Fünfte Fortsetzung

Fünfundzwanzig Minuten vor Mittag begann der Kampf durch einen Angriff des linken Flügels der Franzosen unter Jerôme Bonaparte auf das Schloss Houyomont, vor dem rechten Flügel der Engländer. Es wurde von beiden Seiten hartnäckig und mit wechselndem Erfolge gestritten. Bald mussten hier wie dort neue Truppen ins Feuer gezogen werden, und so schwankte denn an diesem Punkte der Kampf fast den ganzen Tag hindurch hinüber und herüber.

Fast gleichzeitig begann das Geschützfeuer auf der ganzen Front der Franzosen. Um ein Uhr sollte ein allgemeiner Angriff auf die Gegner gemacht werden. Napoleon hatte sich auf eine Anhöhe bei Rosomme begeben, von wo er, etwas links von der Mitte seiner Schlachtlinie, dicht bei seinen Garden, den ganzen Kampfplatz überschauen konnte. Er stieg vom Pferde und setzte sich auf einen hölzernen Schemel, der ihm aus dem nahen Meierhofe gebracht war. Da gewahrte er am rechten Horizont durch sein Fernrohr nicht unbeträchtliche Streitkräfte. Ein aufgefangener Brief erwies bald, dass Bülow von dort heranrücke. Napoleon sandte den so unerwartet erscheinenden Preußen anfangs nur leichte Reiterei entgegen, die doch bloß beobachten konnte, und ließ daneben nur durch den Major-General Soult den Marschall Grouchy auffordern, sich so rasch als möglich seinem rechten Flügel zu nähern, um „Bülow, den er auf der Tat ertappen werde zu vernichten." Die Voraussetzungen dieses Befehles sind fast unbegreiflich, denn Napoleon musste wissen, dass sein Marschall zu fern war, um denselben ausführen zu können. Übrigens verkündete der Kaiser ganz ruhig, er wisse, dass es Grouchy sei, der sich dort zur Rechten so unerwartet nahe.


Der Angriff auf Wellington erlitt hierdurch etwas Verzug. Er begann erst gegen zwei Uhr unter der Führung des unerschrockenen Ney.

Drei Divisionen wurden gegen den Pachthof La-Haye-Sainte und gegen die Mitte der feindlichen Schlachtlinie gesandt, vor der derselbe lag. Es gab hier einen der ruhmwürdigsten Kämpfe, in dem britische Kaltblütigkeit und französische Tapferkeit sich die Wage hielten. Der Ausgang war lange zweifelhaft. Den Franzosen rückten die Engländer mit Festigkeit entgegen. Es wurde heiß und heftig zwischen beiden Heeren gekämpft. Hier wie dort wurden Erfolge errungen, und die Opfer waren beiderseits groß. Nach einer Stunde trennten sich dann die feindlichen Kolonnen, jede zog in die früheren Stellungen zurück. Eine vierte Division suchte sich gleichzeitig der drei Pachthöfe La-Haye, Papelotte und Smouhen zu bemächtigen, die vor dem linken Flügel der Engländer lagen. Auch hier wurde, jetzt wie später, hart und mit Ausdauer gestritten, doch ohne wesentlichen Erfolg.

Nun wäre es für Napoleon an der Zeit gewesen, den geschwächten Engländern neue Massen entgegen zu senden. Der Heeresteil des löwenmutigen Grafen Lobau, etwa 9.000 Mann, war früher dazu bestimmt gewesen, allein durch den drohenden Anmarsch von Bülow sah sich Napoleon doch genötigt, ihn gegen diesen aufzustellen. Seine Garden wollte der Kaiser noch nicht ins Gefecht führen, und so blieb einstweilen nichts anderes übrig, als Wellington hauptsächlich mit den schon geschwächten Divisionen von neuem angreifen zu lassen. Den Engländern aber wurde auf diese Weise schon durch den Anmarsch der Preußen ihre Haltung wesentlich erleichtert.

Gleichzeitig ließ jetzt aber Napoleon durch Ney zwischen Houyomont und La-Haye-Sainte hindurch große Reitermassen gegen die Reihen Wellingtons anstürmen. Starker Kugelregen erschütterte den Mut der Männer nicht. Sie erstiegen, wenn auch sehr gelichtet, die von den Gegnern besetzten Anhöhen und stürzten sich hier jubelnd auf die feindlichen Kanonen, deren Bedienung, einem früheren Befehle gemäß, in benachbarten Quarrés Schutz gesucht hatte. Diesen galt der nächste Anprall der mächtigen Reiterschaar. Wohlgezieltes Feuer empfing sie. Gegen den verwirrten Haufen ging sodann die freilich schwache Reiterei der Verbündeten in schönster Ordnung vor. Sie warf den Feind und schlug damit dessen herzhaften Angriff zurück. Bald sandten auch die wiederbesetzten Kanonen den fliehenden Franzosen ihr mörderisches Geschoß nach.

Der Reitersturm war vergeblich gewesen. Er hätte durch Infanterie unterstützt werden müssen. Ney stellte dies Verlangen. Napoleon aber, der weder Lobau, noch jene Divisionen vor der Mitte der Feinde zurückziehen konnte, erwiderte zynisch: „Infanterie? Woher soll ich sie nehmen? Wollen Sie, dass ich welche schaffe?"

So blieb ihm, außer dem beständigen Feuer seiner zahlreichen Artillerie, nichts übrig, als die Reiterstürme, wenn auch durch neue, herrliche Schaaren vermehrt, zu erneuern. Sie wirkten verderblich für beide Teile, aber eine Entscheidung konnten sie nicht herbeiführen. Wie der erste verliefen auch die übrigen.

Indessen kämpften die schon früher im Feuer gewesenen Infanteriekolonnen wieder auf das Heftigste um Houyomont und La-Haye-Sainte. Beide Plätze wurden mit unerschütterlicher Tapferkeit verteidigt. Aber der Besatzung von La-Haye-Sainte ging schließlich die Munition aus, während die steten, ungestümen Reiterangriffe nicht gestatteten den Mangel zu ersetzen. Die Franzosen bemächtigten sich nach fünf Uhr des Platzes.

Die Stellung Wellingtons war dadurch stark erschüttert. Der Sieg wäre für ihn jetzt verloren gewesen, wenn Napoleon ihm die Truppen, welche bereits mit Erbitterung gegen die Preußen kämpften, hätte entgegenführen können. War doch ohnedies des Herzogs Heer mit Vernichtung bedroht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nicht Waterloo, sondern Belle Alliance.