Richtung als Seitenwind benutzt, indem man möglichst dicht am Winde segelt. Das Lavieren verbot sich nun schon deswegen, weil die damaligen Schiffe mit ihrem einzigen, ungeteilten Rahsegel allenfalls wohl mit halbem Winde, kaum aber dichter am Winde segeln, also überhaupt nicht Luv gewinnen konnten. Vollends nutzlos wurde es dadurch, daß die Schiffe — ebenfalls infolge der mangelhaften Verteilung der Segelfläche — das Manöver des Wendens nicht durch ,,Über-Stag-Gehen“, wobei das Schiff mit der Spitze gegen den Wind dreht, sondern nur durch ,,Halsen“, wobei es umgekehrt mit der Spitze einen Kreis nach rückwärts beschreibt, vollziehen konnten; dabei wäre natürlich jedesmal ein Stück des gewonnenen Weges verloren gegangen und das Schiff’ rückwärts statt vorwärts gekommen. Das Lavieren — übrigens, wie der Name (eigentlich ,,Luvieren“, von ,,Luv“) beweist, eine Erfindung der germanischen Seevölker — wurde also erst später, bei verbesserter Segeleinrichtung, vorteilhaft.

Was die erreichten Geschwindigkeiten betrifft, so waren sie, wie von vornherein zu erwarten, nicht wesentlich verschieden von dem, was man mit so kleinen Segelschiffen heutzutage erreichen würde; eher etwas geringer. Im einzelnen zeigten sich natürlich große Unterschiede, je nach der Bauart des Schiffes und den sonstigen Umständen. Adam von Bremen, die isländische Landnámabók und sonstige Quellen geben uns einige Daten. Der Norweger Ottar brauchte von seiner Heimat im Halogaland im nördlichen Norwegen (unweit Tromsö) bis Skiringssal einen Monat, wobei er jede Nacht ankerte. Berechnet man den Seeweg innerhalb der Schären zu 950 Seemeilen und nimmt an, daß er täglich 12 Stunden segelte, so ergibt sich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 3 Seemeilen in der Stunde. Adam von Bremen rechnet von Julin bis Rußland 14 Tage Seefahrt; betrachtet man die Newamündung als Endpunkt und nimmt an, daß der Kurs längs der Küste ging und daß nur Tags über gesegelt wurde, so ergibt sich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 4 1/3 Knoten, bei ununterbrochener Tag- und Nachtfahrt wenig über 2 Knoten. Etwas rascher scheint die Fahrt über offene See gegangen zu sein, weil man da eben besonders günstigen Wind abzuwarten pflegte. Adam rechnet von Dänemark nach England bei gutem Wind drei Tage und Nächte, das wären etwa 4 1/2 bis 5 1/2 Seemeilen in der Stunde. Das bekannte Itinerar von Ripen in Dänemark bis Akka in Palästina (in einem Scholion zu Adams Hamburgischer Kirchengeschichte), worin die Fahrzeiten in Tagen und Nächten angegeben sind, zeigt für die einzelnen Strecken große Verschiedenheiten in den Geschwindigkeitsangaben, von 3 2/3 bis etwa 10 Knoten; die meisten Durchschnittsgeschwindigkeiten sind etwas höher als die oben genannten und liegen um 6 bis 8 Knoten herum. Die Landnámabók rechnet bei günstigem Winde 7 Halbtage von Kap Stadt in Norwegen bis Hörn im östlichen Island; das ergibt, wenn der Kurs über die Färöer genommen wurde (566 Seemeilen), 6 3/4 Seemeilen in der Stunde. Eine solche Schnelligkeit wurde aber wohl nur in außergewöhnlichen Fällen erreicht. Im allgemeinen wird man sagen können, daß die mittlere Geschwindigkeit, namentlich bei Küstenfahrt, 2 bis 4 Knoten, bei besonders günstigem Winde 4 bis 6 Knoten und in ganz außergewöhnlichen Fällen bis zu 8 oder 9 Knoten betrug. Aber kehren wir zu unserem Drontheimer Schiff zurück, das inzwischen die englische Küste in Sicht bekommen hat. Der Schiffer muß nun, so gut es ihm nach seiner eigenen Kenntnis oder mündlichen Mitteilungen anderer möglich ist, den Ort zu identifizieren suchen, an dem er sich befindet, um von da den richtigen Weg zu seinem Bestimmungshafen einzuschlagen. Geschriebene Segelanweisungen mit Beschreibung der Küsten kamen ja erst viel später, frühestens wohl im 14. Jahrhundert auf. Nehmen wir an, daß unser Schiff glücklich an die Themsemündung gelangt ist. Heutzutage würde es hier einen Lotsen an Bord nehmen. Bestimmte Nachrichten von der Existenz von Lotsen haben wir aus so früher Zeit nicht. Lotsen werden zum ersten Male in den Rôles d’Oléron (Art. 13) genannt, dem ältesten bekannten Seerecht der nordwesteuropäischen Meere, welches vielleicht bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht. Der Gebrauch von Lotsen muß jedoch viel älter sein, da ihn die Eigenart der nördlichen und westlichen Meere gebieterisch erfordert. Der Mittelmeerschiffer braucht ja eigentlich keine Lotsen, da alle wichtigeren Häfen unmittelbar am offenen Meere liegen, wie Marseille, Genua, Venedig, Konstantinopel. In Nord- und Westeuropa dagegen, wo fast alle großen Seehandelsplätze von jeher tief im Lande am Unterlaufe großer Ströme lagen, wo der Wechsel von Ebbe und Flut die Strömungen und Sandbänke der Mündungen noch gefährlicher macht, waren Lotsen wirklich ein ,,tiefgefühltes Bedürfnis“. Sie waren dies umsomehr, als Seezeichen, Tonnen, Baken und dergleichen, vielleicht völlig fehlten, bestenfalls nur in sehr geringer Zahl vorhanden waren. Die ersten Nachrichten von solchen an der deutschen Küste haben wir jedenfalls erst aus dem 13. Jahrhundert. Auch Leuchttürme fanden erst seit dem 13. Jahrhundert allgemeinere Verbreitung. Der älteste uns bekannte in Nordwesteuropa ist der von Boulogne an der Straße von Calais. Es ist dies ein alter Römerturm aus Caligulas Zeit, den Karl der Große 811 wieder herrichten und mit einem Leuchtfeuer (natürlich einem offen lodernden Feuer) versehen ließ; er war dann wohl für Jahrhunderte der einzige seiner Art. Glücklich konnte sich der Schiffer schätzen, wenn er all den Gefahren, die ihm auf offener See und an der Küste, sowohl durch die Naturgewalten wie durch Seeräuberei und grausames Strandrecht drohten, glücklich entronnen war und im Hafen zu London Anker warf. Selbst hier waren noch nicht alle Fährlichkeiten überstanden: diente doch in London, wie in der Mehrzahl der nordwesteuropäischen Häfen, als Hafenbecken einfach der Fluß, wo die ankernden Schüffe der Strömung, den Anfällen und Diebereien der Flußpiraten und sonstigem Ungemach ausgesetzt waren. Der große Fortschritt zur Sicherung des Hafenverkehrs durch Erbauung von Hafenbassins oder Docks wurde erst spät, in London beispielsweise erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, gemacht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nordische Seefahrten im früheren Mittelalter.
Fig. 13. Wikingerschiff von Gokstad, Vorderansicht. (Modell im Museum für Meereskunde.)

Fig. 13. Wikingerschiff von Gokstad, Vorderansicht. (Modell im Museum für Meereskunde.)

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