Über die russische Kunst

Über die russische Kunst war man im Westen immer sehr mangelhaft unterrichtet. In der Vorstellung Europas lebte der Orientale Künstler als ein von aller „höheren" Kultur unberührter Barbar oder als ein Messias, umgeben von der Gloriole schöpferischer Urkraft („ab oriente lux"). Die Kriegsjahre haben dann zwischen der deutschen und der russischen Kunstwelt sorgfältig den Graben des nationalen Chauvinismus ausgeschaufelt. Die nach dem Kriege in Russland ausgebrochene Revolution war ein weiterer Anlass zu falschen Ansichten über die gegenwärtigen russischen Kunstverhältnisse.

In einem Zustand von hermetischer Abgeschlossenheit festgehalten und der schweren Prüfung eines selbständigen organischen Daseins unterworfen, bietet die heutige russische Kunst ein zwar abnormales, jedoch durchaus interessantes Bild. Die politische und kulturelle Blockade hat sich auf dem Gebiete der Kunst nachteilig fühlbar gemacht; das wird auch der russische Künstler, wie sehr er auch von der generativen Unabhängigkeit seines Schaffens überzeugt ist, zugeben müssen. Der Maßstab des russischen Kunstlebens ist etwas bescheidener als der des deutschen, wenn wir als Maß die äußeren Kennzeichen eines solchen annehmen wollen: Die Zahl der Ausstellungen und ihre Besuche, der allgemeine Stand der künstlerischen Aufklärung, die Größe der kunsthistorischen und kunstkritischen Literatur, die Entwicklung der Kunstverlage etc. etc. Russland besitzt keine ,,Kunststädte", nicht Hunderte von Ausstellungsvereinen, Dutzende von Akademien und glänzenden Verlagsanstalten. Dass der innere geistige Inhalt der russischen Kunst nicht nur nicht dem ausländischen nachgibt, sondern ihn hie und da in der Intensität des Kampfes um die Errungenschaften der künstlerischen Revolution übertrifft, wird am besten durch die Tatsache bewiesen, dass der europäische Künstler oft aus der rein orientalischen geistigen Tiefe des russischen Künstlers neue Motive seines Schaffens schöpft. Die gewerkschaftliche Bewegung des russischen Künstlers, sein energischer Kampf um seine sozialen Rechte, seine selbständige administrative Organisationsarbeit in einer autochthonen Kunstrevolution (der ersten der Welt) — verdient dies nicht die Beachtung aller und rechtfertigt es nicht — auf Deutschland bezogen — das gespannte Interesse für russische Kunstschöpfungen und die Hoffnung auf ein enges kulturelles Bündnis zwischen der deutschen und russischen Nation? In 5 Jahren hat die russische neue Kunst einen ungeheuren Weg zurückgelegt, — vom Friedensfuturismus mit seinem Agitationslärm und seinem Reklamegeist, der mit dem ,,Gesellschaftsgeschmack" und den Traditionen der ,,heiligen, ewig schönen Kunst" brach, bis zur ernsten künstlerischen Arbeit der letzten Jahre. Diese tritt uns bald analytisch vertieft, bald praktisch im Leben angewandt, entgegen. Das russische Kunstleben steht nicht mehr im Zeichen des Kampfes mit den älteren Kunstgeschlechtern und Traditionen. Hier hat die Jugend siegreich den Kampf durchgeführt. Natürlich befinden sich der Künstler und die Gesellschaft, (das ,,Publikum"), der Künstler und die Kritik nach wie vor in einem scharfen Antagonismus. Dem russischen Künstler, der es mit dem trotzigen, orientalischen Konservativismus und mit der schwach entwickelten ästhetischen Bildung der Gesellschaft zu tun hat, fällt der Kampf vielleicht schwerer als dem westeuropäischen. Aber er hat die Diagnose dieser künstlerischen Pathologie richtiggestellt und durch eine verstärkte künstlerische Aufklärung, die sich bis auf die Volksschulen erstreckt, in alle Gesellschaftsschichten eindringt, ist er bestrebt, die im Laufe der letzten Jahrzehnte sich immer weiter trennenden Wege des Künstlers als Produzenten und des Beschauers als Konsumenten zusammenzuführen. Wie wir weiterhin sehen werden, ist ein voller Erfolg vorhanden. Ein Künstler, der als aktiv wirkendes Mitglied der Gesellschaft sozial zu leben beginnt, organisch mit seiner Zeit verbunden ist, von den Höhen des Parnasses in die Tiefen des Lebens hinabsteigt, seine Rechte proklamiert, den Beschauer zu einem intensiven Miterleben seiner Schöpfungen ruft und so eine reelle Anwendung seiner Kunstideale gefunden hat, — sind das nicht positive Symptome eines beginnenden Wiederauflebens der Kunst?


Wie der Leser richtig vermuten wird, treten in dem heutigen russischen Kunstleben mehrere für die traditionellen Wege und Maßstäbe der künstlerischen Arbeit neue Erscheinungen zutage, die vielleicht einen Prototyp der Ordnung des künftigen Kunstlebens darstellen, zu welchen sämtliche zivilisierten Nationen den unvermeidlich kulturell-historischen Gesetzen nach auch übergehen werden: zu einer neuen Ethik, zu neuen Rechten, neuen Pflichten, neuer sozialer Stellung, neuen Formen der Kunst. Aber bevor wir mit Neugier in diesem Prototyp die Abspiegelung der Zukunft suchen wollen, müssen wir uns mit den aktiv im russischen Kunstleben wirkenden Kräften vertraut machen, deren Ideenkorrelationen im Wiederaufleben der russischen Kunst auch das Ziel dieses Berichtes sein werden.

      D. Burljuk: Zeichnung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Neue Kunst in Russland 1914-1919
004 Zeichnung, D. Burljuk

004 Zeichnung, D. Burljuk

018 Plastik, W. Wrubel

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019 Johannes der Täufer, M. Wrubel

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020 Schlafendes Mädchen, Konstantin Ssomow

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