Das Schiffsmaterial der Norddeutschen Marine

Die politische Einheit Deutschlands, der schöne Traum der edelsten Geister vieler Jahrhunderte, ist jetzt in fast allen wesentlichen Stücken zur vollendeten Tatsache geworden, und schon machen sich die gewaltigen Folgen dieses großartigen Umschwunges auf den verschiedensten Gebieten geltend. Schon ist die Stimme Norddeutschlands im Verein mit Süddeutschland für alle europäischen Fragen von entscheidender Wichtigkeit; schon ist eine gewaltige Landmacht bereit, das Vaterland gegen jeden Angriff der Nachbarn zu sichern und ringsum, im Herzen von Europa, den Interessen Deutschlands die gebührende Achtung zu verschaffen, und binnen kurzer Zeit wird auch eine bedeutende Seemacht im Stande sein, die Interessen Deutschlands in den entlegeneren Ländern Europas wie in den fernsten Erdteilen zur vollen Geltung zu bringen.

Die Schöpfung einer achtunggebietenden‚ des neuen Deutschlands würdigen Seemacht hat durch eine glückliche Fügung des Schicksals denselben naturgemäßen, in sich vernünftigen Weg eingeschlagen, wie die Neugestaltung Deutschlands überhaupt, in politischer Beziehung. Auch hier hat sich aus kräftigen Keimen ein fester, nicht großer, aber innerlich gesunder Kern entwickelt, an den sich die neu hinzutretenden Elemente anschließen konnten: ein Kern, der die neuen Bestandteile mit der nötigen Festigkeit und Straffheit der Organisation zu vereinigen im Stande ist, die ihnen vorher fehlte, und der dafür wieder seinerseits durch die praktischen, in Selbsttätigkeit und Selbstvertrauen emporgewachsenen, im freien Ringen mit der Konkurrenz andrer Nationen erstarkten und frei entwickelten neuen Elemente äußerst günstig bereichert und belebt und vollständig befähigt wird, alle tüchtigen, individuell wirkenden Kräfte in den ganzen Organismus aufzunehmen.


Der erste Versuch, eine deutsche Kriegsmarine zu schaffen, in den Jahren 1848—1849, misslang nicht bloß deshalb, weil der Zentralregierung die Stärke und innerliche Festigkeit fehlte; ein vielleicht noch entscheidenderes Moment, ein Moment, das auch ein Weiterbestehen dieser Marine unter der Leitung des wieder ins Leben gerufenen deutschen Bundes von Hause aus verhinderte, war der Mangel eines festen Kerns, einer schon bestehenden Marine, welche als Kristallisationskern für weitere Bildungen zu dienen im Stande war, und so sank ein Werk in sich selbst zusammen, auf das die stolzesten Hoffnungen Deutschlands gerichtet gewesen waren. Unserer Zeit ist es vorbehalten, das große Werk in schönerer Form, in lebenskräftigerer Gestalt wieder erstehen zu lassen, mächtiger selbst als die stolze Flotte der Hansa im fünfzehnten Jahrhundert mit ihren 248 Kriegsschiffen und ihrer Bemannung von mehr als zwölftausend Streitern: und wir haben alle Bedingungen dafür in günstigster Weise. Wir haben die junge preußische Kriegsmarine als Kern für die Neubildungen zu Gebote gehabt; wir haben außerdem den Vorteil, die Lehren jener früheren Zeit mit ihrem misslungenen Versuch beherzigen und benutzen zu können, und werden doch eigentlich von dem Nachteil jenes Misslingens nicht betroffen. Denn selbst die materielle Einbusse, welche durch den Verkauf der Schiffe der früheren deutschen Flotte entstanden ist, kann jetzt kaum mehr als Verlust betrachtet werden, da jene Schiffe sämtlich entweder Raddampfer oder sogar Segelschiffe und Ruderkanonenboote waren, also heutzutage, auch wenn sie noch erhalten wären, ihrer veralteten Konstruktion wegen doch für den Krieg gänzlich unnütz sein würden.

Aber auch der andere scheinbar ungünstige Umstand, dass Süddeutschland vorläufig noch nicht dem deutschen Bund beigetreten ist, bildet wohl eine Schwierigkeit, ist aber in Wahrheit kein unüberwindliches Hemmnis für die Bildung der deutschen Flotte: wenn auch für die weitere Entwicklung der deutschen Marine eine Mitbeteiligung Süddeutschlands, die ja nur der Gerechtigkeit entspricht, notwendig zu fordern sein wird. Für den Augenblick aber genügen die Kräfte Norddeutschlands den dringendsten Anforderungen. Die Seestaaten, welche, abgesehen von den finanziellen Fragen, für die Gründung der deutschen Marine fast allein von Wichtigkeit sind, gehören sämtlich zu Norddeutschland und befinden sich somit bereits jetzt sämtlich im norddeutschen Bunde; die Marine, die Kriegsflotte wie die Handelsflotte, ist eben spezifisch norddeutsch, wie die österreichische bis auf Äußerlichkeiten, z. B. die Kommandos, und einen Teil des Offizierkorps spezifisch italienisch ist, und zwar ist die deutsche Marine spezifisch plattdeutsch ihrer Sprache, ihrem ganzen Charakter nach, im Grunde ihres Wesens. Plattdeutsch ist die Mundart, welche der Seemann als Kind in der Familie ausschließlich gehört hat, plattdeutsch ist die Sprache auf den Fahrzeugen der ganzen Handelsmarine, plattdeutsch, echt niederdeutsch ist das ganze Wesen des Seemanns, in jener imponierenden Ruhe der Kraft, jener Bedächtigkeit mit ihrer scharfen, klaren, äußerlich wenig gemütlichen, nie sich übereilenden stillen Überlegung, der die Ausführung des Entschlusses mit zweifelloser Sicherheit folgt; echt niederdeutsch ist die beharrliche Zähigkeit, die unbeugsame Energie, die ohne viel Redens zu machen mit unbedingter Entschiedenheit handelt, wo es gilt, einen Entschluss auszuführen, in einer Strenge der Pflichttreue, die vor keinem Akt der Aufopferung zurückschreckt, und deshalb so große Leistungen zu vollbringen im Stande ist. Diese Ruhe, diese Zähigkeit und Entschiedenheit ist es, wodurch der deutsche Seemann den tüchtigsten anderen seefahrenden Nationen gleichkommt, und die Strenge des Pflichtbegriffs ist es, worin er alle anderen Nationen überragt, wie auch die Strenge des Pflichtbegriffs und der Pflichterfüllung hauptsächlich Dasjenige gewesen ist, was der preußischen Armee ihre hohe Überlegenheit über die österreichische Armee verschafft hat, und im gegebenen Fall hoffentlich auch jeder anderen Nation gegenüber verschaffen wird.

Wir wollen nun im Folgenden die Norddeutsche Marine in ihrem jetzigen Bestand schildern, jedoch mit Rücksicht auf die beabsichtigte Art ihrer weiteren Entwicklung, wie mit kurzen Rückblicken auf die frühere preußische Flotte, aus der sie sich entwickelt hat, und wir wollen zu diesem Zwecke die ganze Organisation, das Material an Schiffen, die Bemannung und die Häfen eingehender betrachten. Da indessen in einer Beschreibung des Flottenmaterials, des Bestandes an Schiffen der Mehrzahl unsrer Leser die technischen Ausdrücke nicht so geläufig sein werden, dass sich mit den technischen Benennungen gleich eine richtige Vorstellung oder gar eine genaue plastische Anschauung Verbände, so sehen wir uns genötigt, zunächst etwas weiter auszuholen und die Klassifikation und Benennung der Kriegsschiffe im Allgemeinen zu betrachten, wobei wir zuweilen auf Beispiele aus anderen Kriegsflotten, die uns, wie die Norddeutsche, aus persönlicher Anschauung bekannt sind, werden zurückgreifen müssen.